Grimm
 
Zurück zur Startseite


  Platzhalter

Grimm

Rezension von Thomas Pichler

 

Manchmal kommen die Märchen wieder, was hier gleich doppelt gemeint ist. Nicht nur handelt es sich beim Rollenspiel „Grimm“ um eine Neuinterpretation der Sammlung der gleichnamigen Brüder und anderer fantastischer Werke; nein, auch das System selbst kehrt nach der Ersterscheinung im Jahr 2003 mit dieser Neuauflage wieder. Dabei macht es seinem Namen alle Ehre – wenn man die Bedeutung des Wortes „grimm“ bedenkt.

 

Hintergrund

In allen Geschichten steckt ein Körnchen Wahrheit und das gilt auch für die Märchen der Gebrüder Grimm sowie ähnlich fantastische Geschichten. Und all diese Märchen-Wahrheiten existieren in den Grimm Lands, irgendwo jenseits der realen Welt. Doch dort gibt es kein „… sie lebten glücklich miteinander bis ans Ende ihrer Tage.“ Nein, alle Geschichten nehmen dunklere, grimmigere Wendungen. Die Wege in die Grimm Lands aber finden nur jene, die noch unvoreingenommen sind und an Märchen glauben würden: Kinder.

 

Aufmachung

Das Buch, in dem Grimm präsentiert wird, ist ein solider Hardcover-band, dessen Front eigentlich sehr sprechend ist, was das System betrifft. Im Inneren ist der Band durchaus übersichtlich gestaltet, wirkt allerdings nicht ganz komplett – speziell die Persönlichkeiten Sonne, Mond und Teufel werden recht oft erwähnt, aber nie wirklich beschrieben. Und übersichtlich ist nicht immer gleichbedeutend mit logisch – warum etwa die Beschreibung der „Chekerboard Kingdoms“ Aspekte eines Kampagnenleitfadens hat, während die See nur als Schauplatz umrissen wird, ist mir nicht klar.

 

Die Schwarz-Weiß-Illustrationen sind zum eher düsteren Thema sehr passend und auch meist treffend gewählt. Nur an ein, zwei Stellen ist für meinen Geschmack etwas zu sehr Teenager abgebildet, wo eigentlich Pre-Teen sein sollte.

 

Spielregeln

Es sind nämlich Kinder, originalsprachig und neudeutsch „Kids“ genannt, die Spieler in Grimm darstellen. Die Charakterarchetypen sind entsprechend vom fiesen „Bully“ über den echten „Nerd“ hin zum äußerst durchschnittlichen „Normal Kid“. Charaktere haben insgesamt 18 „Traits“, wichtige Eigenschaften die in drei Gruppen eingeteilt sind. Am wichtigsten sind die fünf „Core“ Traits „Cool“, „Pluck“ (Willensstärke), „Imagination“ (Vorstellungskraft), „Luck“ (Glück) und „Muscle“ (Kraft). Eine davon wählt die Spielerin als ikonische Eigenschaft aus, mit der sie dann wirklich außergewöhnliche Leistungen verbringen kann. Hinzu kommen fünf „Playground“ Traits für physische Anstrengungen und acht „Study“ Traits für Belange, wo es eher aufs Wissen ankommt.

 

Das Wertesystem orientiert sich am amerikanischen Schulsystem: „1st Grade“ ist der (Schul-)Anfänger, „12th Grade“ das normale Maximum (entsprechend der höchsten Schulstufe). Die Kids haben auch ein „Personal Grade“, das einige andere Eigenschaften bestimmt und neben dem Archetypus den größten Einfluss auf die Entwicklung der Traits hat. Neue Charaktere sind „3rd Grade“ und somit theoretisch etwa acht Jahre alt. Die einzige Art von Würfel in Grimm ist der W6 und das Würfelsystem kinderleicht. Für die meisten Proben gilt eine 2-5 als normaler Erfolg entsprechend dem Grade, den ein Kid in einem Trait hat; eine 6 verbessert den Erfolg um eine Stufe, während eine 1 ihn entsprechend reduziert. Die Schwierigkeit von Aktionen wird einfach als Grade angegeben.

 

Auch sonst ist das System spielmechanisch einfach gehalten, am komplexesten sind vielleicht die sechs Arten der Magie. Aber von denen sollten sich Kids ohnehin eher fernhalten, denn all zu leicht verfallen Anwender dem Wahnsinn der Grimm Lands. Was in grimmiger Mehrdeutigkeit übrigens auch als ein gewissen Kritikpunkt am System zu verstehen ist. Allerdings bedeutet das, dass wenig gewürfelt und viel Geschichte vorangetrieben wird – herrlich für Rollenspieler, die wirklich Rollen spielen wollen.

 

Spielwelt

Die Grimm Lands verbinden Elemente vielerlei Erzählungen mit immer neuen dunklen Aspekten. Jacks umgehackte Bohnenstange liegt quer über die Märchenwelt und dient nicht nur als Verkehrsader von den Bergen am einen Ende der Welt bis zum Ozean-Wasserfall am anderen, sondern auch als Mahnmahl des speziell für Riesen und alle von der Bohnenstange Plattgedrückten tragischen Ereignisses.

 

Mehr oder weniger bedeutende Reiche grenzen in den „Checkerboard Kingdoms“ aneinander, vom glorreichen Imperium des Kaisers ohne neue Kleider und seiner Untertanen mit ebensolch unsichtbarer Gewandung über das „Land of Gold“ des König Midas und den Rosengarten des revertierten Biest und seiner Schönen bis hin zum „Stray Kingdom“, wo eine Armee der Tiere über ein Stadt herrscht, die vor der Auftreten eines tierischen Führungsquartetts einst Bremen geheißen haben soll.

 

Im „Great and Awful Forest“ finden sich nicht nur klassische Waldbewohner wie der Große Böse Wolf und die angesichts der Bedrohung hochgradig militant gewordenen Sieben Geißlein oder die überwucherte Heimat einer sehr endgültig schlafenden Schönheit, sondern natürlich auch die allergrimmigste Ecke der Lande. Im „Rotten Kingdom“ herrscht ein verdorbenes Pärchen, von dem anmutige und ihre versklavten Stiefschwestern ebenso wie alle anderen Diener unerbittlich antreibende Cinderalla noch der freundlichere Teil ist. Denn der größte Schrecken der Grimm Lands ist der „Rotten King“, der mehr als nur einen Sprung hat. Kein Wunder, immerhin handelt es sich um einen bis ins innerste verdorbenen Humpty Dumpty.

 

Einer der freundlichsten Teile der Märchenwelt ist noch die See, aber selbst das nur, solang damit eben sie personifiziert in einem der wohlwollenderen ihrer vier Gesichter gemeint ist. Ist die See dagegen wütend, dann gnadet den Kids definitiv niemand mehr, denn selbst Piratengeister, Geisterpiraten und die ohne ihren Peter ziemlich wilden Verlorenen Kinder sind harmlos im Vergleich zu einer zornigen See.

 

Spielverlauf

Grundsätzlich ist Grimm darauf angelegt, dass eine Spielrunde Kids aus der realen Welt kreiert, die es in die Grimm Lands verschlägt. Welcherlei Abenteuer sie dort bestehen, ist dem Spielleiter vorbehalten, doch eine fantastisch-düstere Märcheninterpretation mit einer ordentlichen Portion rohem Wahnsinn, einer Prise bitterer Ironie, einem Spritzer horribler Tränen und etwa drei Teelöffeln ätzenden Humors dürften ein gutes Rezept ergeben. (Vermeintliches) Ziel der Reise sollte zumindest in einer Kampagne Babylon sein, wie in dem Grimm Lands die reale Welt genannt wird. Das braucht nicht unbedingt einen erfahrenen Spielleiter, aber definitiv einen talentierten.

 

Spielspaß

Nun, dieser Punkt ist schwierig, denn Grimm hat so seine Tücken. Für Spieler im Alter der Charaktere ist das System definitiv zu grimmig, aber die greifen ohnehin kaum zu Rollenspielen. Für (halbwegs) erwachsene Rollenspieler wiederum könnte eine einigermaßen realistische Darstellung von Kids eine noch größere Herausforderung darstellen als die von Pladinen, Straßensamurais oder ähnlichem Gesöcks, das wenigstens ebenfalls (halbwegs) erwachsen ist. Mit anderen Worten: Eine darstellerische Herausforderung wartet hier definitiv.

 

Dazu kommt die Stimmung von Grimm, die verschiedene Leute wohl etwas unterschiedlich interpretieren werden. Wie die Grimm Lands auf mich wirken, habe ich in der Beschreibung der Spielwelt wiedergegeben Das liegt sicher nicht allen, davor will ich ganz ausdrücklich warnen. Ich persönlich jedenfalls finde Grimm so richtig schön verdreht. Und zwar wirklich, und nicht so halbbacken wie in vielen (vor allem Fantasy-)Rollenspielen, die auf düster und hoffnungslos tun, wo aber mindestens die Lieblings-NSCs der Autoren (und spätestens auf der surrealsten Stufe auch die Spielercharaktere) einfach nur so was von über-pwnen. (Ja, mein Übergang zu Gamer-l33t ist gerade im Zusammenhand mit Rollenspielen als Ausdruck der Verachtung zu sehen.) Wer das nachfühlen kann, sollte sich Grimm auf jeden Fall ansehen, denn die einzigen NSCs, die hier über-pwnen, sind genau dadurch eigentlich ziemlich bedient.

 

Andere Interpretationen der Grimm Lands – etwa mit noch weniger Humor und dafür noch mehr Horror und Wahnsinn – sind sicher möglich, was den Spielerkreis, der in Grimm ein geeignetes System finden kann, ausweitet. Ein Faktor bleibt aber definitiv bestehen: Die Erzählung und nicht die Spielmechanik muss im Vordergrund stehen. Für Würfelfetischisten gibt es auf dem Markt genug andere Systeme, ob mit vielen W6 oder gar dem d20, und an die sollten sie sich halten.

 

Fazit

Grimm ist ein Erzählsystem, wo in einer Spielsitzung quasi ein Märchen erzählt wird, in dem die Kids involviert sind. Das kann in doppelter Hinsicht unheimlichen Spielspaß bedeuten, stell aber hohe Ansprüche nicht nur an den Spielleiter. Auch die Spieler müssen auch – gerade – angesichts der einfachen Mechanik von einem bestimmten Schlag sein. „Ein geiles System für Stimmung statt Würfel“, habe ich es in einer Mail für Christoph genannt – das kann ich denk ich auch hier so stehen lassen.

 

Nach oben

Platzhalter

Grimm

 

Autor: Robert Vaughn, Christian T. Petersen, Robert J. Schwalb

Verlag: Fantasy Flight Games

Vertrieb: Heidelberger

Sprache: Englisch

Erscheinungsdatum: Nov. 2007

ISBN: 978-1-58994-215-8

Erhältlich bei: www.hds-fantasy.de


Platzhalter
Platzhalter
Erstellt: 27.02.2008, zuletzt aktualisiert: 28.04.2023 13:10, 5920