Kalix. Werwölfin von London (Autor: Martin Millar)
 
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Kalix. Werwölfin von London von Martin Millar

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Kalix ist die Tochter des Fürsten der MacRinnalchs, des mächtigsten Werwolf-Klans in Großbritannien. Dennoch ist sie allein und wird von vielen Feinden bedrängt: Da sind natürlich die Werwolfjäger der Avenaris-Gilde, für die die Tochter des Fürsten ein ruhmreiches Ziel ist. Außerdem hat sie ihren Vater angegriffen und schwer verwundet. Seither ist sie auf der Flucht vor den Häschern des Großen Rates, zu dem ihre Brüder Sarapen und Markus gehören. Ihre Schwester Thrix, eine erfolgreiche Modedesignerin und Zauberin, hält nicht viel von ihrer Familie. Zwar wird sie ihren Brüdern bei der Jagd nicht helfen, aber auch für Kalix macht sie keinen Finger krumm. Als Sarapens Handlanger, die Douglas-MacPhees sich daran machen, Kalix zu töten, stolpert der Student Daniel in die Szene und ermöglicht damit der Werwölfin die Flucht. Aus dieser Zufallsbegegnung entwickelt sich zaghaft eine Freundschaft, in deren Verlauf Kalix in die WG von Daniel und seiner Mitbewohnerin Moonglow einzieht. Alle drei sollen noch schwer auf die Probe gestellt werden, denn bald erliegt der Fürst den Wunden, die ihm Kalix beibrachte, und der Werwolf-Klan gerät an den Rand eines blutigen Nachfolgekriegs.

 

Der Untertitel lautet nicht umsonst Werwölfin von London, denn London ist der wichtigste Schauplatz – Kalix, Daniel und Moonglow, Thrix sowie die Cousinen Beauty und Delicious leben dort. Daneben ist noch die Burg der MacRinnalchs in Schottland wichtig. Das Geschehen spielt in der Gegenwart – Internet, Pop-Tarts und Kabelfernsehen werden gebraucht, wichtiger noch sind Punk-Rock und modernes Modedesign. Da das Setting weitgehend auf konkrete Beschreibungen verzichtet – die Ereignisse könnten genauso gut in New York stattfinden – und es keinerlei Wechselwirkung von Setting und Figuren gibt, ist es als sehr schwach ausgeführtes Ambiente zu werten.

Phantastische Elemente gibt es zahlreiche. Das wichtigste sind zweifellos die Werwölfe. Die meiste Zeit sehen sie wie normale Menschen aus, obschon sie mehr Präsenz besitzen – die Frauen sind schöner, die Männer kräftiger etc. Bei Vollmond verwandeln sie sich dann in einen Werwolf – so wird die Hybrid-Form aus Mensch und Wolf genannt – oder einen reinen Wolf. Die "reinblütigen" MacRinnalchs können sich in jeder Nacht verwandeln. Als Werwolf sind sie unglaublich stark, schnell und zäh. Außerdem heilen die Wunden sehr schnell, sieht man von Silberwunden ab. Kurzum: Es sind 08/15-Werwölfe. Dann gibt es noch Zauberei – Auren lesen, Teleportation, Schutzkreise etc. – in der vor allem die Feuergeister begabt sind. Die Feuergeister sehen zumeist wiederum wie normale Menschen mit brauner Haut und dunklen Haaren aus, neigen bei Erregung aber zur spontanen Selbstentzündung. Am Rande treten noch Elfen, Luftgeister usw. auf. Der Autor verwendet auf relativ konventionelle Weise Elemente aus Sagen und Märchen. Der Witz liegt in der kontrastierenden Juxtaposition der mächtigen Feuergeister und der banalen Schneckenpost.

 

Die Zahl der auftretenden Figuren ist ungewöhnlich groß. Dieses wird durch eine sehr knappe und flache Charakterisierung kompensiert. Hinzu kommt, dass sich die Figuren nicht entwickeln.

Die wichtigsten Figuren: Kalix ist die siebzehnjährige Tochter des Fürsten. Das ultra-dünne Mädchen ist hoffnungslos in den Halbwerwolf Gawain verliebt, den sie nicht mehr gesehen hat, seit ihr Vater ihn vor einigen Jahren verbannte. Sie leidet nicht nur unter Magersucht (die ihr zu einem "sexy" Körper verhilft), sondern nimmt auch Drogen – die Obdachlose hält sich selbst für wertlos. Wird sie bedrängt, schlägt sie allerdings erbarmungslos zu. Ihre Schwester Thrix ist von Kalix genervt. Sie möchte lieber Kleider für ihre Freundin und beste Kundin Königin Malveria entwerfen. Thrix ist ein Workaholic und Karriere-besessen. Nur selten vermisst sie einen Partner und mit der Familie will sie nichts zu tun haben; dabei hat sie sich aber einen Rest Anstand bewahrt. Sarapen ist der älteste Sohn. Der gewaltige Werwolf will der nächste Fürst werden. Zwar ist er konservativ und hält gerne die Tradition hoch, doch er ist bereit alle hinderlichen Konventionen beiseite zu fegen. Von dem brutalen Mann geht eine animalische Anziehungskraft aus. Markus ist jünger, kleiner und feiner. Er ist bezaubernd schön, gebildet und scharfsinnig. Er will vor allem respektiert werden und möchte daher Fürst werden. Er ist bereit Opfer zu bringen – und andere zu opfern, wenn auch nicht so bedingungslos wie sein Bruder. Er trägt heimlich Frauenkleider und kann es nicht ausstehen, als Muttersöhnchen betitelt zu werden. Seine Mutter Verasa bevorzugt ihn, weil er ein moderner Mann ist und sie ihn stärker als Sarapen beeinflussen kann. Sie ist der Ansicht, dass der Klan modernisiert werden muss und dieses wird Markus (unter ihrer Führung) am besten gelingen. Auch wenn sie raffinierte, heimtückische Pläne schmiedet und ihre Kinder manipuliert, ist sie nicht bereit eines davon zu opfern. Daher bittet sie Thrix auf Kalix zu achten und entsendet Dominil, eine weißhaarige hochbegabte, aber auch emotional unterentwickelte Werwölfin, um auf die enfant terribles der Familie, die Zwillinge Butix und Delix zu achten. Die beiden nennen sich Beauty und Delicious und versuchen als Punkrock-Musikerinnen Karriere zu machen. Bisher waren sie aber zu undiszipliniert und zu sehr mit saufen und kiffen beschäftigt, um etwas ernsthaft auf die Beine zu stellen.

Neben der psychotischen Werwolf-Familie sind noch die Studenten Moonglow und Daniel wichtig. Moonglow ist eine ehrgeizige Goth, die andauernd lernt (unter anderem Summerisch) und sehr hilfsbereit ist. Sie schwärmt für Fabelwesen und verabscheut Kabelfernsehen – ein schwerer Charakterfehler, wie ihr Mitbewohner Daniel findet. Der ist weniger eifrig beim Studieren, kennt sich aber bestens mit jeder Art von Rock und Metal aus. Außerdem ist der schüchterne Durchschnittskerl in Moonglow verliebt, die aber einen Freund hat und – in dieser Hinsicht – sowieso nichts von Daniel wissen will. Kein Wunder, dass Daniel erheblich pessimistischer als Moonglow ist. Doch die besten Figuren habe ich mir bis zum Schluss aufgehoben: Königin Malveria ist eine ehemalige Kriegerkönigin der Feuergeister. Sie hat alle Feinde besiegt und ihr Reich wird von kompetenten Händen verwaltet. Jetzt leidet die impulsive Schönheit unter maßloser Langeweile. Dieses kompensiert sie mit extremster Begeisterung für Mode und der Mission, Moonglow das Herz zu brechen: Moonglow soll sich in Daniel verlieben, ihn dann aber nicht bekommen. Ihre Agentin in dieser Sache ist ihre dauerfröhliche Nichte Vex (eigentlich Agrivex). Vex ist reichlich naiv, trägt das Herz auf der Zunge und besitzt noch weniger Taktgefühl als ihre Tante – beim Sex mit Daniel greift sie schon mal zur Fernsehzeitung. Sie ist eine verzogene Pop-Punkerin.

Man sieht: Unzählige flache Exzentriker, die einen Hang zum Klischee haben, bisweilen aber Spaß bringen können.

 

Der Plot verwendet sehr unterschiedliche Handlungsstränge. Zentral ist der Kampf Sarapens und Markus' um die Fürstennachfolge. Spannungsquellen sind hier Intrigen und Scharmützel. Obwohl die anderen Stränge sich an diesem entwickeln, nimmt er nicht übermäßig viel Raum ein. Mehr Raum nimmt die WG von Daniel, Moonglow und Kalix (und später als Dauergast Vex) ein. Am besten beschreibt man diesen Strang als rudimentäre Entwicklungsgeschichte Kalix' (es gibt zwar keine wesentliche Entwicklung des Charakters, aber immerhin findet sie für den Augenblick ihren Platz in der Gesellschaft). Garniert wird das Ganze mit vielen Slapstick- und Sitcom-Momenten. Eng mit diesem Strang verknüpft ist Malverias Versuch, Moonglows Herz zu brechen – eine romantische Komödie. Hier gibt es ein wenig Herz-Schmerz und wieder viel Slapstick und Sitcom. Die WG und Malverias sadistischer Plan hängen wiederum mit dem Modekrieg zusammen – bei den Feuergeistern herrscht ein 'kalter Krieg' zwischen Malveria und ihrer Konkurrentin Prinzessin Kabachetka: Die besser Gekleidete wird am Hofe der Kaiserin mehr Macht haben. Ein bisschen Intrige und viel Humor, der aus Malverias drastischen Overstatements erwächst. Sehr spät wird der Strang um Dominil, Beauty und Delicious an die WG herangeführt: Dominil soll dadurch, dass sie den Zwillingen mit ihrer Band zum Erfolg verhilft, die beiden auf Markus' Seite ziehen. Verknüpft mit dieser Aufbaugeschichte ist Dominils Rache (sie hasst Sarapen) und wieder viel Slapstick und Sitcom. Hinein gestreut sind noch einige Nebenplots (Was haben die Feuergeister an der 'heiligen' Quelle der MacRinnalchs zu suchen? Was planen die Werwolfjäger? Wie verhalten sich die Krämer?) und einige übergreifende Themen (Drogenmissbrauch, Defizite in puncto Sozialkompetenz, Essstörungen etc.).

Bei dieser enormen Breite kann natürlich kein Plot und kein Thema irgendwie ausgelotet werden – alles bleibt außerordentlich oberflächlich. Daraus ergeben sich zwei Probleme: Einerseits können Spannungsquellen keine nachhaltige Wirkung entfalten – nichts reicht über die aktuelle Szene hinaus – und andererseits kann die sehr oberflächliche Behandlung der ernsteren Themen abstoßend wirken: "Magersucht macht sexy" ist eine Aussage, die nicht jedem zusagen wird. Bei der Breite kann sich außerdem kein schneller Plotfluss aufbauen, zumal der Autor schnell zwischen den Strängen springt. Hinderlich wirkt sich auch die Unfokussiertheit aus.

 

Damit zur Erzähltechnik, die meines Erachtens die größten Probleme bereithält. Der Handlungsaufbau ist zwar recht komplex ob der vielen Stränge, allerdings sehr konservativ: Er entwickelt sich progressiv und dramatisch. Bei der Beschreibung streut er viele Nebensächlichkeiten und einige Digresse ein. Die Erzählperspektive ist dabei klassisch auktorial.

Last and least: der Stil. Die Sätze neigen zur extremen Kürze – ganze Passagen lagen unterhalb meiner Banalitätsgrenze. Besonders die Dialoge leiden sowohl formal als auch inhaltlich darunter. Die Wortwahl ist neutral bis salopp, bei der direkten Rede der verruchteren Werwölfe kommt ein Hauch Vulgarität hinzu; insgesamt werden "schwere" Worte vermieden. Weiterhin gibt es das Diktum: "Show, not tell." Der Leser sollte 'spüren', dass z. B. eine Situation angespannt ist, statt dass der Erzähler es dem Leser ausdrücklich sagt. Ich habe mich bisweilen gegen eine konsequente Auslegung dieses Diktums ausgesprochen, doch ganz zweifellos ist es der Spannung enorm abträglich, wenn der Autor alles explizit erklärt – wie es Millar macht.

 

Fazit:

Das obdachlose, drogensüchtige Werwolf-Mädchen Kalix wird von den Studenten Moonglow und Daniel in ihre WG aufgenommen und zieht die beiden in einen Strudel von chaotischen Ereignissen um die Nachfolge des Werwolf-Fürsten, Königin Malverias Modekrieg mit Prinzessin Kabachetka und den Aufbau der Punkrock-Band "Yum Yum Sugary Snacks". Martin Millar erzählt eine sehr breit angelegte Urban Fantasy um eine psychotische Werwolf-Familie und deren nicht minder seltsame Freunde. Er setzt dabei auf schnelle Action, Humor und exzentrische Figuren, opfert dafür jegliche Tiefe und versucht einen extrem leicht zugänglichen Stil – das Ergebnis wird nicht jedermann gefallen. Mein Verdikt: BRAVO-Leser werden Kalix. Werwölfin von London lieben, Vladimir Nabokov-Leser werden den Roman verabscheuen.

 

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Roman:

Titel: Kalix. Werwölfin von London

Reihe: -

Original: Lonely Werewolf Girl (2007)

Autor: Martin Millar

Übersetzer: Eva Kemper

Verlag: Fischer Taschenbuch Verlag (Juni 2009)

Seiten: 752 - Broschiert

Titelbild: Unbekannt.

ISBN-13: 978-3-596-18496-5

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 17.09.2009, zuletzt aktualisiert: 24.02.2024 19:28, 9210