Reihe: 100 Bullets (Bd. 6)
Rezension von Martina Klein
Die Reihe „100 Bullets“ stammt aus der Schreibfeder von Brian Azzarello und aus der Zeichenfeder von Eduardo Risso, ist vielfach prämiert und wirklich richtige Kunst, sowohl von der dramaturgisch ausgefeilten Story als auch von der brillanten grafischen Umsetzung her. Bei der Geschichte um die titelgebenden „100 Bullets“ geht es, kurz gefasst, obwohl Kurzfassen hier eigentlich gar nicht geht, um folgendes:
In Atlantic City herrscht, natürlich nicht offiziell sondern sozusagen Maffia-artig im Hintergrund der geheimnisvolle „Trust“, eine seit Jahrhunderten bestehende Organisation aus 13 einflussreichen Familien unter der Führung eines gewissen Augustus Medici. Doch da alles auf der Erde bekanntlich eine Ende hat, beginnt diese Organisation langsam aber sicher zu zerfallen – nicht zuletzt, da Augustus’ nichtsnutziger Sohn Benito nicht wirklich in der Lage ist, das Erbe des Mafia-Bosses anzutreten, jedenfalls noch nicht.
Diese Entwicklung passt dem wichtigsten Agenten der Organisation, Graves, ganz und gar nicht. Er schmiedet eine Racheplan, bei dem unter anderem auch seine ehemalige rechte Hand, Mr. Shepherd, zu seinem Gegenspieler wird...
Wie dieser Racheplan genau aussieht wissen wir noch nicht. Aber um aus dem informativen Vorwort von Greg Rucka, der ja ebenfalls kein Unbekannter in der Comicszene ist, zu zitieren: „Anders als die meisten Autoren heutzutage weiß Azzarello tatsächlich, wohin seine Geschichte läuft; aber sie aus ihm rauszukriegen, ist eine ganz andere Sache.“ Wir dürfen also gespannt sein.
Bisher erfährt man nur, was auf der Rückseite und in ebenjenem Vorwort steht: „Eine Figur nach der anderen hat der mysteriöse Agent Graves aufs Spielbrett gestellt und sich gewissenhaft auf die letzte Konfrontation mit dem Trust vorbereitet.“ Dazu verteilt er an seine „Spielfiguren“ Koffer mit brisantem Inhalt: Jeder Koffer enthält eine Waffe mit – siehe Titel! – 100 Patronen, die, so verspricht es zumindest Graves, strafrechtlich von keiner Behörde zurückverfolgt werden und deren Benutzung somit für den Schützen völlig ungefährlich ist. Außerdem ist in so einem Koffer – eigentlich noch viel brisanter! – die Information, wer wirklich (!) dafür verantwortlich ist, dass das Leben des jeweiligen Koffer-Empfängers so verpfuscht ist...! Das Ziel von Graves dürfte somit klar sein: Warum selber jemanden töten, wen man eine Person finden kann, die das noch viel lieber tut!? Was seine Marionetten damit allerdings anfangen, bleibt jedoch abzuwarten...
Doch nun zu diesem Buch. Erst mal die „technischen Fakten“, die ja bei diesen deutschsprachigen (Neu-)Auflagen immer eine Erwähnung wert sind: „Der Band schließt nahtlos an die bisherigen Speed-Bände an! – Speed veröffentlichte in acht Büchern die US-Hefte 1-36. „Sechs im roten Kreis“ enthält die US-Hefte 37-42; Panini folgt der Nummerierung der US-Paperbacks!“ Somit alles klar?
Dieser Band also enthält sechs der Originalhefte, von denen jedes jeweils eine Kurzgeschichte über je 22 Seiten umfasst, in der ein Charakter der Geschichte näher vorgestellt wird. Eben „sechs im roten Kreis“. Das wären:
1. Dizzy
Man blickt nicht so ganz durch, wie die Verhältnisse wirklich sind, erfährt aber, dass sie dem oben erwähnten Agenten Shepherd sehr nahe steht. Sie war wohl eine Weile mit ihm unterwegs. Jetzt begleiten wir sie dabei, wie sie in ihre trostlose Heimat zurückkehrt und ihre ehemaligen Freundinnen und Verwandten besucht. Sie wirkt dabei sehr entwurzelt, so, als ob sie eigentlich gar nicht mehr dazu gehört. Wir spüren ihre Ausweglosigkeit, als sie das Haus ihrer Mutter aufsucht, diese dort aber nicht mehr antrifft und beschließt, alles, was noch von ihrem alten Leben übrig ist, hinter sich zu lassen.
2. Cole
Cole versucht, mehr oder weniger erfolglos, seine Exfreundin Sasha, die er vor längerer Zeit sitzen gelassen hat, wiederzugewinnen. Parallel dazu werden wir Zeugen eines Raubüberfalls in einer Kneipe. Da die Angestellten die Kombination des Safes nicht kennen und somit nicht in der Lage sind, den Räubern das geforderte Geld auszuhändigen, eskaliert die Lage. Mitten hinein platzt der genervte Cole, der kurzerhand die Räuber überwältigt und tötet.
3. Benito
Benito ist wie gesagt der Sohn und Erbe der Medici-Familie, dem aber nicht gewachsen. Er hat nur Drogen und Partys im Sinn und benimmt sich wie eine männliche Paris Hilton. Sein Vater Augustus will ihn zu einer Verabredung mit dem Agenten Shepherd mitnehmen, um ihm die Arbeit des „Trust“-Vorstandes beizubringen. Benito will das jedoch nicht. Er lehnt jede Form von Arbeit und Verantwortung ab und nutzt seine Zeit lieber, um in einer Bar eine schöne Frauen anzubaggern. Dabei wird er jedoch fast zum Opfer von mehreren Attentätern, die es auf die Familie Medici abgesehen haben – aber eben nur fast, denn Shepherd rettet ihm das Leben, indem er die Attentäter erschießt. Benitos brandneue Eroberung hat nicht so viel Glück, sie stirbt in seinen Armen. Dieses Erlebnis bekehrt den jungen Mann, sein Lotterleben aufzugeben und sich nicht weiter seiner Verantwortung als Medici-Erbe zu entziehen.
4. Lono
Lono ist brutal und sozusagen „Abschaum“. Sherpherd hat ihn als Killer ausgebildet, jetzt hat er einen Job für ihn: „Ein Mord. Fünfhundert Riesen...“ Und Lono führt den Auftrag aus. Shepherd wittert schon seit längerem, nicht zuletzt seit der Sache mit Benito, dass ein Krieg in der Luft liegt. Jetzt lässt er Lono, dem er auch nicht mehr vertraut, auffliegen, indem er ihn mit registrierten Geldscheinen aus einem Bankraub bezahlt. Natürlich bekommt Lono in Nullkommanichts Besuch von der Polizei und erschießt bei einem erfolglosen Fluchtversuch einen Cop. Daraufhin stirbt er im Kugelhagel der Polizei.
5. Graves
Wir sehen, wie Graves erfährt, dass sein Job beim „Trust“ sozusagen wegrationalisiert werden soll, und auch seine zunächst ohnmächtige Wut darüber. Das alles geschieht in einem Hochhaus hoch über den Dächern von Atlantic City. Unten in der Stadt wird ein junges Pärchen Zeuge eines tödlichen Autounfalls. Sie laufen zu dem Auto, das einen Abhang hinunter gestürzt ist. Der aus seinem Wagen geschleuderte tote Fahrer hält ein Lotto-Los mit den gerade gezogenen Jackpot-Zahlen in der Hand. Erst wollen die jungen Leute es ihm abnehmen („Wozu braucht ein Toter soviel Geld?“), dann haben sie aber doch Skrupel. Sie sehen in seine Brieftasche und stellen fest, dass der Tote neun Kinder zurücklässt... Schließlich erscheinen uniformierte Polizisten auf der Bildfläche und nehmen dem Pärchen das Los einfach kurzerhand weg, um es selber einzustecken. Die Chance auf das große Geld ist vertan... Graves und die anderen vom Trust bekommen davon nichts mit – für sie sind die da unten in der Stadt sowieso nur „winzige Leben“...
6. Wylie
Wylie ist pleite und hat Schulden bei seinem zwielichtigen Vermieter, der zusätzlich auch noch der Bruder seines Bosses ist – eine ziemlich ungünstige und ausweglose Konstellation! Dann bekommt Wylie Besuch von Graves, der ihm einen Aktenkoffer übergibt. Wir ahnen es schon: In dem Koffer sind eine Kanone samt 100 Patronen. Wylie weigert sich jedoch zunächst, ihn anzunehmen und geht zu seiner Arbeit in der Tankstelle. Dort kommt es zu einem Zwischenfall, als ein seltsames Paar den Laden betritt. Der Mann überfällt Wylie und seinen Boss, will beide erschießen. Im letzten Moment rettet ihnen die Frau, in Wirklichkeit auch ein Opfer des brutalen Mannes, das Leben. Vor der Tankstelle wartet – immer noch – Graves mit seinem Koffer auf Wylie. Er weist ihn auf das Foto im Koffer hin: das Foto des Mannes, der angeblich die wahre Schuld an Wylies Misere trägt. Wylie erkennt ihn. Es ist Shepherd. Damit endet dieser Band... und der Krieg beginnt...
Das ganze Buch wirkt irgendwie wie ein Episoden-Film von Robert Altman. Man ahnt irgendwie, dass alles zusammenhängt, weiß aber noch nicht genau wie... Das macht die Lektüre z.T. spannend wie einen Thriller und wird noch – gewollt oder ungewollt? – dadurch gesteigert, dass Panini diesen Band zuerst rausbringt und die alten, oben erwähnten „Speed“-Bände erst später neu aufgelegt nachschiebt. Wenn man die alten Bände also nicht hat, tappt man noch mehr im Dunkeln. Macht aber nichts, man steigt auch so dank des tollen Vorworts von Greg Rucka gut durch.
Grafik:
Auch grafisch ist der Comic natürlich sehr gelungen. Die Zeichnungen sind kraftvoll und dennoch nicht zu überladen. Besonders schön ist die kontrastreiche Ausgestaltung, die die Atmosphäre der Geschichte noch steigert. Vieles passiert im (Halb-)Dunklen, die Figuren stehen oft nur als Schattenrisse vor dem Hintergrund und wirken somit düster und geheimnisvoll wie in einem „Film Noir“.
Zu erwähnen sind noch die Titelbilder zu den sechs einzelnen Kapiteln, die ganz pointiert das Besondere des jeweiligen Kapitel-Protagonisten hervorheben, und das Cover des gesamten Buches (alles von Dave Johnson), das - grafisch sehr kühl und vielsagend - die Portraits der sechs Protagonisten in Sargform zeigt, womit auf einen Blick deutlich wird, worauf die Geschichte alles in allem hinauslaufen wird...
Fazit:
Auf keinen Fall entgehen lassen!