Filmkritik von Torsten Scheib
Rezension:
Erinnert sich noch jemand an Björks Videoclips aus den frühen 90ern? An die Kükenversionen der zierlichen Isländerin, die frierend in einem Nest kauern? An den riesigen Teddybär, der es auf die Protagonistin abgesehen hat? Natürlich darf auch der silberfarbene Mega-Truck nicht unerwähnt bleiben, der anstelle eines Motors reichlich mitgenommene Zähne besitzt. Gefolgt von einem Gorilla, der in seiner Zahnarztpraxis Diamanten aus den Hälsen seiner Patienten befördert. Hört sich reichlich irre an, nicht wahr? Und sind wir mal ganz ehrlich: so richtig verstanden hat diese, gewiss visionäre Bilderflut wohl niemand. Aber sie war neu, sie war aufregend und sie wurde zum Gesprächsthema. Was das Ganze mit Zack Snyders neuestem Machwerk Sucker Punch zu tun hat? Auf den ersten Blick nicht viel, abgesehen von der Verwendung von Björks Single Army of me (welche mit dem Truck und dem Gorilla-Zahnarzt aufwerten konnte). Doch wie sich in Kürze zeigen wird, haben die eigenwilligen Clip-Interpretationen eines Michel Gondry (der in den 90ern Björks Singles visuell darstellen durfte) mit den Visionen des Zack Snyder mehr gemein, als man annehmen möchte.
Und, hey: beide begannen als Videoclip-Regisseure, ehe sie erfolgreich ins Filmfach wechselten; die erste Gemeinsamkeit!
Doch wieder zurück zu »Sucker Punch«, was im Übrigen so viel wie ein »unerwarteter Schlag« bedeutet. Wie so viele Märchen, alt oder neu, startet der Streifen mit einer Tragödie; verpackt in verträumten Sequenzen: dem Tod von Babydolls (Emily Browning) Mutter. Sehr zur Freude von ihrem sadistisch-pädophilen Stiefvater (Gerard Plunkett), der sich im Stillen schon die Hände reibt angesichts der Aussicht auf zwei wehrlose Spielzeuge und ein hübsches Erbe. Doch es kommt anders. Denn das Vermögen wird auf Babydoll und ihr kleines Schwesterchen übertragen. Mit fatalen Folgen, die in einer Affekthandlung münden, welche die 20jährige große Schwester in das »Lennox Heim für mental Kranke« befördert. Oder anders ausgedrückt: von einer Hölle in die nächste. Denn eine Behandlung ist das letzte, was sie innerhalb der altersfleckigen Wände der Institution erwarten darf. Stattdessen die Aussicht auf eine Lobotomie, deren einziger Sinn darin besteht, Babyface mundtot zu machen. Gut, wenn man mit Leuten wie dem bestechlichen Pfleger Blue Jones (Oscar Isaac) Geschäfte machen kann.
Doch Babydoll gibt nicht auf. Stattdessen flüchtet sie an jenen Ort, den ihr keine Misshandlung, keine Drohung, ja nicht mal die Aussicht auf den Tod nehmen kann: ins Reich der Fantasie. Dort ist sie eine von mehreren Tänzerinnen, die Abend für Abend in Bordell-Alter Ego der Irrenanstalt vor potenziellen Kunden aufzutreten hat. Doch hinter den Rücken ihrer Knechte heckt die aufgeweckte Babydoll bereits einen Fluchtplan aus; gemeinsam mit der Asiatin Amber (Jamie Chung), der dunkelhaarigen Blondie (Vanessa Hudgens) sowie Rocket (Jena Malone), und Rockets älterer Schwester, Sweet Pea (Abbie Cornish). Und so macht sich das Quartett an die Arbeit; erledigen Amber und die anderen die Vorgaben in der „realen“ Welt, während Babydoll zahlreiche Schlachten in ihrer Imagination zu bestreiten hat …
Klingt wirr? Stellenweise ist es das auch. Ähnlich wie Björk und Gondry einstmals kümmert sich Snyder weniger um Massentauglichkeit (und manchmal auch um Logik) und kredenzt ein Werk, bei dem alles möglich und nichts unmöglich ist; von fünf Meter großen Samurai mit MG’s hin zu deutschen Steampunk-Zombies in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs und weiter zu einem von gesichtslosen Robotern dominierten Planeten. Das unter anderem Björks »Army of me« und eine, wenn nicht sogar DIE Hymne für bewusstseinserweiternde Substanzen, »White Rabbit« (in der Originalversion von Jefferson Airplane, hier von Emilíana Torrini dargeboten) Babydolls Schlachten musikalisch untermalen dürfen, ist insofern kein Zufall. Denn bei diesem wilden Mix kann durchaus an manchen Stellen der Verdacht entstehen, dass diese eine letzte Cola doch nicht ganz in Ordnung war. Doch völlig gleich, wie man es dreht und wendet: »Sucker Punch« ist großes, weil visionäres Kino; ein verdammt mutiges Stück Zelluloid, welches zwar zugegebenermaßen nicht immer hundertprozentig schlüssig erscheinen mag, aber aufgrund der visuellen Sogkraft, die der Film mit fortschreitender Länge immer stärker entwickelt den geneigten Zuschauer mit seinen wahnwitzigen Ideen förmlich niederrollt, verzeiht man derlei Makel – die wirklich nur marginal auftreten – gerne; inklusive Snyders noch immer nicht auskurierter Affinität zu Slow Motion, wobei besagte Aufnahmen diesmal bedeutend passender platziert wurden. Für ihn ist Babydolls Fantasie ein riesiger Spielzeugladen, in dem er sich nach Herzenslust austoben kann – und davon auch reichlich Gebrauch nimmt. Doch wie zuvor schon angedeutet, dürfte »Sucker Punch« bei all jenen, die a) entweder nichts mit Genrefilmen anfangen können oder b) nicht von ihren Mainstream-Sehgewohnheiten abrücken wollen verdammt schwer im Magen liegen; wahrscheinlich spätestens, wenn ein Bomber in einem Setting á la Herr der Ringe (inklusive Orks selbstredend) von einem Drachen verfolgt wird. Für Snyder wird der wilde Anachronismus im Gegenzug aber immer selbstverständlicher, weshalb man vor dem Mann einfach den Hut zücken muss, dass er die Vorgaben der breiten Masse komplett ignoriert und stur sein eigenes Ding durchgezogen hat – mit visuellen Leckerbissen, die es in dieser Form bislang wohl kaum oder gar nicht zu sehen gab.
Nicht unerwähnt bleiben sollte innerhalb dieses Reigens aber auch die Leistung der Schauspieler. Insbesondere die Australierin Emily Browning darf sich durchaus nach »Sucker Punch« für Höheres empfehlen, wobei man ihr – wie auch dem restlichen Ensemble – großes Lob zollen muss, derlei ungewöhnliche Rollen überhaupt angenommen zu haben. Browning spielt ihren Part der Babydoll gleichermaßen verletzend wie offensiv und - lasziv; den zugegebenermaßen mit reichlich Bein- und Körperfreiheit versehenen Outfits sei Dank. Doch sind die ziemlich gewagten Kleider – oder besser Kleidchen – keineswegs dazu gedacht, irgendwelche Altherrenphantasien zu bedienen. Vielmehr wird der Zuschauer bewusst in die Irre geführt, indem ihm – scheinbar – verängstigte, hilflose kleine Mädchen präsentiert werden. Kein Wunder, dass der daraufhin ausgeführte Faustschlag umso schmerzhafter ist.
Fazit:
Alice im Wunderland mit Wummen? Steampunk auf LSD? Fantasy mit einer Prise Hitzschlag? »Sucker Punch« ist alles – und mehr. Ein wilder, opulenter Walkürenritt durch die Zeiten und Genres, erfrischend unkonventionell und absolut visionär. Nachschlag bitte!
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