Autorin: Heru n’ nertë
Kapitel I
Sanft tauchte das Licht des vollen Mondes die Zinnen der Feste von Minas Ithil in einen silbernen Schimmer und die dunklen Steine fingen die zarten Strahlen auf, um sie auf ewig an sich zu binden und ein überirdischer Schein lag auf ihnen.
Vor langer Zeit hatte Isildur die Feste erbaut und sie wurde von den Menschen zu einer prächtigen Stadt gemacht, in der sich ohne Sorgen und in Frieden leben ließ.
Nicht umsonst trug Minas Ithil seinen Namen. Die Elben hatten die Stadt in den Höhen des Ephel Dúath mit dem schönen Namen "Turm des Mondes" beschenkt, weil sie die Schwester Minas Arnors war; so hieß die Stadt Anárions, und der Name bedeutet: "Turm der Sonne".
Beide waren sie erbaut worden im selben Jahr, aber Minas Ithil war bei weitem nicht so groß wie Minas Arnor, denn der Stein des Schattengebirges ließ sich nicht leicht formen und die Menschen rangen mit dem dunklen Fels, bis die Stadt schließlich Gestalt angenommen hatte; und wehrhaft und mächtig war sie, mit starken Mauern und einem großen Tor und vielen schönen Häusern aus Stein, deren große Fenster im Sommer das Licht der Sonne einließen und die im Winter mit starken Läden aus Holz verschlossen wurden, damit die behagliche Wärme des Feuers von Ofen und Kamin in den Räumen blieb, auf dass es den Menschen gut ginge.
Zum Schutze der Bewohner und der Stadt selbst hatte man einen tiefen Einschnitt in den Felsen gegraben, als die Feste vollendet war, über den nur eine breite Zugbrücke nach Minas Ithil hinein führte. Der Aufstieg über eine lange, gewundene Straße, die zwei großen Karren Platz bot, dauerte lange und endete vor der von Menschenhand geschaffenen Felsspalte, wenn die Zugbrücke gehoben war. Aber seit Jahr und Tag ließ man sie offen, denn nichts gab es, was zu fürchten gewesen wäre in dieser glücklichen Zeit.
Nahebei im Tal war ein Fluss dunklen Wassers, der sich seinen Weg aus dem Gebirge suchte und in den Anduin mündete. Keinen Namen hatte er und die Menschen gaben ihm auch keinen, damit er frei war für alle Zeit, denn Namen bedeuteten Macht über das benannte, so wie viele glaubten, und sie scheuten sich, die Gewalten des Wassers beherrschen zu wollen; allein Ulmo war dies vorbehalten.
Zufrieden waren die Bewohner der Stadt mit ihrem Leben, denn es war leicht und sorgenfrei. Immer waren die Teller und die Krüge gefüllt, und Harmonie herrschte zwischen den Menschen, denn keiner musste dem anderen etwas neiden; sie alle hatten genug und kannten das nagende Gefühl des Begehrens nach dem Besitz anderer nicht.
Aber gute Zeiten dauern nie lange an und schnell war die unbeschwerte Zeit der Menschen der Stadt vorbei, denn im Jahre 3429 des Zweiten Zeitalters hatte der Dunkle Herrscher seine Hand erhoben und es gelang ihm, Minas Ithil zu erobern und zu verheeren.
Die Häuser lagen nun in Trümmern und viele Menschen hatten ihr Leben gelassen, denn sie kämpften für das ihre, und der Feind hatte große Verluste erlitten. Doch Sauron kümmerte es nicht, und er hatte einen langen Arm und viel Geduld; und so gebot er über viele Heere und die Zeit; und endlich fiel Minas Ithil und der Weiße Baum, den Isildur gepflanzt hatte, wurde vernichtet.
Doch so, wie eines seiner Samenkörner gerettet wurde, auf dass es in Minas Arnor einen neuen Baum aus sich wachsen lasse, so entstand auch Minas Ithil neu.
Denn Sauron wurde besiegt durch die gemeinsame Kraft der Erstgeborenen und der Zweiten Kinder Illúvatars, und die Menschen von Gondor, darunter auch viele Dúnedain, kehrten zurück in die Stadt und das Land Ithilien; während Isildur in Minas Arnor blieb, und dann erschlagen ward - verraten von dem Ring, den er nicht fortgeben wollte, und mancher Weise sagte: "Seht, mag Sauron auch vernichtet sein, er zieht die Getreuen des Letzten Bündnisses mit in das Verderben!"
Zum Zeichen der Verehrung erhielten die Menschen Minas Ithils das erhabene Haus, das ihrem König zur Heimstätte geworden war und so gedachten sie seiner, denn kein Grab konnten sie ihm bereiten, weil der Anduin seinen Leichnam davongetragen hatte; einzig das zerborstene Schwert Narsil entließ der Große Strom aus seiner Gewalt. Es war das Zeichen für einen glorreichen Sieg, aber zugleich auch für einen fürchterlichen Preis, den Elben und Menschen zu zahlen hatten und sie trugen schwer an dieser Bürde in den Zeiten danach.
Sich des Bösen in der Welt immer erinnernd bauten die Menschen Minas Ithils einen Turm in der Stadt, hoch und glatt und dunkel, und er würde fortan ein wachsames Auge sein gen Osten; dort ging noch immer Unheimliches um und es sollte Mordor nicht ungesehen verlassen können, denn es gab geheime Wege durch die Berge, und so glich der Turm dem Morannon, das erbaut worden war, um das Schwarze Land zu bewachen.
Die Stadt besaß nun wahrhaftig ihren "Turm des Mondes".
Aber ihren Namen hatte sie seit Anbeginn zur Recht getragen. Es lag seit jeher ein unbekannter Zauber über der Feste, der die Mauern glitzern und glänzen ließ, als schiene immer das Mondlicht darauf, auch wenn Wolken das Antlitz der bleichen Silberscheibe verhüllten.
Die Bewohner erfreuten sich daran und niemals konnten sie des Scheines überdrüssig werden, denn er war gar wundersam und er spendete Wärme, schwach zwar nur, aber fortwährend war sie da - ein Licht der Hoffnung in einer Welt, die kalt und grausam geworden war und über die das Böse wieder zu kriechen begann und seine Klauen ausstreckte.
~~ *** ~~
Der Wächter an der Zugbrücke stand wie jede Nacht auf seinem Posten und betrachtete versonnen die Sterne am Firmament. Einen jeden von ihnen hatte er unzählige Male erblickt und immer noch ließ er sich von ihrer Schönheit verzaubern - und der des Mondes, der wie ein schützendes Wesen seine Strahlenfinger über die Stadt hielt.
Es war eine klare Sommernacht, die selbst die Höhen des Schattengebirges erwärmte, und der Wind strich leise umher, hier und da hörte man Stimmen, denn viele Bewohner Minas Ithils hatten Freude an der Dunkelheit. Niemals war sie von Schrecken für die Menschen, sie wurde begrüßt als Freund und angenehme Abwechslung zur strahlenden Helligkeit des Tages, die Geschäftigkeit verlangte und wenig Ruhe gönnte.
Der Wächter sah hinab in das Tal und verfolgte den Lauf des Flusses mit den Augen und das Mondlicht glänzte auf dem dunklen Wasser, das kleine Wellen schlug, und es schien, als sei ein Schatz in den Fluten verborgen, so sehr glitzerte es.
Weit konnte der Mensch sehen, denn die Stadt war auf einem Vorsprung des Schattengebirges erbaut worden; achtzehntausend Fuß in der Höhe.
Der Wind hob an mit größerer Kraft zu wehen und plötzlich brachte er Kälte mit sich, die aufstieg wie Nebel.
Verwundert blickte der Wächter um sich und ihm war, als habe er einen Schatten vorbei huschen sehen im sanften Lichtschein des Mondes und er zog seinen dünnen Umhang enger um die Schultern, um den Schauer zu unterdrücken, der über seinen Rücken glitt, wie dürre und kalte Finger.
Manchmal trug der Fluss Kälte heran, aber sie blieb nie lange und niemals lag irgendeine Bedrohung in ihr, sie war nach warmen Sommertagen erquickend und willkommen.
Aber dieser kalte Hauch war anders und der Wächter spürte Furcht in seine Glieder kriechen. Immer wieder huschten seine Augen umher, er meinte etwas zu fühlen, etwas, das ihn beobachtete und auf ihn lauerte wie ein Raubtier auf seine ahnungslose Beute. Die Luft blieb ungewöhnlich kühl, aber allmählich nahm der Wächter die Kälte als gegeben hin und er entspannte sich ein wenig, da nichts geschah; aber dennoch sehnte er das Ende seines Wachdienstes herbei - das erste Mal in seinem Leben.
Denn er stand gerne hier in der Dunkelheit, über sich den Himmel und unter sich den Fluss, der lautlos dahinglitt, weil sein Gurgeln und Rauschen nicht in die Höhe drang.
In der zweiten Hälfte der Nacht war es am stillsten und am schönsten und der Wächter versank häufig in seinen eigenen Gedanken. Er war im Dienste ergraut, einem Dienst, der für ihn mehr ein Vergnügen war, als eine Arbeit und in den siebzig Jahren, die er seiner Aufgabe nun schon nachging, hatte es niemals etwas Ungewöhnliches gegeben. Nur manchmal hatten sich Reisende eingefunden die Kunde aus Minas Arnor brachten und die des Nachts ankamen, oder ein verirrtes Wild, das die Straße hinaufschritt und schnell flüchtete, wenn es den Menschen erblickte. All dies waren angenehme Abwechslungen.
Stunde um Stunde verging und der Mond verschwand langsam hinter den hügeligen Horizont im Westen. Er sandte seine letzten Strahlen aus und dann funkelten nur noch die Sterne. Im Osten kündigte sich der Morgen mit einem roten Glühen an, welches die Berggipfel in ein überirdisches Licht tauchte. Minas Ithil jedoch lag noch im Schatten des Ephel Dúath, ruhig und friedlich.
Bis sich ein Schemen von der Felswand löste, die ein Teil der Mauern der Stadt war, und auf den Wächter zuschwebte, wie ein schwarzes Gespinst. Der Mann fuhr herum, als ein schriller Schrei ertönte, in dem er Worte zu hören glaubte und dann griff eine geisterhafte Klaue nach seiner Kehle. Eiskalt war die Berührung und lähmend und voll qualvoller Schärfe. Der Wächter wollte eine Warnung rufen, aber seine Zunge war wie gebannt und schwarzer Nebel verdunkelte seine Sinne. Er tastete mit letzter Kraft nach seinem Schwert ...
Kapitel II
Bei Tagesanbruch fand man den Wächter in seinem Blute liegen und seine Glieder waren gar grässlich verdreht und in seinen Augen stand eine namenlose Angst. Sein eigenes Schwert war es, mit dem man ihn erschlagen hatte, und eine tiefe Wunde war durch die Klinge in seinen Leib gerissen worden. Aber es gab keine Spuren; allein die des Wächters, der eisenbeschlagene Stiefel trug, hatten sich in den felsigen Boden gegraben, als er mit einem unbekannten Gegner gerungen hatte.
Ratlos waren die Menschen, und die Oberen der Stadt beriefen eine Versammlung ein, denn niemand vermochte zu sagen, was geschehen war und was es bedeutete. Viele hatten den seltsamen Schrei vernommen und für einen Augenblick hatte die Angst ihre Herzen ergriffen. Aber sie war vergangen wie ein Windhauch und da es keinen Alarm gegeben hatte, waren die Menschen von Minas Ithil beruhigt in den Schlaf zurückgesunken, und wer wach war, lauschte noch ein Weilchen und tat den seltsamen Laut dann mit einem Kopfschütteln ab.
Nun aber kam wieder Unruhe über sie und sie beratschlagten lange. Leise wurde geflüstert von einer Gefahr aus dem Osten, aber Mordor lag still wie eh und je, seit Sauron im Krieg des Letzten Bündnisses besiegt worden war und nichts war über das Schattengebirge gekommen, was die Wächter in Minas Ithil nicht gesehen hätten. Sie wussten von bösen Dingen im Land der Schatten, aber diese blieben verborgen und niemals hatte etwas gewagt, hervorzukriechen und Unheil mit sich zu bringen. Auch konnte keiner sagen, was sich in dem verderbten Land aufhielt.
Nur Gerüchte machten die Runde und manchmal erzählte einer der Jäger, er hätte in den Bergen seltsame Spuren gesehen, die nicht zu deuten waren. Ein anderer sprach einmal von einer unerklärlichen Angst, die ihn erfasst hatte, als er sich auf einer einsamen Wanderung in das verfluchte Land gewagt und die Ebene von Gorgoroth betreten hatte.
Aber dennoch war allen Menschen die Stadt immer als Hort der Sicherheit erschienen, dem man sich anvertrauen konnte und der nach Osten hin keinen besseren Schutz bot, als das Schattengebirge. Und der Westen war immer sicher gewesen ...
Seit ungezählten Jahren hatte man die Zugbrücke des Nachts nicht gehoben und nur einen Wächter dort stehen lassen, nun aber schloss sie sich in der Dämmerung, und es zahlte sich aus, dass man ihre starken Ketten gepflegt und den Hebemechanismus geschmeidig gehalten hatte. Wachen wurden am Tor postiert und es waren ihrer viele.
So gingen zwei Monate ins Land und der Herbst kündigte sich an - und nichts war geschehen. Ein schlimmes Geschick wurde aus dem Unglück, das den Wächter ereilt hatte, und die Menschen gewannen ihre alte Zuversicht und Ruhe zurück. Die Nächte waren wieder angenehm und wurden wieder begrüßt. Man saß an den Kaminfeuern, die am Abend entzündet wurden, sang und erzählte, bis der Schlaf kam, und am Morgen begann man seinen Aufgaben nachzugehen, ein jeder nach seinen Fähigkeiten.
Die kurzen Tage kamen, an denen letzte Vorkehrungen für den Winter getroffen wurden, die Jäger brachten noch einmal reiche Beute aus den Bergen und die letzten Wagen schafften Korn aus Ithilien heran, um die Kammern zu füllen, denn wenn erst der Schnee kam, dann war die Stadt ein einsamer Hort der Behaglichkeit in den Bergen, abgeschnitten von der Welt ringsum.
Die Nacht des Neumondes im elften Monat des Jahres war es, als das Unheimliche wieder umging in Minas Ithil, und keiner bemerkte es, als es kam in den Stunden des tiefsten Schlafes. Aber als es offenbar wurde, da erhob sich große Klage und weithin erklang sie über die Mauern der Stadt.
Als der Morgen graute und die Späher auf dem Turm ihren Platz verließen, um anderen Scharfsichtigen die Wache zu überlassen, da sahen sie mit Erstaunen, dass in keinem der Häuser, die den Ort umsäumten an dem der Turm stand, Lichter entzündet worden waren; so kannten sie es und niemals war es anders gewesen und der Schein vieler Kerzen aus den Fenstern und Laternen an den Türen hatte ihnen den Weg in ihre eigenen Heimstätten gewiesen.
Nun aber war es dunkel, nur ein schwacher Schimmer im Osten kündigte den Tag an, und mit einer bangen Ahnung im Herzen gingen die Wächter langsam voran, bis einer der ihren an ein kleines Bündel stieß. Er kniete sich nieder und betastete es und seine Hände streiften ein kaltes Gesicht ...
Wie schnell erwachte die ganze Stadt an diesem Morgen und wie sehr waren die Menschen in Angst und Schrecken gestürzt worden, denn das Unfassbare war geschehen. In den starken Mauern der Feste waren Meuchelmörder umgegangen, und keiner wusste, wie es ihnen gelungen war Minas Ithil zu betreten; Tor und Zugbrücke waren unversehrt und die Wächter beteuerten bei allem, was ihnen heilig war, keine Seele die Stadt betreten gesehen zu haben. Und auch die Späher auf dem Turm hatten des Nachts nichts erblickt, so gut ihre Augen auch waren, wenn sie die Dunkelheit durchforschten. Aber die Augen der Sterblichen vermögen nicht alles zu sehen ...
So blieben nur die geheimen Pfade durch das Gebirge, von denen aus man die Stadt über verborgene Eingänge in den Kellern einiger Häuser betreten konnte; aber sie waren seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt worden, und als man nun einige Männer ausschickte, kamen sie wenig später mit der Kunde zurück, dass Staub und Spinnweben von Jahren die verborgenen Gänge bedeckten und säumten, und nichts konnte sie durchquert haben, ohne eine Spur zu hinterlassen, soviel war gewiss.
Mit Unbehagen erinnerte man sich des Wächters, der im Sommer des Jahres sein Leben gelassen hatte, unter Umständen, die genauso unerklärlich gewesen waren, und man begann von Geistern zu sprechen, die die Lebenden heimsuchten. Aber Geister töteten nicht auf die Weise, wie die Menschen sie vor Augen hatten. Sie hinterließen keine Anzeichen ihrer Gegenwart; und genau das war geschehen.
Die Ermordeten waren aus ihren Häusern geschleppt worden, und nun lagen sie vor den Türen, die aus den Angeln gehoben waren, als hätten sie kein Gewicht, dabei waren zwei kräftige Männer nötig um dies zu tun.
Mit Trauer und Furcht betrachtete man die Toten. Seltsam geformte Klingen hatten sich in die Leiber der Unglücklichen gebohrt und ihrem Leben ein jähes Ende bereitet. Vorsichtig nahm man die Toten, um sie zu verbrennen, wie es Brauch war in Minas Ithil, denn es gab keine Erde, in der man sie hätte bestatten können.
Als man unter großen Klagen die Leichname zusammenlegte, schob sich die Sonne über das Schattengebirge, aber niemand begrüßte sie freudig und über die Stadt legte sich mit einem Male eine gespenstische Stille, und wie gelähmt und willenlos waren alle.
Jedoch nur kurze Zeit währte die Ruhe und das Innehalten, dann wurde beides jäh unterbrochen von dem Klirren eines Messers, das sich aus dem Herzen eines Kindes löste und auf den Boden aus Stein fiel.
Zaghaft und vorsichtig traten einige Menschen hinzu und der mutigste unter ihnen griff nach der Waffe.
Das mit Runen verzierte Heft war kalt wie Eis, wenn man es berührte und mit einem Male verging die Klinge im Lichte der Sonne, deren Strahlen nun den Platz zu erfüllen begannen - und auch die Toten schwanden dahin, bis nur noch ihre Kleider dort lagen, wo eben noch ihre Körper gewesen waren!
Entsetzt wandten sich die Dúnedain ab und flohen von der Stätte der Trauer, die zu einer Stätte des Grauens geworden war. Lange Zeit verbrachten sie in Furcht in ihren Häusern, wohl wissend, dass die starken Mauern keinen Schutz boten gegen das namenlose Böse, das die Stadt heimgesucht hatte. Hilflos fühlten sie alle sich, wie nie zuvor. Und nun rüsteten sie sich, auch wenn sie nicht wussten, gegen wen sie ihre Waffen hätten erheben können. Aber ein jeder schärfte sein Schwert und übte sich in der Waffenkunst, damit er vorbereitet wäre, wenn es zum Ärgsten käme. Und der Frieden in der Stadt war dahin. Gar manch böses Wort fiel von nun an, denn wenn kein Feind von Außen kommen konnte, dann musste er doch unter ihnen selbst zu finden sein! Misstrauen hielt Einzug unter den Menschen und schwächte ihre Gemeinschaft.
Doch sollte es nicht lange dauern, da kamen sie wieder zueinander, weil der Feind sich zu zeigen begann.
Denn ein solcher Angriff kam nicht wieder, aber nun fanden sich allmählich Orks im Lande und in der Nähe ein. Man konnte sie sehen im Tal am Fluss - winzige Gestalten, die ein Lager errichteten und es sollte von Dauer sein. Sie wurden zahlreicher von Tag zu Tag, aber sie taten nichts, und die Menschen der Stadt begannen sie mit weniger Besorgnis zu betrachten, auch wenn sie ein wachsames Auge auf die hässlichen Gestalten behielten, die niemals Gutes verhießen.
Von Zeit zu Zeit kam eine Horde von ihnen die Straße hinauf, bis an die breite Felsspalte am Tor und die Orks sparten nicht mit Geschrei und Beschimpfungen, verschossen dann und wann einen Pfeil und kehrten nach kurzer Zeit wieder um.
Als sie das erste Mal erschienen waren, sahen die Dúnedain mit Erstaunen ihre guten Schwerter und die sorgfältig gefertigten Schilde, auch trugen die Orks lederne Panzer und einige Kettenhemden dazu. Sie waren keine Mitglieder der herumstrolchenden Banden, die in den vergangenen Jahren immer um das Gebiet Ithiliens herum zu finden gewesen waren; nein, sie waren Teile einer Streitmacht, die zusammentraf, und unschwer war zu erkennen, dass sie sich auf eine Belagerung Minas Ithils vorbereiteten.
Die Bewohner der Stadt versuchten in dunklen Stunden Späher hinabzuschicken, um zu erkunden, wer die Orks führte, denn sie selber waren nicht klug genug ein Heer zusammenzurufen, aber die Kundschafter kamen nicht weit, ganz gleich, ob sie sich auf der Straße ins Tal bewegten oder auf gefährlichen versteckten Pfaden, die nur geschickte Kletterer meistern konnten - immer hielt sie ein Schatten auf und trieb sie zurück mit Kälte und Furcht.
So ging es lange Zeit ...
Kapitel III
Benommen lag der Krieger der Dúnedain auf dem Pflaster der Seitengasse und neben ihm lagen viele andere. Sie alle waren erschlagen worden, ganz gleich ob es Frauen, Männer oder Kinder waren. Sie alle hatten gekämpft mit letzter Kraft und selbst die Kinder hatten kurze Messer bekommen, wenn sie eines halten konnten, damit sie nicht völlig schutzlos waren. Die Frauen hatten sich auf das Kampfgeschick besonnen, das auch ihnen zu eigen war und zu den Schwertern gegriffen, um ihr Blut und das der ihren teuer zu verkaufen und sie waren nicht weniger wacker gewesen als die Männer.
Aber Mut und Selbstlosigkeit helfen nicht gegen einen schwachen Körper und die Orks hatten ein leichtes Spiel, als ihnen der Zutritt zur Stadt nicht mehr verwehrt worden war.
"Der Herr sucht nach einem, der noch einen Funken Leben im Leib hat!" schrie eine grobe Stimme in der Nähe des Mannes plötzlich und Orkfüße stampften lärmend heran. Die Toten wurden ergriffen, beäugt und geschüttelt und dann wieder zu Boden geworfen. Als die Reihe an den Mann kam hielt er den Atem an. Wie eine Puppe riss man ihn hoch. Er unterdrückte ein Stöhnen, als Schmerz durch seine gepeinigten Glieder zuckte und schon spürte er, wie man ihn fallen lassen wollte, da knurrte eine Orkstimme nahe an seinem Ohr: "Der ist noch warm", und dann lauter "Hier ist einer von den elenden Burschen. Der Herr wird zufrieden sein!"
Der Mensch wurde von groben Händen gepackt und auf seine Füße gezerrt. Gepeinigt stieß er einen Schmerzenslaut aus, denn viele Wunden bedeckten seinen Körper, die Knochen seines linken Armes waren zerschmettert und Rippen waren zerbrochen und das Stehen fiel ihm schwer. Seine Augen versagten ihm von Zeit zu Zeit den Dienst und seine Zunge klebte an seinem trockenen Gaumen und kein Wort meinte er aus seiner rauen Kehle hervorbringen zu können. Ein dünner Blutfaden rann aus seinem Mund und jeder Atemzug brachte Schmerz mit sich, der wie eine Welle durch seinen Körper lief; und es war ein Wunder, dass er noch lebte - aber vielleicht auch eine grausame Laune des Schicksals.
Die Orks, die den Mann umringten, stießen ihn vorwärts und beschimpften ihn in ihrer hässlichen Sprache und trieben ihn an. Er ließ es geschehen und stolperte vorwärts ohne zu sehen, wohin ihn seine Füße trugen und endlich fand er sich auf dem Platz vor dem Wachturm wieder, von dem aus die Dúnedain mit scharfen Augen Ausschau gehalten hatten. Immer wieder war ihr Blick nach Osten gezogen worden, denn das Verfluchte Land war nahe - aber nicht von dort war das Unheil gekommen, so dünkte es jedenfalls.
Aus dem Westen war es erschienen, durch Ithilien herangekrochen und hatte gewartet, sich dann und wann gezeigt und als es stark genug war, zum entscheidenden Schlag ausgeholt.
Gegen ein ganzes Heer hätte Minas Ithil standgehalten, denn niemand vermochte abertausend Krieger ein Gebirge hinaufzuschaffen und gegen eine Stadt anrennen zu lassen, die aus den Felsen geboren worden war und ihre immerwährende Stärke besaß.
Aber es gab Feinde, die sich nicht besiegen ließen, egal wie gewaltig die Mauern einer Festung waren und wie tapfer ihre Verteidiger.
Der Mond hatte seinen Lauf am Himmel zum dreiundzwanzigsten Mal vollendet, als die Kornkammern der Stadt leer wurden.
Ein letztes Mal gab man das feine, dunkle Mehl aus, das unter den geschickten Händen der Frauen zu schmackhaftem Brot wurde. Bald weinten die Kinder vor Hunger und verzweifelte Mütter klagten und die Männer waren gefangen in ohnmächtigem Zorn, denn es gab keinen Weg aus der Feste mehr, der nicht bewacht war von Orks und grässlichen Kreaturen, die Furcht und Verderben brachten.
All die geheimen Gänge hatte der Feind gefunden, auf denen man Nahrung beschaffen konnte im Falle einer Belagerung und auch die mutigen Boten, die man gen Minas Arnor ausschickte, um Hilfe zu erbitten, kamen nie an ihr Ziel. Selbst die abgerichteten Vögel, denen man Botschaften anvertraute, fanden ein jähes Ende ihres Fluges, mit Leibern zerrissen von schwarzen Pfeilen.
Als das Ende nahe war, gab es nur noch wenige Menschen in Minas Ithil, die eine Waffe hatten führen können. Der Hunger quälte auch sie und sie waren versucht, das Fleisch der Toten zu essen - doch niemand wagte es, denn es war Frevel.
Zum Hunger kamen vielfältige Leiden, die sich nicht lindern ließen, waren doch schon seit Monaten keine Heilkräuter mehr in die Stadt gelangt. So wurden die Menschen danieder geworfen, ohne dass der Feind sie zu berühren brauchte. Verzweiflung war nun ein ständiger Begleiter und die Menschen begannen zu den alten Göttern zu flehen, aber es schien, als hätten die Erhabenen ihre Gesichter abgewandt und keinen Anteil mehr am Schicksal der Kinder der Sonne.
So warteten diese denn auf ihren Tod und nach zwei Jahren der Belagerung, die immer härter und grausamer geworden war, kam er über sie in der Stunde des Morgens, an dem die Vögel anfangen zu singen.
Dreimal schlug etwas Gewaltiges gegen das Tor der Stadt und unsichtbare Hände rissen es auf und sprengten die Ketten der Zugbrücke. Krachend fiel sie hinab und der Weg für den Feind war frei. Orks strömten in die Gassen und bald waren die blanken Steine besudelt von rotem und schwarzem Blut. Schreie hallten durch die Stadt lange Zeit, bis es endlich still war und dann kamen sie.
Neun finstere Gestalten auf großen schwarzen Pferden, deren Nüstern Flammen schnaubten und deren Augen glühten, und die Reiter waren gekleidet in dunkle, graue Gewänder, die sie von Kopf bis Fuß bedeckten.
Der größte von ihnen ritt voran und ließ seinen unsichtbaren Blick über die Stadt schweifen und sehr zufrieden war er, mit dem, was er sah. Die Stadt war sein! Wahrlich, nur kurz war die Zeitspanne gewesen, die es bedurfte, um die Feste Isildurs einzunehmen - zwei Jahre; ein Augenblick für einen wie ihn, der schon ganze Königreiche unterworfen hatte.
Mit Minas Ithil aber feierte er einen besonderen Sieg, denn er tilgte damit die Schmach, die man ihm zugefügt hatte, als er aus seinem eigenen Reiche Angmar vertrieben wurde, im Moment eines großen Triumphes, war doch das letzte Königreich Arnors in seine Hände gefallen und die Hauptstadt Fornost vor seinen Augen geschleift worden. Aber nicht lange hatte er sich dieses Sieges erfreuen können.
Minas Ithil jedoch würde bis in alle Ewigkeit sein Sitz sein, so wie es eines Königs Recht war, denn König konnte er sich nennen - ein König der Schatten und der Verdammten ...
Mit einem stummen Befehl sandte er seine acht Gefährten aus, auf dass sie nach nützlichen Dingen Ausschau hielten und sich mit der Stadt vertraut machten, denn auch sie würden hier hausen, wenn kein Befehl sie hinausschickte, um Schrecken über die Welt zu bringen.
Acht Pferde preschten davon und auch der neunte Reiter gab seinem Ross die Sporen. Er hatte sich den Turm zum Ziel gewählt. Die eiserne Tür lag zerbrochen auf dem Boden, denn die Orks waren in ihrer Gier nach plünderbarem Gut kaum zu halten, alle Häuser brachen sie auf und auch den Turm hatten sie nicht verschont.
Aber sehr enttäuscht waren sie, als sich nichts von Wert für sie fand. Der ganze Turm war leer, alle seine Zimmer beherbergten nur den Staub von Jahren. Lange schon wohnte niemand mehr dort, denn die Zeiten waren dunkler geworden. Die Menschen von Minas Ithil hatten dem Turm seitdem nur eine Aufgabe zugedacht: wachendes Auge zu sein über das verfluchte Land, an dessen Grenze er stand. Und so waren die Dúnedain immer nur hinaufgestiegen in das höchste Zimmer und dort hatten sie Stunde um Stunde, Tag um Tag und Jahr um Jahr ihre Aufgabe erfüllt und gen Osten geblickt.
Die Orks schnüffelten dennoch überall herum, aber dann hatte einer das Kommen des Herrn der Nazgûl bemerkt und schnell hatten sie den Turm verlassen und sich in der Nähe verborgen, und sie waren ein wenig verärgert, vor der Ankunft ihres Gebieters nicht auch noch das letzte und höchste Zimmer durchsuchen zu können.
Kapitel IV
Langsam betrat der Herr der Neun den Turm und ebenso langsam schritt er die Stufen hinauf - denn nun hatte er keine Eile - und seine scharfen Sinne erforschten die Umgebung. Er hörte und spürte das Orkpack, das ihm heimlich folgte und hoffte, ihr Herr würde etwas finden - und vielleicht blieb dabei ein wenig für sie.
Er sah die Geister der Toten, denen eine der verzauberten Klingen ins Herz gefahren war, und die nun auf ewig dem Dunklen Herrscher gehörten. Sie jagten am Ort ihres Todes umher und winselten mit dünnen Stimmchen um Erlösung, aber niemand würde sie ihnen gewähren, denn es gab kein Entkommen für den, der den Schatten verfallen war; und kein Mitleid.
Der Herr der Nazgûl beachtete keines der Zimmer, das an der endlosen Wendeltreppe lag, die hinauf führte bis auf die Spitze des Turmes. Sie waren schon seit Jahren kalt und leer, denn sonst hätte er einen Hauch Lebendigkeit wahrnehmen müssen, der lange blieb, auch wenn das Leben fort war.
Aber hier gab es nichts - nur auf den Stufen leuchtete ein Lebensfaden und immer stärker wurde er, je höher man ging.
Die Treppe war breit und hatte Absätze dort, wo Zimmer von ihr abzweigten und ihr Stein war rau und ausgetreten von vielen Füßen, die all die Jahre über sie gegangen waren. Ohne Anstrengung strebte der Herr der Neun voran, denn er kannte keine Mühsal mehr und die Unzulänglichkeiten eines Körpers aus Fleisch und Blut, keinen Atem musste er schöpfen oder gar mit seinen Kräften haushalten, und die Orks hatten es schwer ihm zu folgen.
Wie Schatten blieben sie auf seiner Spur, immer fern genug, um nicht gesehen zu werden, aber immer noch nahe, damit ihren Augen und Ohren nichts entging.
Der Fürst ging voran und ließ sie gewähren, sie waren seiner Beachtung nicht wert, wenn sie ihm fern blieben, wie sie es sollten. Denn er mochte diese Geschöpfe nicht um sich haben, die zwar von Nutzen waren, aber grob und wenig begabt und eine Beleidigung für das Auge eines Königs.
Das höchste Zimmer des Turmes war mit einer starken Falltür verschlossen, auf der das Zeichen des Mondes in Silber eingearbeitet war, und es flammte auf, als sich der Herr der Nazgûl näherte.
Aber das Holz war kein Hindernis für einen, der schon als Mensch über mächtige Zauber zu gebieten verstand und so öffnete sich die Tür nach einer Geste des Dunklen Königs mit einem schaurigen Knarren nach oben, denn das Schloss brach und die Eisenbeschläge bogen sich unter einer gewaltigen Kraft und das leuchtende Symbol des Mondes wurde matt und das Silber schwarz; so wie der Boden und die Wände des Zimmers es waren, denn man hatte sie mit Obsidian ausgelegt, dessen Glanz selbst das Licht der Feste übertraf, wenn die Sonne an Wintertagen tief stand und ihre Strahlen in den Turm schickte.
Vier Fenster hatte das Zimmer, das über die ganze Fläche des Turmes sich auftat, die in jede Himmelsrichtung zeigten und weit ging der Blick.
Im Süden und im Norden zogen sich die Höhen des Schattengebirges dahin und sie waren wie ein unüberwindbarer Wall, aufgerichtet von den Händen eines Riesen.
Im Westen lag das Herz Gondors. Stolz der Menschen und der Dúnedain, die als Könige herrschten, und Erben Elendils.
Die Augen des Herrn der Nazgûl blickten weiter als die aller Sterblichen und er sah die weißen Mauern Minas Arnors. Einstmals würde auch der Turm der Sonne den Schatten anheimfallen und dann würde die Dunkelheit hereinbrechen über Mittelerde und jegliche Kreatur musste erzittern unter der Herrschaft Saurons.
Im Osten schließlich lag das verfluchte Reich Mordor und die Ebene von Gorgoroth tat sich auf. Viel imposanter und zugleich schrecklicher war jedoch der Schicksalsberg, dessen roter Atem manchmal die Nächte erhellte und der die Erde erbeben ließ, als rege sich ein gewaltiger Drache im Schlaf. Und wahrhaftig, der Berg schlief. In früheren Zeiten hatte er Feuer gespieen und gegrollt, damals war der Dunkle Herrscher noch in Mordor gewesen und sein schauriges Lachen hatte sich mit der Stimme des Berges vermischt, wenn er auf den Zinnen Barad-dûrs stand und finstere Kräfte beschwor.
Der Herr der Nazgûl schaute einen Moment dorthin und wenn es noch Gefühle in seinem kalten, toten Herzen gab, dann waren sie Triumph und Abscheu zugleich, denn dort würde Er bald wieder hausen und gebieten. Und Seine Diener waren beständig bestrebt, Ihm einen würdigen Empfang zu bereiten, damit Er wohlwollend auf sie hinab sah und ein feuriges Licht war in ihren düsteren Seelen, die sonst verdorrten.
Vor wenigen Jahren hatten sie alle sich in Mordor eingefunden und auf die Stimme ihres Gebieters gelauscht, der noch verborgen war, aber er wollte bald zurückkehren in sein Reich. So sandte er seine Diener aus ein Ärgernis zu bekämpfen, das an den Grenzen seines Landes stand.
In der Mitte des Raumes befand sich eine Säule aus Obsidian. Kunstfertige Hände hatten sie geformt, so dass es schien, als wachse sie aus dem Boden und sie war wie ein Piedestal aus edlem Stein, dessen obere Hälfte von einem tiefschwarzen Tuch aus Leinen bedeckt worden war. Dies war der einzige Gegenstand im höchsten Zimmer des Turmes und seltsam mutete es an, dass ein solch gewaltiges Bauwerk nicht mehr war als eine Hülle und ein Ort des Weitblicks. Aber so hatten die Menschen Minas Ithils es vor langer Zeit bestimmt und hielten daran fest, bis zum letzten Augenblick - und so kam das Verderben über sie.
Die Orks hatte sich nun eingefunden und neugierig streckten sie ihre Köpfe zur Falltür herein und als sie sahen, dass ihr Herr sie nicht beachtete, kamen sie langsam und so leise in das Zimmer, wie es möglich war.
Auch dieser Raum war eine Enttäuschung für sie, denn auch hier gab es nichts von Interesse für grobe Hände und trägen Verstand und die unschönen Wesen begannen miteinander zu tuscheln - erst leise, dann immer lauter, als einer nach dem anderen in Wut geriet ob der mageren Beute, die die Eroberung Minas Ithils erbracht hatte.
Nun wollte und konnte der Herr der Nazgûl die Orks nicht mehr mit Nichtachtung strafen und verärgert wandte er sich um, sein schweres Gewand wirbelte um ihn wie eine dunkle Wolke und seine Augen blitzten auf in einem dämonischen Feuer und er sah die Orks an, auf dass sie verstummten. Die hässlichen Kreaturen wichen zurück und drängten sich an den Wänden des Turmzimmers entlang auf die Tür im Boden zu, verängstigt und entsetzt.
Nur einer - war er kühn oder töricht? - wagte es neugierig, sich dem Piedestal zu nähern, während sein Herr abgelenkt war, und er streckte einen krummen Arm aus, um unter das schwarze Tuch zu schauen, das die Säule aus Obsidian bedeckte.
Er hatte kaum den Stoff ergriffen, als seine Hand plötzlich in Flammen stand und das Feuer war blau und es fraß sich weiter, so dass das Fleisch von den Knochen fiel. Der Ork stieß einen erstickten Schrei aus ehe seine Kehle zerstört war und dann starb er - seine Überreste ein Haufen schwelender Knochen und Asche auf dem blanken Boden.
Die Orks starrten wie gelähmt auf ihren Kameraden und dann huschten ihre Augen zu ihrem Herrn. Unverwandt ruhte sein feuriger Blick auf ihnen, während sein Zauber den unglücklichen Ork vernichtete, der es gewagt hatte, seine gierigen Klauen auszustrecken und etwas unendlich Kostbares zu besudeln. Mit Hast und Grauen stürzten die Orks aus der Tür hinaus und so schnell ihre Füße sie trugen die Treppe hinunter und aus dem Turm. Keiner von ihnen dachte noch daran zu murren, weil ihm Beute versagt worden war. Sie dankten vielmehr einem gütigen Schicksal, das ihnen ihr Leben gelassen hatte, während einer von ihnen es verlor. Es würde ihnen eine Warnung sein für alle Zeiten und von nun an fürchteten sie ihren Herrn unendlich - mehr noch, als sie das Schöne Volk in Angst und Schrecken jagte.
Und bald machten gar grausige Reden die Runde unter den Orks und sie fürchteten auch die anderen Nazgûl - Dämonen ohne Namen waren sie, aber mit Augen die den Tod brachten, und sie brauchten nur ein Wort zu sprechen, so vergingen Körper und Seele unter unendlichen Qualen.
Als das Getöse auf der Treppe verklang, war es totenstill im Turmzimmer.
Der Fürst der Nazgûl verschwendete keinen weiteren Gedanken an seine niederen Diener, denn sie waren es nicht wert und manchmal lästig. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf das Piedestal und das, was darauf verborgen lag.
Sachte streckte der Herr der Neun eine Hand aus, und siehe, sie war nur noch ein durchsichtiger Schemen in der Form einer dürren Klaue mit langen Fingern und spitzen Nägeln - nur für die Kundigen und Wissenden wahrnehmbar -, denn nun war auch der mächtigste der Nazgûl geschwunden, so wie seine Gefährten vor langer Zeit.
Viele Menschenalter hatte es gedauert, doch niemand war so stark, den Kräften des Einen Ringes zu widerstehen, der alle anderen beherrschte. Und auch der Herr des Einen hatte an Macht gewonnen und bald schon würde er wieder in Erscheinung treten.
Sein Griff war schon jetzt härter als Eisen und er beherrschte die Neun mit gnadenloser Strenge, auf dass sie ihm den Weg bereiteten zurück in sein Land.
Der Fürst glitt näher und näher heran an das Piedestal, achtlos fegten seine Stiefel Knochen und Asche davon, die dort lagen, und dann tastete er nach dem schwarzen, schweren Stoff, der ein Kleinod verhüllte, für das schon Königreiche gegeneinander gekämpft hatten, und zog ihn langsam fort.
Ein Palantír war es, der dort auf einem Kissen aus Damast ruhte, einer der größeren, denn er maß fünf Handbreit im Durchmesser und sein schwarzer Kristall funkelte und glänzte, als er nun vom schwachen Licht des trüben Tages erhellt wurde, das durch die breiten Fenster schien.
Viele Menschenalter waren vergangen, in denen der Stein als größter Schatz in der Stadt aufbewahrt worden war. Nur Isildur war es vergönnt gewesen hineinzublicken - nach ihm tat es niemand mehr; auch in der Stunde der höchsten Not nicht, denn keiner fühlte sich stark genug und es erschien den Menschen nicht richtig, denn es war das Vorrecht eines Herrschers.
Vorsichtig näherte sich eine Schattenhand dem Sehenden Stein und als der Herr der Nazgûl ihn berührte verlor der Kristall für einen Lidschlag lang all seinen Glanz, so als weiche er zurück vor dem Bösen, das dieser Kreatur innewohnte, die einmal ein Mensch gewesen war und von der nun niemand wusste als Sauron allein, ob sie noch zu den Lebenden zählte oder sich nur weigerte, die Pfade der Toten zu betreten.
Der Dunkle König lachte leise und seine Stimme hallte wider in dem großen Raum, in dem nur der Palantír auf seinem Piedestal aufbewahrt war.
Endlich ... Endlich erfüllte sich eine Begierde, die ihn schon Jahrhunderte antrieb - in den Besitz eines solchen Steines zu gelangen. Er würde sich als sehr wertvoll erweisen und er war ein wahrhaftig königliches Geschenk für seinen Herrn.
Zufrieden würde Sauron sein mit seinem gehorsamen Diener, der alles daran setzte, um das Wohlwollen seines Meisters zu erlangen, denn es war das Einzige, was noch zählte in einem Leben, das so nicht mehr genannt werden konnte. Es war ein Dasein in der Schattenwelt, über die das Lidlose Auge wachte und unter seinem Blick verkam die Seele, und es war ein Dasein in der Welt des Lichts; jedoch dieses war noch schrecklicher, brachte es doch auch dem geisterhaften Körper Pein.
Lange Zeit verharrte der Dunkle König bei dem Palantír, denn die Sonne stieg hoch an den Himmel und durchbrach die Wolken, und sie trübte seinen Geist. Er hasste ihr Licht, denn es tat ihm weh, und erst als sie fern im Westen unter den Horizont sank, regte er sich wieder.
Er rief seine Gefährten, die sich ebenso wie er vor den gleißenden Strahlen der Sonne verborgen hatten und sie kamen, und dann hielten sie stumme Zwiesprache. Als der Abend mit seinen düsteren Farben hereingebrochen war, schritt der Herr der Nazgûl aus dem Zimmer und verließ den Turm.
Orkhauptleute warteten dort auf dem Platz vor dem Turm und als ihr Herr erschien, warfen sie sich zu Boden und lauschten auf seine Befehle. Die Orks schwärmten aus, als sie vernahmen, was ihr Gebieter begehrte und schon bald kehrten sie zurück - einen schwankenden Menschen in ihrer Mitte, den sie mehr herbei schleiften, als das er ging.
Kapitel V
Der Dúnadan blickte auf, als die Orks mit einem Male zurückwichen. Mit Verwunderung vernahm er ihre heiseren Stimmen, die nun voller Angst waren, und selbst die größten und kräftigsten unter diesen Kreaturen machten sich klein und winselten beinahe wie geschlagene Hunde.
Der Mensch stand unsicher dort und nun allein, seine Augen suchten im Zwielicht des Abends nach etwas Vertrautem, das ihm Kraft geben konnte, und endlich sah er den Turm - ein finsterer Schatten vor dem Himmel, an dem sich dicke Wolken ballten, und mit Entsetzen sah er, dass der Turm kein Licht mehr aussandte, so als sei es verschlungen worden von der Verderbtheit, die die Stadt heimgesucht hatte.
Tränen traten dem Dúnadan in die Augen und er sank auf die Knie nieder. Nichts wünschte er sich mehr, als dass auch ihn der Tod ereilen möge, damit Verzweiflung und Trauer sein Herz nicht weiter quälten, denn alle, die er gekannt und geliebt hatte waren erschlagen und die Stadt erzitterte unter dem Würgegriff des Bösen.
Doch seine Stunde war noch nicht gekommen und er wurde auserwählt zu leben.
Ein kühler Hauch streifte ihn und ließ ihn erschauern, das Rascheln eines schweren Gewandes näherte sich, und dann spürte er die Berührung einer eisigen Hand auf seiner Stirn, und so kalt war sie, dass sie wie Feuer brannte, und der Mensch unterdrückte einen Schrei. Mit einem Male durchströmte ihn eine große Kraft und seine Wunden schlossen sich und die zerbrochenen Knochen in seinem Arm heilten auf wundersame Weise und die Rippen fügten sich wieder zusammen. Keuchend fiel der Mann zu Boden und er wand sich, bis ihn der unheilige Zauber verließ, sein Mund war geöffnet zu einem stummen Klagelaut und seine Augen sahen für einen Moment in die Schattenwelt.
Niemals mehr konnte ein Sterblicher sich rühmen, die Berührung eines Ringgeistes gefühlt zu haben, ohne an Körper und Geist Schaden zu nehmen und am Grauen zu zerbrechen. Und dieser eine Mensch vergaß es nie wieder und er nahm die Angst mit in sein Grab nach einem ungewöhnlich langen Leben, dem aber alles Glück versagt geblieben war, denn andere flohen ihn seiner Düsterkeit und Verzweiflung wegen, und mit Furcht sahen sie das feurige Mal auf seiner Stirn, das niemals verging.
"Geh!", flüsterte die Stimme des Herrn der Nazgûl, "und berichte allen, die Ohren haben zu hören, dass nun ich der Fürst dieser Feste bin und sie soll von heute an den Namen 'Minas Morgul' tragen. Wehe euch Sterblichen, wenn ihr jemals wieder einen Fuß in diese Stadt zu setzen wagt! Der Tod soll euer Schicksal sein und wenn er euch ereilt, wisset, dass es ein schlimmeres Los gibt."
Mit diesen Worten wandte er sich ab und schritt zurück in den Turm zu seinen acht Gefährten, und sie machten aus dem Turm einen verderbten Ort und aus der Stadt einen verfluchten - eine Wohnstätte für das Böse.
~~ *** ~~
Der zitternde Mensch raffte sich auf und stolperte fort, begleitet von dem Gelächter der widerwärtigen Orks, die nun, da ihr Herr fort war, ihre alte Bosheit zurückerlangt hatten und dem Mann ein spöttisches Geleit gaben, mit Fackeln in den Händen, auf das er genau sehe, wohin er ging. Aber ihm wäre die stockfinstere Nacht lieber gewesen, denn ihr dunkler Schleier hätte verhüllt, was seine Augen jetzt zu sehen gezwungen waren.
Die Erschlagenen lagen in den Gassen und ihr Blut - nun geronnen und kalt - war in langen, feinen Rinnsalen durch die Stadt gesickert und dann durch das große Tor und über die breite Brücke und über die Straße, die sich an den Fels schmiegte und hinab führte in das Tal, und eine dunkle Spur zeugte von seinem grausigen Weg.
Ganz dort unten war der Fluss in seinem ausgewaschenen Bett, dessen dunkles Wasser zum Grab vieler Krieger wurde - denn die Toten der Schlacht um Minas Ithil wurden nun von den Zinnen der Feste geworfen, und im Tod gab es keinen Unterschied mehr zwischen Orks und Menschen; sie alle wurden von den Fluten verschlungen, die zu toben begonnen hatten, als könnten sie es nicht erwarten zerbrochene Leiber mit sich zu reißen. Und bald schon sollten im klaren Wasser des Flusses unzählige Gebeine glitzern auf dem sandigen Grund und Zeugnis von Tod und Sterben geben.
Endlich kam das Tor in Sicht und der Dúnadan hastete hinaus auf die Zugbrücke und musste die Orks und ihre geifernden Münder und gelben Augen nicht mehr ertragen, denn sie blieben zurück und ließen ihn gehen, schmähten ihn mit groben Worten und verschwanden dann in der Dunkelheit.
Mit Grausen warf der Mensch noch einen letzten Blick zurück.
Kein Mond schien und auch keine Sterne, denn der Himmel war dunkel von tief hängenden Wolken und es begannen schwere Tropfen zu fallen, so als weine eine unbekannte Gottheit über das Schicksal der Menschen Minas Ithils.
Die Feste leuchtete wie eh und je, nur der Turm war schwarz, und auch der Fluss ohne Namen - bald sollte er Morgulduin heißen - glühte jetzt schwach ...
Nun aber war dieses Licht ein Licht der Toten, blass und kraftlos und allein sein Anblick machte das Herz schwer und den Geist krank. Das bleiche Licht waberte umher, wie auf der Suche nach etwas, das es verschlingen und verderben könne.
Der Dúnadan wich zurück vor dieser Erscheinung und dann blickte er auf und seine Augen sahen mit Entsetzen, dass das Licht den großen, dunklen Turm hinaufkroch, bis es seine Spitze erreicht hatte. Ein Beben lief durch das Gemäuer und dann war ein Klang zu hören, als breche der Stein und schriee auf vor Qualen - und die Spitze begann sich zu bewegen. Langsam und jetzt lautlos drehte sie sich um ihre eigene Achse, damit von ihr aus alle Lande mühelos übersehen werden konnten und sie hörte niemals auf, weder bei Tag noch bei Nacht.
Der Dúnadan war wie erstarrt ob der Entweihung der Stadt und ihrer Besitznahme durch das Böse, das lange besiegt geglaubt war. Aber wehe, eine nur zu bekannte Gestalt hatte es angenommen - und zum zweiten Male war es über Minas Ithil hereingebrochen.
Wie zum Zeichen dessen erschienen in den höchsten Fenstern des Turmes mit einem Male Banner, die vor dem bleichen Leuchten des Mauerwerks weithin zu sehen waren. Schwarz waren sie und bestickt mit Silberfäden, die einen Mond formten - aber er war nicht schön, sondern die hässliche Fratze des Todes lag auf ihm.
Zitternd floh der Mensch von diesem verfluchten Ort, der nur ihn allein unter allen seinen Gefährten, den Frauen und Kindern lebendig gehen ließ, und in seinen Gedanken erklang immerfort die Stimme des Eroberers der Feste, die ihren neuen Namen aussprach: Minas Morgul - Turm der Magie ...
Erbaut einst in großer Pracht, und leuchtend in der Nacht,
Wehr gegen das Unheil, und eine gewaltige Macht.
Minas Ithil, Du schöne Stadt.
"Turm des Mondes" wurdest Du genannt,
und im ganzen Land warst Du bekannt.
Nichts gab es, das Dir glich,
Du Strahlende in einem zauberhaften Licht!
Minas Ithil, Du gesegnete Stadt.
Niemals wandte der Mond sein Antlitz ab von Dir,
damit auf ewig das Glück sollte bleiben hier.
Doch wehe, Schlaf findet das Böse nicht,
und so kam über Dich das Gericht.
Minas Ithil, Du verlorene Stadt.
Kein Lebender hat dich jemals bezwungen,
aber die Toten, sie haben Dich niedergerungen.
Und nun bist Du Stätte ihres verderbten Tuns,
Heim ihrer schwarzen Seelen, die niemals ruhn.
Minas Ithil, Du verderbte Stadt.
"Turm der Magie" wirst Du nun genannt,
und gefürchtet bist Du im ganzen Land.
Heru 01/2003
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