Zerfleischt von Tim Curran
Rezension von Torsten Scheib
Rezension:
Amokläufe, Selbstmordattentäter, Terrorismus, Vergewaltigung, Kinderschändung – man braucht nur die Seiten der Zeitungen aufzuschlagen, um sich die Frage zu stellen, wie schmal der Grat zwischen Mensch und Tier tatsächlich ist. Ist die Spezies Homo Sapiens wirklich zu einer überlegenen, dominanten Spezies gereift – oder lauert unter der vermeintlich zivilisierten, fortgeschrittenen Oberfläche doch etwas Dunkles, Böses, Animalisches?
Viele (Horror-)Autoren haben mit dieser Thematik bereits experimentiert, zumeist aber nur besagte Oberfläche angekratzt, statt zum Kern der Sache vorzudringen. Man kann es ihnen nicht übel nehmen. Denn was erwartet den Schreiber – und letztlich auch den Leser – wenn Haut und Knochen entfernt sind und der unverhohlene Blick auf die Essenz gegeben ist? Möchte man die Wahrheit über das eigene Wesen wirklich erfahren; sich einer womöglich niederschmetternden Wahrheit stellen?
Der hierzulande noch relativ unbekannte US-Autor Tim Curran wetzt mit Zerfleischt die Messer. Und es sind verdammt viele, die zum Einsatz kommen. Bereits nach den ersten Seiten wird dem geneigten Leser vor Augen geführt, dass dieser, knapp 400 Seiten währende Alptraum nicht für Zartbesaitete geeignet ist. Oder Herzkranke, Leute mit leicht reizbaren Mägen …
Aber selbst für all jene, die sich als abgebrüht definieren, wird sich »Zerfleischt« als zäher, intensiver Brocken herausstellen; als Ritt auf der Rasierklinge.
Es beginnt passenderweise an einem Freitag, den 13. Louis Shears ist auf dem Nachhauseweg. Gemeinsam mit seiner Frau bewohnt er ein ganz normales Haus in dem ruhigen Städtchen Greenlawn im US-Bundesstaat Indiana. Eigentlich ein beschauliches Fleckchen Erde. Niedrige Verbrechensrate, saubere Luft, ordentlich getrimmte Vorgärten. Man kennt sich. Doch was Louis an diesem verhängnisvollen Tag zu sehen bekommt, entzieht sich jeder Beschreibung und sämtlichen Gesetzen der Logik. Einfach so wird ein kleiner Junge von einer Horde Pubertierender überfallen und im wahrsten Sinne des Wortes zu Brei geprügelt. So plötzlich die Attacke stattgefunden hat, so schnell sind die Angreifer wieder verschwunden. Per Handy verständigt der zutiefst entsetzte Louis die hiesige Polizei, die zwar nicht lange auf sich warten lässt, jedoch mit einer Gleichgültigkeit und Seelenkälte agiert, als würde da ein toter Hund auf dem Bürgersteig liegen und nicht der nette Junge aus der Nachbarschaft. Nicht lange, bis sich die Cops sogar Louis zuwenden, der zum Glück unbeschadet das Weite suchen kann.
Etwa zur gleichen Zeit entwickelt die eigentlich ruhige, besonnene Teenagerin Macy einen unglaublichen und in diesem Ausmaß bislang unbekannten Hass auf eine ihrer arroganten Hupfdolen-Klassenkameradinnen, der sich darauf in einem gleichermaßen jähzornigen wie brutalen Angriff entlädt. Erst allmählich wird sich Macy über das Ausmaß ihrer Tat bewusst, dessen unmenschliche Intensität ihr so gar nicht ähnelt. Der Nachhauseweg offenbart ihr jedoch, dass sie nicht allein ist. Praktisch überall in Greenlawn wird gemordet, vergewaltigt, geschlachtet; fangen die Menschen an, sich wie tollwütige Hunde zu verhalten. Wie ein Virus breitet sich eine Art Rückfall unter den Bewohnern aus, die sie zu primitiven, blutrünstigen Bestien werden lässt. Zusammen mit Louis versucht das Mädchen, dem unaussprechlichen Chaos zu entkommen …
»Brachial« ist eigentlich noch ein viel zu harmloses Wort, um »Zerfleischt« adäquat zu beschreiben. Selten hat es ein dermaßen aufwühlendes und schonungsloses Werk gegeben. Aufwühlend, weil Curran nichts bemäntelt und uns überdeutlich vor Augen führt, wie rasch jener delikate Faden reißen kann, der den Unterschied zwischen mitfühlendem, intelligentem Individuum und barbarischem Höhlenmenschen ausmacht. Schonungslos, weil sich »Zerfleischt« nicht abwendet, sondern hinschaut. Eine höchst unangenehme, dennoch notwendige Erfahrung, da womöglich nur auf diese Weise das Thema des Romans deutlich gemacht werden kann. Gottlob verliert sich Curran aber nicht in einem sinnentleerten Splatterrausch. Sein tempo- und blutreiches Werk punktet auch durch einen stets stringenten und bemerkenswerten Plot, der niemals aus den Augen verloren wird. Ebenso wenig die Intensität selbst. Sogar in den ruhigeren Augenblicken krallt sich Curran unsere Nerven, ehe er daraufhin gleich wieder den Vorschlaghammer schwingt. Völlig gleich, mit was man rechnen mag – die orkanartige Wucht von »Zerfleischt« fegt über alles hinweg. Ein gnadenloser Sturm aus Gewalt und Atavismus, ein entfesselter Leviathan aus Mord und Vergewaltigung und zugleich intensive Erfahrung und gnadenlose Zerpflückung der vermeintlichen Menschlichkeit. Nach Richard Laymon, Jack Ketchum und Konsorten ist dies die nächste Stufe, die Nummer 11 auf der 10stelligen Skala des Grauens und ganz gewiss der härteste Roman, der momentan zwischen zwei Buchdeckeln anzutreffen ist.
Fazit:
Cannibal Holocaust? Vergiss es. Salo? Ein Kaffeekränzchen. »Zerfleischt« schlägt sie alle – um Längen. Ein erbarmungsloser Bastard aus Mord, Vergewaltigung und Körpersäften, der die dunkelsten Seiten ins uns allen offen legt – ohne Kompromisse. Zügelloser, grimmiger Horror einer neuen Generation!
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