Apropos Angst: Da ist was mit der Tür
 
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Apropos Angst: Da ist was mit der Tür

Kolumne von Karin Reddemann

 

 

Ich spreche höchst ungern darüber. Wenn ich darüber spreche, stimmt es. Es macht furchtbare Angst. Immer noch. Immer. Ich sage es trotzdem. Das ist wie bei einem Kind, das nicht von seinen Alpträumen erzählen möchte, weil sie sonst wahr werden. Und das irgendwann trotzdem erzählt, weil es viel zu schwer ist, dieses Schreckliche, das sich im Kopf festgebissen hat und nach Erklärung, Trost und Erlösung wimmert, so ganz allein für sich zu behalten. Was folgt, wenn die Angst geteilt werden kann, ist diese noch viel größere Angst vor dem, was anschließend passiert.

 

Ich sage bewusst nicht: Passieren könnte. Vielleicht. Schlimmstenfalls. Weil etwas mit Sicherheit eintrifft: Diese ewige, uralte, böse Furcht vor dem Unaussprechlichen, die einen fortan begleitet und nie wieder loslässt. Weil man erzählt hat, was nicht erzählt werden darf. Weil man sich nicht an die Regeln gehalten hat. Weil man ausgesprochen hat, was jetzt unabdingbar wahr wird. In der Dunkelheit. In der Einsamkeit. Schlaflosigkeit. Im Traum, der nicht erwachen lässt.

 

Ich sehe mich als kleines Mädchen mit hüftlangem Zopf und finsterem Blick, der an der Türklinke haftet. Ich starre sie böse an, denn nur so kann ich mir einbilden, dass ich nicht ängstlich bin. Ich bin es aber. Also will ich zornig sein. Wütend auf meine Gedanken, die mir sagen, dass da jemand hinter der Tür ist und gleich langsam die Klinke hinunterdrücken wird. Die Tür ist verschlossen, ich bin allein in diesem Raum. Ich könnte zuhause sein, in der Schule, in einem Turmzimmer, das ich nicht kenne, es würde keine Rolle spielen.

 

Ich blicke einfach nur auf diese Türklinke und rechne damit, dass sie sich bewegt. Dass da jemand oder etwas hinter der Tür, die noch im Schloss ist, seine Hand, seine Kralle, seine Klaue auf die Klinke legt und sie nach unten drückt und die Tür öffnet. Und dann sehe ich was, was ich nicht sehen will. Was du nicht sehen willst.

 

Sage seinen Namen fünfmal laut vor dem Spiegel: Candyman, Candyman … Glaubst du? Traust du dich? Kicherst du noch? Flüstere ihren Namen dreimal und warte: Bloody Mary, Bloody … Spielst du da mit? Oder bist du zu vernünftig, zu verwurzelt, zu erwachsen für den schwarzen Mann, den Boogeyman, den Babadook? Dann sag’ es doch: Candyman … Und ich verrate dir: Er, der nicht sein sollte, ist längst da. Er steht hinter der Tür. Siehst du die Klinke? Wie sie sich bewegt? Noch könnte man aufspringen, die Tür aufreißen, hinschauen. Vielleicht ist da gar nichts. Vielleicht haben unsere Mütter die Wahrheit tatsächlich gekannt.

Ich bekenne, irgendwie beruhigt zu sein, wenn jemand, dessen ureigene Farben und Falten ihre besonderen Geschichten haben wie die meinigen, es nicht sagt. Einfach nicht sagt und auch nicht begründen will, warum er das nicht macht, weil schon die Vorstellung allein, die bloße Auseinandersetzung damit ihn locken könnte. Es. Sie. Wir, die das wissen, sprechen das nicht aus. Wir schweigen, bis die Dummköpfe reden. Dann nicken wir uns zu und schreien gemeinsam.

 

Ich sehe mich als Frau mit gemalten Lippen und finsterem Blick, der an der Türklinke haftet. Ich weiß, dass ich allein bin, dass da niemand hinter der Tür sein kann, die den Wohnraum vom Schlafzimmer trennt. Ich weiß, dass ich zu alt, mag sein, zu klug für unsichtbare Bilder bin. Ich weiß auch, dass ich wieder diesen Zorn in mir habe, weil nicht so allein bin, wie ich denken möchte. Nicht so alt, wie man ist, wenn man alles verscheuchen kann. Nicht so klug, dass es mich nicht erwischen wird.

 

Ich weiß, dass da was mit der Tür ist. Dass ich mich sorgen sollte. Fürchten vermutlich. Dass ich die Tür besser weit öffnen sollte. So weit, dass da gar keine mehr ist. Dass die Klinke einfach verschwindet irgendwo an der Wand wie ein gönnerhaftes Kreuz. Nutzlos wird wie ein zerrissenes Tuch. Ungefährlich wie ein Welpe, den unschuldige Seelen streicheln dürfen. Die Tür öffnen. Alle Türen. Immer.

 

Ich sehe mich jetzt und erkenne die alte Angst in diesem Blick, der nur vorgibt, finster zu sein, weil meine Augen so dunkel sind, dass sie Märchen erzählen können. Ich blicke auf Türklinken, die mich nervös machen, die mich panisch werden lassen, weil ich immer auf der Hut sein muss.

 

Mach die Tür zu! Das darfst du mir sagen. Weil du dann bei mir sitzt und den Horror wegreden kannst. Zumindest teilen könntest du ihn mit mir. Vielleicht glaubst du auch gar nicht und lächelst, dann solltest du gehen, weil du unbewaffnet bist und in der Dunkelheit erblindest.

 

Mach die Tür zu! Das sage ich nicht zu mir, wenn niemand bei mir ist, der sein eigenes Blut riechen kann. Das wäre Leichtsinn. Köder für die Wölfe, die hinter ihr heulen.

 

Jemand verriet mir vor tausend seltsamen Jahren, dass der Sandmann Kindern, die nicht schlafen wollen, die Augen ausreißt und sie mitnimmt in sein Land der guten Nacht. Ich habe entschieden, das für ungültig zu erklären. Das ist eine Lüge. Der Sandmann kommt und liest uns mit heiserer Stimme vor, bis der Morgen graut, damit wir seine Stimme nicht vergessen. Er hat mir gesagt, dass da was mit den Türen ist. Er mich gemahnt, immer auf die Klinken zu achten. Er hat mir gedroht, obgleich es ihn gar nicht gibt. Er hat mich zur Tür gestoßen, damit ich das auch glaube. Ich bin gestolpert. Vom Boden aus habe ich es gesehen. Aber ich sage kein Wort.

 

Ich stehe nicht vor dem Spiegel und provoziere Mary. Das wäre albern. Die Hexe ist da gar nicht. Sie steht hinter der Tür.

 

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Apropos Angst


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Erstellt: 12.12.2021, zuletzt aktualisiert: 15.04.2024 09:15, 20429