Apropos Angst: Es war … und es bleibt
Kolumne von Karin Reddemann
Meine Mutter fürchtete sich auf dem Dachboden. Eine ungeheuerliche, verstörende Erkenntnis. Die große Seherin, deren Bett ich in meinen schlimmsten Nächten aufsuchte, um Trost und Rat und zu finden, hatte selbst Angst. Die tapfere Kriegerin, die meine Alpträume tötete und mich beruhigt an ihrer Seite einschlafen ließ, bewaffnet mit einem riesigen Schwert, das griffbereit zwischen uns beiden und meinem ungläubigen Vater lag, war nicht gefeit vor meinen Feinden. Schreien. Schatten. Meinem Spuk. Meinem Erschrecken, das zum Tod führen kann. So raunt man. Bis zum Tode.
Es war die grausame Zeit der Aufklärung. Bis dahin hatte ich geglaubt, sie sei eine Heldin, die keine feigen Bilder malt. Und wenn sie finstere erblickt, sie einfach wegwischt und erklärt, die seien gar nicht dagewesen. Wie Mütter das eben machen. Weil sie es können. Weil sie es müssen.
Gleichsam war es meine Zeit der eigenen Sorgen vor einer damals noch schwer zu definierenden Einbildungskraft, die mich gleichsam faszinierte als auch im höchsten Masse erschreckte. Ich lernte sie erst viele Jahre danach als eine Besonderheit zu schätzen, die einzig permanente Wachsamkeit von mir verlangte. Nicht mehr. Nicht weniger.
Meine Mutter hatte mir einen Erzählband mit vielen wundersamen Geschichten geschenkt, den ich damals sehr liebte. Und nun setzt Euch zu mir. Auf dem Cover war eine reizende alte Frau mit gerüschtem Blusenkragen, Haardutt und einer feinen kleinen Brille auf der Nase abgebildet, die in einem altmodischen, gepolsterten Lehnstuhl saß. Sie war recht rundlich, eine richtige Großmutter, so breit und weich und warm und gemütlich, wie mir schien, und sie hatte rote Apfelbäckchen und diese Augen, die man wohl als gütig bezeichnet, wenn man hübsch daherreden möchte. In ihren Händen hielt sie ein aufgeschlagenes Buch, und in Gedanken, die Kindern gehören, setzte man sich zu ihr und lauschte.
Diese gute alte Frau musste letztendlich herhalten für eine Furcht, die ich mir schuf, ohne zu wissen, dass ich sie brauchte, um mich finden zu können. Wahrer vermutlich, mich zurecht zu finden in einem Durcheinander von finsteren Ideen, die mich von der Faszination überzeugen wollten, wie wohlwollend die Angst der Phantasie zugetan ist. Einer Phantasie, die gefährlich echt ihre Existenzberechtigung fordert. Es war einer von vielen Schritten.
Auf dem Dachboden, weit hinten unter der Schräge, stand ein ausgedienter Sessel mit hölzernen Armlehnen, den irgendwann irgendwer dort hinauf getragen, abgestellt und wohl allzu gern verdrängt hatte. Er staubte vor sich hin, vielleicht stöhnte und ächzte er mit den Jahren auch wie die knarrenden Balken über ihm, die sich bemerkbar machten, wenn ein Wind wehte, der nicht hätte wehen dürfen ohne seine Geister.
Auf diesem Sessel sah ich sie sitzen, wenn ich neben meiner Mutter stand und ihr die Wäscheklammern aus dem blauen Stoffbeutel reichte, den ich gewissenhaft beaufsichtigte, um nicht nutzlos in der Gegend herumzustehen. Eine wirklich große Hilfe war das wohl nicht, ich stand da und wartete auf meinen bescheidenen Einsatz, und während ich dort stand, blickte ich zum Sessel, immer und immer wieder. Und dann saß sie da in ihrer adretten Bluse mit ihrem Dutt und ihrem Buch und winkte mir lächelnd zu. Ich hörte sie flüstern. Und nun setz dich zu mir. Ich starrte hin, kniff die Lippen zusammen, starrte erneut hin, kurz nur, länger, viel länger. Zu lange. Sie veränderte sich. Sie winkte mit knöcherner Hand. Sie lächelte nicht mehr. Sie hatte tote Augen. Sie war eine böse Frau.
Zuerst sah sie aus wie die schmutzige Haushälterin, dann plötzlich wie die hässliche Verrückte aus dem Film, den ich mir heimlich durch den Türspalt angesehen hatte, bis meine Eltern mich entdeckten und völlig aufgebracht ins Bett zurück schickten. Dort lag ich in der Dunkelheit wach und dachte an die zwei furchtbaren Gestalten und stellte mir vor, sie wären im Kinderzimmer und kämen näher und sehr nah und würden mich anschauen und sich zu mir setzen und nach mir greifen.