Das Loch (Autorin: Hiroko Oyamada)
 
Zurück zur Startseite


  Platzhalter

Das Loch von Hiroko Oyamada

Rezension von Matthias Hofmann

 

Die Welt der fantastischen Literatur ist weit. Wenn man sich in die Gruselecke begibt, so reicht dort die Spanne von sanftem, gotischem Schauer eines Horace Walpole (Das Schloss Otranto) bis zu knallhartem, abstoßendem Bizarro-Splatter eines Carlton Mellick III (Die Kannibalen von Candyland).

 

Über allem steht – natürlich – H. P. Lovecraft, der Erfinder des Cthulhu-Mythos, als einer der einflussreichsten Fantastik-Autoren des 20. Jahrhunderts. Viele lieben dieses atmosphärische Horrorerlebnis, das seine Prosa erzeugt, die nicht auf Selbstzweck setzt. Bis heute gibt es eine große Anhängerschar unter Lesern wie Schriftstellern, die versuchen, Lovecraft nachzueifern. Nun ist ein Roman erschienen, der anders als die Bücher vieler Epigonen, nicht im Fahrwasser von Lovecraft schwimmt, aber trotzdem dieses leichte Unbehagen auslöst. Ein Effekt, den der Mann aus Providence, Rhode Island, mittels seiner Werke wie kein anderer beherrschte.

 

Das Buch, das ich meine, ist Das Loch der japanischen Autorin Hiroko Oyamada. Hinter dem etwas grobkörnigen deutschen Titel verbirgt sich ein Kurzroman, eine Novelle, die wunderbar auf den Pfaden des surreal Unheimlichen wandelt.

 

Die 29-jährige Asahi »Asa« Matsuura erzählt eine Geschichte, die vielleicht typisch gewesen ist für die Rolle der Frau in Japan. Sie ordnet sich ihrem Mann unter. Ohne es zu hinterfragen. Als er beruflich versetzt wird, zieht das Paar aufs Land. Dass nebenan seine Eltern wohnen, scheint kein Problem zu sein. Eigentlich kennt sie diese nur oberflächlich. Den Schwiegervater hat sie nur ein paar Mal gesehen, da er dauernd unterwegs ist. Sie wohnen umsonst in einem Haus, das ihre Schwiegereltern normalerweise vermieten. Also kündigt sie ihren Teilzeitjob, der ihr sowieso nicht wichtig war, und tauscht das langweilige Berufsleben gegen die Eintönigkeit des Daseins als (noch) kinderlose Hausfrau auf dem Land ein. Die einzige Arbeitskollegin, die ihr etwas nahe stand, findet das traumhaft: »Du bist versorgt, kannst in aller Ruhe die Hausarbeit erledigt, Brot backen, ein bisschen im Garten arbeiten … Du hast es gut. Du hast es verdammt gut.«

 

Das trostlose neue Leben von Asa nimmt eine kuriose Wendung, als sie einen Botengang für ihre Schwiegermutter erledigt. Sie soll einen Umschlag voller Geld einzahlen, um damit eine Rechnung zu bezahlen. Die Straßen sind menschenleer. Nur die Zikaden zirpen unablässig. Sie entdeckt ein seltsames schwarzes Tier, das ein Hund oder Wolf sein könnte, fällt dabei in ein Loch und versinkt darin bist zur Brust. Nur mit Hilfe einer Dorfbewohnerin kann sie befreit werden. Zuvor ist sie von einem roten Käfer gebissen worden, eine Art, die sie davor noch nie gesehen hatte. Als sie schließlich in dem Laden ankommt, wird klar, dass sich zu wenig Bares im Umschlag befindet. Sie hat nur 50.000 Yen, statt der geforderten 74.000 Yen. Als sie den fehlenden Betrag am Bankautomat abheben will, trifft sie einen Mann, der sich als Bruder ihres Mannes ausgibt. Von einem Schwager hatte sie bis dahin noch nie etwas gehört. Er würde separat hinter dem Haus der Schwiegereltern in einen alten Geräteschuppen leben.

 

Asas Erzählung nimmt immer stärker surreale Züge an. Nicht die eines veritablen Alptraums, aber sie kann sich an vieles einfach nicht erinnern, erfährt es zum ersten Mal oder es war ihr bislang gleichgültig und sie hat es sich nicht gemerkt. Die Reaktion ihres Mannes oder der Schwiegermutter auf die Erzählungen vom undefinierbaren Tier oder dem Vorfall mit dem Loch zeichnen sich durch belangloses Interesse aus. Nach dem vermeintlichen Schwager will Asa nicht fragen, weil es ihr irgendwie peinlich ist.

 

Der Schwager ist ein sogenannter Hikikomori. Dieser Begriff steht für ein Phänomen, das ich erst nachschlagen musste. Ein Hikikomori ist ein Mensch, der sich in der Regel freiwillig in seiner Wohnung oder Zimmer einschließt und den Kontakt zur Gesellschaft auf ein Minimum reduziert. Ein typischer Hikikomori beginnt sich bereits als Schulverweigerer der Gesellschaft zu verschließen und ist dadurch stark stigmatisiert. Er steht für ein Phänomen in der japanischen Gesellschaft, das sicherlich auch in der westlichen Welt zu finden ist.

 

Durch die auf Asa eingeschränkte Perspektive und Erzählweise ist nicht klar, ob dieser Schwager wirklich echt ist. Die Grenzen zwischen Realität und alptraumhaften Elementen verwischen im Verlauf der Handlung immer stärker. Wir haben es hier der Form des »unzuverlässigen Erzählens« zu tun. Was Asa sagt, meint und erlebt, muss nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen.

 

»Das Loch« ist eine faszinierende Lektüre, die auf diverse Arten interpretiert werden kann. In erster Linie natürlich als Gesellschaftskritik an der Stellung der Frau in Japan. Aber auch als Denkanstoß für die Entfremdung des Individuums von Umfeld und Familie. Und letztlich als eine Art eine Warnung vor Entmenschlichung der Gesellschaft per se.

 

Die rund 130 Seiten des Buchs sind schnell gelesen. Es bleibt ein Zustand des Unbehagens. Eben genau jener, den Fans von leichtem, ungreifbaren Grusel mögen. Und natürlich bleiben viele Fragen und viel Raum für Spekulation.

 

Wer gerne mal einen etwas andern Schauerroman lesen will, sollte sich »Das Loch« von Hiroko Oyamada zu Gemüte führen. Alleine das japanische Setting machen die Novelle zum faszinierenden Lesestoff.

Platzhalter

Buch:

Das Loch

Original: Ana, 2014

Autorin: Hiroko Oyamada

Gebundene Ausgabe, 128 Seiten

Rowohlt Buchverlag, 18.06.2024

Übersetzung: Nora Bierich

Titelillustration: Doan Ly

 

ISBN-10: 3498004867

ISBN-13: 9783498004866

 

Erhältlich bei: Amazon

 

Kindle-ASIN: B0D3K5HSML

 

Erhältlich bei: Amazon Kindle-Edition


Platzhalter
Platzhalter
Erstellt: 07.08.2024, zuletzt aktualisiert: 07.08.2024 18:44, 23384