Der Geist der Bücher von Christoph Wortberg und Manfred Theisen
Rezension von Carsten Kuhr
Der fünfzehnjährige Ben hat es nicht einfach gehabt in seinem Leben. Bei einem Flugzeugabsturz kommen seine Eltern um, als einziger Passagier überlebt der Junge wie durch ein Wunder. Seine Tante nimmt ihn bei sich auf. Das heisst für ihn Hamburg, seiner Heimatstadt Lebewohl zu sagen, und nach New York überzusiedeln. Kein Wunder, dass sich der Junge in sich selbst zurückzieht, dass er niemanden an sich heranlässt. Schon gar nicht seine nervende Tante, die als gefeierte Schriftstellerin versucht ihm die Welt der Literatur Nahezubringen. Doch was interessieren ihn schon die staubigen Werke der Klassiker, was hat das mit dem wahren Leben zu tun?
Doch dann verschwindet seine Tante scheinbar spurlos, nur eine abgebrochene Hälfte ihres achteckigen Amuletts bleibt in Shakespears Romeo und Julia zurück, und ehe Ben es sich versieht, findet er sich selbst mitten in der Handlung um die tragische Liebe wieder. Doch dann entwickelt sich das Geschehen so ganz anders, als Shakespeare es sich ausgedacht hat. Schattenkrieger im Auftrag Gondars heften sich auf seine Fährten und wollen ihm das Oktagon entreissen. Zusammen mit Julia und Marcatio flüchtet Ben durch die Lieblingswerke seine Tante vor den Verfolgern mit ihren glühenden Augen. Durch die Welten von Moby Dick, Robinson Crusoe, das Herz der Welt reisen sie, begegnen Werther und Dr. Faust um schliesslich am Ende der Abenteuer durch Dantes Göttliche Komödie ins Reich Gondors vorzudringen ...
»Es ist wie in einem Buch, das man liest. Da sind Figuren. Man mag sie, oder man mag sie nicht. Man hasst sie, oder man verliebt sich in sie, aber sie lassen einen nie gleichgültig«, so die Autoren auf Seite 148.
Und sie haben mit dieser Aussage recht. Zunächst einmal fühlen wir mit Ben. Sein nur kurz angedeutetes Schicksal macht uns betroffen, weckt Mitleid mit dem Jungen. Zu Beginn des Buches war ich einige Male versucht dem Jungen zuzurufen, doch endlich sein Schicksal in die Hand zu nehmen, aktiver zu werden. Dabei sind die Geschehnisse, derer er sich ausgesetzt sieht natürlich nicht eben einfach zu akzeptieren. Dass er in die Welten der Bücher eindringen kann, dass er aktiv eingreifen kann und muss ist für ihn, den Literatur-Ignoranten nicht einfach zu akzeptieren.
Ist er am Anfang des Buches durch Selbstmitleid und Rückzug von allen emotionalen Bindungen geprägt, so muss er im Verlauf des Romans eben gerade entsprechende Tugenden beweisen. Er begegnet Protagonisten, die jeder auf seine Art nicht einfach sind. Mit diesen muss er interagieren, um zu überleben. Hinzu kommt die nachvollziehbar geschilderte Furcht, die ihn ob der Verfolgung durch die Schattenkrieger überkommt. Er kann gegen diese nicht antreten, nur die Flucht verspricht das eigene Überleben.
Und nicht zuletzt muss er sich seiner Gefühle bewusst werden. Seine Liebe und Dankbarkeit gegenüber seiner Tante, die ihn, den schwierigen Jungen ohne Zögern bei sich aufgenommen hat, seine wachsende Zuneigung zu Julia und die Rivalität mit dem eifersüchtigen Marcatio. Dieser Cocktail aus Emotionen lähmt ihn zunächst fast, verwirrt und plagt ihn.
Hier ist es den Autoren sehr gut gelungen den Gefühlswirrwarr Jugendlicher übertragen in ihre Handlung einzufangen.
Faszinierend auch, wie es den Beiden gelingt, die Gestalten der Weltliteratur zu neuem, eigenen Leben zu erwecken. Insbesondere die Figur des sympathisch gezeichneten Oliver Twists, aber auch der misstrauischen Robinson Crusoe haben es mir hier angetan. Allerdings übertreiben es die Autoren für meinen Geschmack ein wenig. Im letzten Drittel des Buches hüpft unser Helden-Triumvirat von einem Klassiker zum nächsten, es bleibt kaum genug Raum, um die neue Situation, die Auftretenden richtig zu beschreiben, da geht es bereits zum nächsten Aufzug.
Über dem altbekannten Grundmotiv der Kampfes eines an seiner Queste wachsenden Helden im Kampf gegen das Böse hat das Autorengespann eine faszinierende, temporeiche Handlung gepackt, die insbesondere durch die gelungene Darstellung der Emotionen des Protagonisten und die Einbeziehung klassischer Figuren in einem neuen Kontext zu überzeugen wusste, und die Lektüre zu einem etwas anderen, manchmal augenzwinkernden dann wieder anrührenden Wiedersehen mit den Werken und Helden unseres Deutschunterrichts machte.
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