Die Rückkehr des Wolfes
Autor: Mirko Thiessen
Homepage: www.mirko-thiessen.de
Band 1: Der König der Sümpfe
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ISBN 3831121184 | 277 Seiten
Band 2: Die Stadt der Drachen
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ISBN 3831125740 | 271 Seiten
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Leseprobe:
Zwei Gestalten ritten im ersten Licht der Morgensonne über einen Anger im Inneren Ring Dragonias. Das Klappern der Hufe war das einzige Geräusch in der fast vollkommenen Stille. Doch das sollte sich bald ändern: Sie näherten sich dem Tor zum Mittleren Ring, wo etwas mehr Leben herrschte. Wortlos ritten die beiden voran, und die Menschen beeilten sich, den Reitern Platz zu schaffen. Die Straße lief auf das Amin-Tor zu, wohinter der Äußere Ring begann, und dort konnte von Ruhe überhaupt keine Rede mehr sein. Die Marktschreier beherrschten das Bild der vielen Plätze, Frauen zogen quengelnde Kinder hinter sich her, Bauern aus den umliegenden Dörfern trieben ihr Vieh durch die engen Straßen. Die Reiter kamen nun langsamer voran.
Ein Kind blieb stehen und starrte sie staunend an, während die Mutter es zur Seite zu zerren versuchte. "Sieh nur, Mutter", rief es, "es ist Prinz Tolpatsch!"
Prinz Nugrinân zeigte keine erkennbare Reaktion, aber der Reiter hinter ihm warf der Mutter einen so eiskalten Blick zu, daß diese auf der Stelle ihren Korb fallen ließ und im Gesicht bleich wie ein Weißfisch wurde. Während sie noch mit den fürchterlichsten Strafen rechnete, zog auch Dagonos an ihnen vorüber. Er merkte nicht, wie die arme Frau in Tränen ausbrach und ihre Wut an dem unbedarften Kind ausließ.
Dagonos trieb sein Pferd neben den Prinzen. "Hast du gehört, was dies Gör gesagt hat", zischte er, so daß niemand mithören konnte.
Nugrinân sah ihn an. "Ja, das habe ich. Die Leute sollen nur reden!"
"Nein, so redet man nicht über den Sohn des Kaisers! Wie ist es nur möglich, daß du einen solchen Ruf hast? Nun bemühe dich wenigstens, würdevoll zu reiten! Setz dich gerade hin!"
Nugrinân versuchte, den Rücken durchzudrücken, aber dennoch machte er nach wie vor einen ziemlich verkrümmten Eindruck. Dagonos brummte etwas und ließ sich dann wieder hinter Nugrinân zurückfallen. Mißgelaunt beobachtete er die Leute, die sie beim Vorbeireiten anglotzten. Dagonos fiel ein ärmlich gekleideter Mann auf, der hinter vorgehaltener Hand zu seiner Frau tuschelte, woraufhin beide zu lachen begannen. Es ärgerte Dagonos über die Maßen, daß die Leute nicht einmal versuchten, ihren Spott zu verbergen. Anderswo hätte man sie für ihre Dreistigkeit gehängt.
Endlich erreichten sie das Devi-Tor, durch das die Massen hereinströmten, um sich sogleich auf die Hauptstraßen des Äußeren Ringes zu verteilen. In gemächlichem Schritt führten sie ihre Pferde durch die Massen von Menschen, dann galoppierten sie von der Straße abseits ins offene Land.
"Wir sollten eine ganze Weile reiten, ich möchte nicht in Sichtweite dieser Gaffer sein", sagte Dagonos.
"Ach, aber du sagtest, wir wollten nur vor die Stadt reiten."
"Das habe ich nicht gesagt. Ich sagte vor die Stadt, aber nicht nur vor die Stadt. Und vor die Stadt ist ein weiter Begriff. Ich beabsichtige, so weit nach Westen zu reiten, daß wir ins Gvulp-Land gelangen."
"Gvulp-Land? Müßten wir da nicht mindestens bis übermorgen reiten?"
"Wenn wir weiter so langsam unterwegs sind wie zur Zeit, dann vielleicht! Aber mein Lingamatis vermag etwas mehr!"
Damit stieß Dagonos dem Roß einen Stiefel in die Flanke, woraufhin es losfegte wie ein Sturmwind. Staub wirbelte hinter den Hufen auf, während Nugrinân ihm hinterherblickte und unwillig die Augen verdrehte. Dann gab auch er seinem Pferd die Sporen, duckte sich tief und kniff die Augen gegen den schneidenden Wind zusammen, während er vergeblich versuchte, zu Dagonos aufzuschließen.
Eine gute Stunde später hatte Dagonos sein Pferd zum Stehen gebracht und wartete auf Nugrinân. Endlich kam auch der Prinz und zügelte hart sein Pferd. Das Tier keuchte laut, und Schaum tropfte aus seinem Maul.
"Weißt du, Dagonos", keuchte Nugrinân, "ich finde es nicht recht, die Tiere so zu quälen."
Dagonos lachte. "Ob du das auch so sähest, wenn du um dein Leben reiten müßtest? Aber du reitest nicht allzu schlecht. Nach den Geschichten, die ich in Dragonia gehört hatte, mußte ich vermuten, du könntest dich kaum im Sattel halten."
Beschämt senkte Nugrinân den Kopf. "Diese Sache! Das ist ein Jahr her! Ich hatte vergessen, den Bauchgurt des Pferdes zu schließen."
"Darf nicht geschehen!" mahnte Dagonos. "Aber nun laß uns traben! Siehst du den Wald dort?"
Nugrinân kniff die Augen zusammen. "Es müßte der Fuchswald sein, nicht wahr?"
"Ja, das ist er!" bestätigte Dagonos anerkennend. "Und er ist einer der schönsten Orte, die man in der Umgebung Dragonias aufsuchen kann."
"Früher dachten sie, daß Elfen im Fuchswald lebten", meinte Nugrinân grinsend.
"Kein falscher Gedanke", stimmte Dagonos zu. "Ich kenne wenige Orte, die elfischer wären."
Sie tauchten in die Schatten der Bäume ein und ritten durch die Düsternis. Irgendwo rief ein Kuckuck, und ein Specht hämmerte eifrig gegen einen Baum. Man konnte bequem reiten, denn im Fuchswald gab es nur wenig Unterholz, und Grassoden bedeckten vielerorts den Boden. Schließlich gelangten sie in ein kleines Tal. Ein kleiner Bach floß lautlos zwischen den Baumriesen hindurch, und zu beiden Ufern wuchs Gras von sattem Grün. Dagonos saß ab und führte sein Pferd am Zügel. Nugrinân tat es ihm gleich. Schließlich setzten sie sich ins Gras. Nugrinân spürte den Zauber dieses Ortes und wußte sogleich, was Dagonos mit 'elfisch' gemeint hatte. Vor ihm erregte ein Spalt seine Aufmerksamkeit, der unter dem Wurzelwerk eines Baumes lag und der Eingang zu einer Höhle zu sein schien. Der Prinz betrachtete ihn lange, bis er zu dem Schluß kam, daß es sich um den Bau eines Tieres handelte.
"Wir werden doch bald umkehren, nicht wahr, Dagonos?" brach Nugrinân die Stille.
Dagonos blickte ihn grimmig an. "Nein, das habe ich nicht vor. Was meinst du, weshalb wir hergeritten sind?"
"Du hast also vor, noch weiter westwärts zu reiten?"
"Nein, nicht nötig!"
"Aber bis zum Gvulp-Land ist es noch weit."
Dagonos sprang auf. "Schluß mit dem Geschwätz! Jetzt geht es um Wichtigeres! Ich möchte wissen, wie weit deine Waffenkenntnisse gehen. Kannst du ein Schwert führen? Triffst du ein Ziel mit Pfeil und Bogen? Und wie steht es mit Wurfspießen?"
Nugrinân blickte ihn unglücklich an. "Dafür bin ich nicht geboren, Dagonos."
"Wofür denn? Um in einem dunklen, staubigen Saal zu sitzen und Bücher zu lesen?"
"Und was ist daran verkehrt?"
"Du bist der Sohn des Kaisers! Und Virbal, dein Vater, möchte, daß ich dich erziehe. Und ich denke nicht daran, meine Pflicht zu vernachlässigen und dir nicht wenigstens beizubringen, wie man ein Schwert in den Händen hält! Also los jetzt, steh auf und zieh dein Schwert!"
Nugrinân verdrehte nur die Augen. "Ich bin erschöpft von unserem Ritt. Laß mich einfach hier liegen und verschnaufen!"
"Verdammt, Nugrinân!" Dagonos verbarg mühsam seinen Zorn. "Ich erkläre es dir ein letztes Mal in Freundschaft: Du als Sohn des Herrschers hast nicht nur Freunde. Du kennst Sumroge, du weißt, was seine Spione im Schilde führen. Und du weißt, was dir blüht, wenn du plötzlich von Gvulps angegriffen wirst und dich nicht wehren kannst. Wie gefiele es dir, den Rest deines Lebens ohne Zunge zu verbringen?"
"Es gibt keine Gvulps im Fuchswald!"
"Steh auf!" brüllte Dagonos so laut, daß alle Vögel augenblicklich verstummten.
Nugrinân erhob sich träge.
"Jetzt zieh dein Schwert!"
Lustlos ergriff Nugrinân den Knauf und zog die Klinge aus der Scheide. Er hielt die Waffe schlaff in der Hand.
"So hält man kein Schwert! Nimm es so in die Hand, als wolltest du einen Feind abwehren!"
Nugrinân zuckte verzweifelt die Achseln. "Ach, Dagonos, versteh' doch, ich habe keine Lust zu so was! Mein Vater wird sicher Verständnis dafür haben. Laß uns zurückreiten, ja?"
Dagonos drehte sich um und lehnte sich gegen sein Roß, das Gesicht in den Händen vergraben. "Beim Gott des Waldes, womit habe ich das verdient?"
"Kann ich mein Schwert wieder wegstecken, Dagonos?"
Langsam drehte sich der alte Ritter nach ihm um. Müde nickte er. "Stecke es weg! Und laß uns einen Spaziergang machen!"
Überrascht ließ Nugrinân die Klinge in der Scheide verschwinden. Dann machte er sich auf, dem vorauseilenden Dagonos zu folgen. Sie sprangen über den Bach und gingen nordwärts dem jenseitigen Waldrand entgegen.
"Du bist mir doch nicht böse, Dagonos?" fragte Nugrinân.
Dagonos schritt wortlos weiter voran. Das Tal hatten sie hinter sich gelassen, und ihr Weg führte sie über Moospolster durch den lichten Fuchswald.
"Wo gehen wir eigentlich hin, Dagonos?"
Nugrinân stolperte über eine Baumwurzel, fing sich aber wieder. Fluchend verfiel er in Laufschritt, um mit Dagonos mithalten zu können.
"Was hast du bloß vor, Dagonos?" rief Nugrinân aus. "Ich meine, wenn du... oh wie furchtbar!"
Mit diesem erstickten Ausruf war Nugrinân stehengeblieben und hatte die Hand vor den Mund geschlagen. Auch Dagonos hielt inne und betrachtete seinen Schützling aufmerksam. Vor ihnen lag ein totes Tier, eine völlig entstellte Hirschkuh. Jemand oder etwas hatte sie nicht nur getötet, sondern sie auch fürchterlich zugerichtet. Der Bauch war aufgerissen und ausgehöhlt, zwei Beine waren abgetrennt und der Hals an nicht weniger als drei Stellen aufgeschlitzt. Blauglänzende Fliegen hatten sich längst auf dem Kadaver niedergelassen und genossen eine fürstliche Mahlzeit. Ihr Brummen erfüllte ganz diesen Winkel des Waldes.
"Was ist das, Dagonos?"
Wortlos kniete Dagonos neben dem toten Tier nieder. Eine Wolke von Fliegen flog mit brummendem Lärm auf, als er sich über den Kopf der Hirschkuh beugte. Mit beiden Händen griff er nach den Lippen und zog die Kiefer auseinander. Nugrinân zuckte zusammen, als er sie brechen hörte.
"Warum tust du das?"
"Sieh es dir an!" befahl Dagonos kalt.
Nugrinân näherte sich unwillig und blickte in die dunkle Höhlung des Mauls. Doch er konnte nicht entdecken, worauf Dagonos hinauswollte. Daher zuckte er bloß die Achseln.
"Die Zunge fehlt", stellte Dagonos nüchtern fest. "Sie nehmen diese Trophäe nicht nur ihren menschlichen Opfern."
Nugrinân blickte sich entsetzt nach allen Seiten um. "Gvulps", flüsterte er. "Bei Devi, laß uns hier verschwinden, Dagonos!"
Dagonos lächelte ihn an. "Es scheint doch Gvulps im Fuchswald zu geben, mein Lieber! Pech gehabt!"
Nugrinâns Knie zitterten nun so sehr, daß sie nachzugeben drohten. "Oh, bitte, Dagonos, ich habe solche Angst!" Plötzlich knackte hinter ihm ein Ast. Mit einem erstickten Schrei dreht Nugrinân sich um, um eine Amsel aus dem Gebüsch auffliegen zu sehen.
Dagonos, der entschieden hatte, sein Spiel lang genug gespielt zu haben, legte dem Prinzen die Hand auf die Schulter. "Nun beruhige dich schon! Dieser Hirsch ist schon seit zwei Tagen tot. Es sind keine Gvulps in der Nähe. Hörst du nicht die Vögel singen?"
Sie beide schwiegen und lauschten eine Weile dem Konzert von Zaunkönigen, Wacholderdrosseln und Trauerschnäppern. Alles schien friedlich zu sein, und doch lag dort im Laub dieser Kadaver, der diese Ruhe Lügen strafte.
"Die Vögel", erläuterte Dagonos, "würden nie singen, wenn Gvulps in der Nähe wären. Kein Vogel hat auch nur einen Mucks von sich gegeben, als die Bestien diesem armen Tier auflauerten."
"Die Pferde! Wir haben die Pferde alleine zurückgelassen!"
Dagonos schüttelte den Kopf. "Es ist hellichter Tag, Nugrinân! Die Gvulps hassen das Licht! Sie sind Geschöpfe der Nacht! Am Tage stecken sie in ihren Behausungen und verlassen sie nur, wenn man sich ihnen nähert. Alle acht Götter, du weißt wirklich wenig über sie."
Nugrinân setzte sich und atmete einige Male tief durch. Dann sah er zu Dagonos auf. "Was machen wir jetzt?"
"Zuerst einmal weg von diesem Gestank!"
Nugrinân nickte und beeilte sich, Dagonos zu folgen, nicht ohne sich noch einmal zu der Tierleiche umzudrehen. Die Vögel sangen weiter, und Nugrinân dankte ihnen dafür und wünschte sich nur, sie würden heute niemals aufhören.
Dagonos war stehengeblieben. Er blickte sich kurz um, dann hob er kurz entschlossen einen Ast auf, etwa so lang und dick wie der Arm eines Menschen. "Den nimmst du in die Hand, Nugrinân! Stelle dir vor, er sei dein Schwert! Und noch eins: Ein Wort der Widerrede nur, und ich reite mit beiden Pferden zurück und lasse dich für eine Nacht im Fuchswald allein, verstanden?"
"Das würdest du ohnehin nicht tun."
"Möchtest du es darauf ankommen lassen?"
"Nein! Aber ich tue jetzt, was du willst, auch ohne daß du mir drohst."
Dagonos nickte befriedigt und zwang sich sogar zu einem Lächeln, obwohl er Nugrinân nach wie vor am liebsten gepackt und angeschrien hätte.
"Wir fangen mit der einfachsten Voraussetzung an", erklärte Dagonos. "Nehmen wir an, du gehst durch den Wald und wirst von einem Gvulp angegriffen. Sicher, ein Gvulp ist eine furchterregende Erscheinung, voll gewaltiger Körperkraft; aber er stürmt nur auf dich los, versucht nicht, deinen Schlägen auszuweichen und kämpft ohne jede Geschicklichkeit. Selbst ein mittelmäßiger Schwertkämpfer sollte daher mit drei Gvulps fertig werden können."
Nugrinân nickte und betrachtete den Stock in seiner Hand. Die Vorstellung, hier im Fuchswald einem Gvulp zu begegnen, war plötzlich wieder sehr fern. Die Vögel sangen noch immer ihr trällerndes Konzert.
"Also, ich bin ein Gvulp", sagte Dagonos. "Dies ist meine Waffe." Er zog aus seinem Gürtel ein improvisiertes Bastelwerk, eine an einer Schnur befestigte Strohkugel. "Wenn du sie an den Kopf bekommst, spürst du kaum etwas, denn sie ist weich und harmlos. Aber bedenke, daß diese Kugeln bei den Gvulps aus Metall und mit Dornen besetzt sind! Ein Kopftreffer nur und du bist erledigt! Ein Treffer an einen anderen Teil des Körpers und du bist zumindest verkrüppelt! Achte also darauf, mich zu treffen, bevor ich heran bin! Beobachte, in welche Richtung ich die Kugel schleudere! Ducke dich vor ihr oder weiche ihr aus, und im gleichen Moment führe deinen Hieb!"
Dagonos nahm Anlauf. Dann rannte er auf Nugrinân zu und schwenkte die wenig bedrohlich wirkende Kugel über seinem Kopf. Nugrinân gab sich alle Mühe. Er bemerkte, wie die Waffe auf seine Hüfte zuraste, sprang zurück und versetzte Dagonos einen Stoß; doch er verfehlte ihn, und der Ritter überrannte ihn. Überrascht fand Nugrinân sich im Laub wieder.
Dagonos reichte ihm die Hand. "Zu langsam, mein Freund! Mit dieser Geschwindigkeit wirst du nicht einmal einem gelähmten Gvulp beikommen! Nochmal von vorne!"
Wieder entfernte sich Dagonos. Nugrinân kam das Ganze reichlich albern vor, wirkte Dagonos doch ganz und gar nicht wie ein Gvulp. Doch er fügte sich jetzt voll und ganz, ließ seinen Lehrer heranstürmen, bemerkte, daß die Kugel auf seinen Kopf zielte; Nugrinân duckte sich und stach sofort zu. Sein Stock fand Dagonos' Bauch, der zurücksprang. Im nächsten Augenblick machte Dagonos jedoch einen Satz nach vorne und ließ die Strohkugel in Nugrinâns Gesicht krachen. Der Prinz taumelte und hustete.
"Was soll das?" fragte Nugrinân empört. "Ich hatte dich doch getroffen!"
"Getroffen? Gestreichelt hast du mich! Glaubst du, mit einem derart kläglichen Hieb den Panzer eines Gvulps auch nur anritzen zu können?"
"Das ist doch etwas anderes", verteidigte Nugrinân sich. "Wir üben schließlich nur. Willst du, daß ich dich verletze?"
"So leicht wirst du mich nicht verletzen, mein Freund! Zeige etwas von deiner Stoßkraft! Zieh dein richtiges Schwert!"
Nugrinân glotzte ihn einige Zeit lang verständnislos an, dann tat er wie ihm geheißen. "Und jetzt?" fragte er.
"Übe dich an jenem Baum! Stoße die Klinge hinein! Laß die Rinde in alle Richtungen fetzen!"
Nugrinân betrachtete den Baum. Dann wechselte er den Griff und packte den Knauf wie ein Schlachtermesser, um mit aller Kraft den Stamm zu treffen. Die Spitze drang in das Holz ein, und Nugrinân unterdrückte einen Schmerzensruf, als seine Hand gegen das Stichblatt schlug.
Dagonos betrachtete den mäßigen Erfolg. "Hm! Nicht schlecht, immerhin wirst du so den Panzer durchdringen. Aber wird es reichen, ins Fleisch vorzustoßen? Was dein kleines Mißgeschick betrifft: Wenn du zu Schweißhänden neigst, dann ist es anzuraten, entweder die Hände oder den Knauf mit Stoffstreifen zu umwickeln. Es ist unangenehm, in einem Kampf abzurutschen. Und der Handwechsel sollte auch ein wenig schneller gehen, allzuviel Zeit wirst du im Ernstfalle nicht haben."
Ohne zu zögern griff Nugrinân erneut das Schwert. Dagonos half ihm, die richtige Art zu greifen zu finden. Er spreizte Nugrinâns Finger und ließ ihn dann erneut zuschlagen. Diesmal drang der Hieb wesentlich tiefer ein.
Dann tauschte der Prinz sein Schwert wieder gegen den Ast ein. Sie übten den Kampf Gvulp gegen Mann den ganzen Nachmittag, und Dagonos bemerkte einige Erfolge. Zuletzt zeigte der Ritter ihm, wie man schnell und in einer fließenden Bewegung den Griff wechselte, von der Verteidigungshaltung zum Zuschlagen und umgekehrt. Endlich nickte er zufrieden.
"Nun laß uns gehen!" schlug er vor.
Nugrinân, der zum Umfallen müde war, steckte sein Schwert weg und war überglücklich, bis er bemerkte, daß sich Dagonos nordwärts wandte.
"Gehen wir denn immer noch nicht zurück zu den Pferden?" fragte er.
"Doch, bald! Aber ich habe noch einen Auftrag zu erledigen; einen Auftrag, bei dem du mir behilflich sein könntest!"
"Was für ein Auftrag!"
Ohne weitere Erklärungen setzte Dagonos seinen Weg fort. Sie erkletterten einen baumbewachsenen Hügel. Dort nahmen die Bäume ein Ende, der Wald grenzte an die endlose Steppe. Die beiden Männer blieben am Waldrand stehen und überblickten die Ebene vor ihnen, die hinter einem abschüssigen Hang begann.
"Was ist das?" fragte Nugrinân.
Unten am Hang befanden sich zwei eigenartige Gebilde. Sie sahen aus wie gewaltige Haufen aus Stoffen und Kleidern. Doch sie flatterten im Wind, was darauf hindeutete, daß sie innen hohl waren. Es waren graue Felle, die vor Schmutz starrten und die Außenhülle dieser halbkugelförmigen Gegenstände bildeten. Nugrinân wurde sehr unwohl zumute.
"Wie ich es mir gedacht habe!" sagte Dagonos.
"Was hast du dir gedacht?" fragte Nugrinân.
Dagonos legte einen Finger auf die Lippen. "Ruhig jetzt! Das sind Bewohner, die wir in diesem Land nicht haben wollen, und schon gar nicht so dicht bei Dragonia!"
"Gvulps?" flüsterte Nugrinân.
"Sie kommen nur selten so weit ostwärts. Diese sind entweder sehr mutig oder sehr dumm."
"Du willst dich doch nicht etwa mit ihnen anlegen?"
"Ich beabsichtige nicht, sie noch einen weiteren Tag hier zu dulden."
Mit diesen Worten stand Dagonos auf und schickte sich an, den Hügel hinabzugehen. "Kommst du, Nugrinân?" fragte er.
Doch der Prinz war totenblaß und hörte den Ritter überhaupt nicht. Dagonos zuckte die Achseln. "Vielleicht ist es dafür wirklich noch ein bißchen zu früh", meinte er.
Plötzlich hielt Dagonos inne. Er hob den Kopf und horchte angestrengt. Ein neues Geräusch war hinzugekommen. "Was ist das?" flüsterte er.
"Was ist los?" wimmerte Nugrinân, der aussah, als wollte er auf der Stelle vor Angst sterben.
"Still!" Dagonos drehte sich nach dem Wald um. Das Geräusch schwoll an. Es erfüllte die Düsternis hinter ihnen.
"Hufe!" rief Dagonos aus. "Aber es sind keine Gvulp-Pferde, soviel höre ich. Verdammt, wir sind gefangen zwischen Hammer und Amboß. Laß uns hier vom Waldrand verschwinden, Nugrinân!"
Der alte Ritter bemerkte, daß der Prinz ihn nicht gehört hatte. "Nugrinân!" zischte er noch einmal, ergriff seinen Arm und zerrte ihn mit sich. Zusammen rannten sie den Hügel hinab. Hangabwärts flatterten die Gvulp-Häuser im Wind. Immer wieder drehte sich Dagonos um, doch noch waren die geheimnisvollen Reiter nicht zu sehen.
Nugrinân schrie plötzlich wie von Sinnen. Im Rund eines der Kugelhäuser hatte sich etwas wie eine Zeltklappe aufgetan. Heraus zwängte sich ein Alptraumwesen, wie Nugrinân es noch nie erblickt hatte: fett und massig, am ganzen Körper mit grauen Schuppen bedeckt. Bösartige schwarze Augen glitzerten sie an. In einer Pranke hielt der Gvulp eine eiserne und stachelbewehrte Kugel an einer Kette. Hinter ihm folgte ein weiterer Gvulp, und ebenso aus dem benachbarten Zelt. Nugrinân warf sich auf die Erde, während Dagonos unschlüssig war, nach welcher Richtung er sich nun wenden sollte.
Da aber preschten die Reiter aus dem Fuchswald und hielten inne. Es waren ihrer neun, und sie trugen Helme und Schilde und hielten Schwerter und Schilde gezückt. Einige Zeit sahen sie auf die Szenerie unter ihnen herab, dann lachte ihr Anführer. Unter seinem Helm quoll langes blondes Haar hervor.
"Männer!" brüllte der Anführer. "Tötet sie!"
Und damit stürmten die neun Reiter hangabwärts. Dagonos hob sein Schwert, um sich aussichtslos zu verteidigen, doch die Pferde donnerten links und rechts an ihm vorbei. Eines der Rösser sprang mit einem Satz über Nugrinân hinweg, und sie alle galoppierten talwärts. Zwei der Gvulps erwarteten sie, schwangen ihre Gvulp-Sterne, der dritte aber hatte die Flucht ergriffen. Die Reiter teilten sich. Der Anführer nahm sich den kräftigsten der Gvulps vor, ließ einen Schlag der Metallkugel gegen seinen Schild krachen und durchbohrte dem Ungeheuer sodann die Kehle. Drei andere umringten den zweiten der wehrbereiten Gvulps, aber sie spielten auf grausame Weise mit ihm, töteten ihn absichtlich nicht, sondern umritten ihn nur und fügten ihm immer schwerere Verletzungen zu, bis die Bestie vor Erschöpfung zusammenbrach. Die fünf übrigen Reiter hatten die Verfolgung des Fliehenden übernommen. Sie holten ihn schnell ein und metzelten ihn nieder.
Nugrinân betrachtete das Schauspiel wie betäubt, Dagonos aber, der zuerst höchst beunruhigt gewesen war, spürte einen heißen Zorn in sich aufsteigen. Endlich wandten sich die Reiter ihnen zu. Ihr Anführer nahm den Helm ab und schüttelte sich das lange Haar aus dem Gesicht. Es war Maidetrin.
"Was soll dieser Auftritt, du Nichtsnutz!" brüllte Dagonos ihn an. "Was glaubst du, was wir für Ängste ausgestanden haben?"
Maidetrin lächelte. "Was meinen Bruder angeht, so war es nicht zu übersehen. Selten habe ich eine so jämmerliche Gestalt gesehen."
Auch die fünf restlichen Reiter kehrten nun zurück. Einer von ihnen hielt den Kopf des Gvulps auf seinem Schwert aufgespießt. Er lachte grölend und schwang die Trophäe durch die Luft.
"Verdammt!" rief Dagonos. "Ihr seid nicht besser als Gvulps selber, die mit ihrer Beute spielen!"
Doch die neun Reiter waren dabei, Nugrinân zu umringen, der noch immer im Gras hockte. Sein Gesicht war von Tränen überströmt.
"Laßt ihn!" forderte Dagonos, aber Maidetrin und seine Freunde hörten ihn nicht.
"Du solltest dich schämen", fuhr Maidetrin seinen Bruder an, "für das Schauspiel, das du hier eben geboten hast. Ich verachte dich, du Angsthase."
"Geh fort, Maidetrin!" bat Nugrinân. "Bitte!"
"Bitte!" ahmte einer der neun Reiter nach. Sie alle lachten ein grölendes Jungmännerlachen.
Derjenige, der den Gvulp-Kopf auf sein Schwert gespießt hatte, ritt in die Mitte des Rings vor und stieß seine Trophäe dreimal auf Nugrinâns Gesicht zu. Jedesmal zuckte der Prinz zurück, und jedesmal folgte ein lauteres Lachen.
Dagonos drängte sich wütend in die Mitte der Reiter und half Nugrinân auf. "Unfertige Knaben seid ihr!" schrie er den Umstehenden ins Gesicht. "So wenig ritterlich wie Bauern! Dein Benehmen ist eine Schande, Maidetrin!"
"Nein!" unterbrach ihn ein anderer. Dagonos fuhr herum und blickte in Tinyas' häßliches Gesicht. "Nicht Maidetrin ist eine Schande! Er ist eine, die größte Schande unserer Zeit!"
Mit diesen Worten hob er sein nacktes Schwert und hielt die Klinge Nugrinâns Gesicht entgegen.
"Steck sofort dein Schwert ein!" fuhr Dagonos ihn an. "Stecke es fort, oder du wirst ein fürchterliches blaues Wunder erleben!"
Tinyas lächelte nur und wandte sein Schwert, daß es auf Dagonos wies. "Alter, seniler Greis!" stieß er aus.
"Tinyas!" ermahnte Maidetrin ihn. "Laß das!"
Tinyas nickte und ließ sein Schwert in die Scheide fallen. Sein Verhalten hatte alle in der Runde zum Schweigen gebracht.
"Das alles wird ein Nachspiel haben!" donnerte Dagonos. "Maidetrin, ich an deiner Stelle würde mich einige Zeit lang nicht in Dragonia blicken lassen!"
Maidetrin lachte nur. Mit einer Handbewegung ließ er den Kreis auflösen. "Smyrnon!" befahl er einem seiner Getreuen. "Sieh nach, ob sich etwas in den Zelten befindet, was für uns von Nutzen ist!"
"Ich?" rief der Angesprochene aus.
"Ja, du! Hast du etwa Angst?"
"Nein, Maidetrin, habe ich nicht!"
Er entfernte sich, um in den Zelten nachzusehen.
"Was erhofft ihr dort zu finden?" fragte Dagonos, noch immer rot vor Zorn. "Seid ihr so tief gesunken, daß ihr Gvulp-Waffen verwenden wollt?"
Die Reiter beachteten ihn überhaupt nicht. Sie warteten, bis Smyrnon wieder aus dem Zelt hervorkam. Triumphierend hielt er ein kleines Bündel hoch. Als seine Freunde erkannten, was es war, johlten sie laut.
Es war ein kleiner Gvulp, gerade erst aus dem Ei geschlüpft. Er wehrte sich mit strampelnden Bewegungen, aber Smyrnon hielt ihn in festem Griff.
"Los!" brüllte einer der Reiter und saß ab. "Unser Spiel! Wirf ihn her!"
"Nein, laß mich!" mischte sich ein anderer ein. "Ich bin dran!"
Maidetrin lachte. "Laßt Hurnos den Fänger spielen!" bestimmte er. "Hurnos soll uns zeigen, was er kann!"
Der Reiter namens Hurnos, ein blutjunger Blondschopf aus Argolan, trat vor. "Also los!" rief er Smyrnon entgegen.
Und Smyrnon holte aus und warf dann den jungen Gvulp dem Argolaner entgegen. Blitzschnell zog Hurnos sein Schwert, und das kleine Echsenwesen landete mit einem krächzenden Schrei aufgespießt auf der Klinge.
Nugrinân wandte sich mit Übelkeit ab. Dagonos schüttelte voller Zorn den Kopf. "Es muß etwas geschehen. Sie dürfen nicht länger zusammenbleiben!"
"Männer!" brüllte Maidetrin. Seine acht Getreuen sammelten sich sofort hinter ihm. "Auf! Gehen wir!"
Sie trabten vorwärts, links und rechts an Dagonos und Nugrinân vorbei. Plötzlich beugte sich der letzte der Reiter, ein kräftiger Kerl mit lockigen, roten Haaren, von seinem Sattel und spuckte Nugrinân ins Gesicht. Ohne zu zögern sprang Dagonos auf ihn zu und riß ihn aus dem Sattel. Der Rothaarige, noch völlig benommen, fand keine Zeit, sich zu fangen, als Dagonos ihm mit aller Kraft die Faust ins Gesicht schmetterte.
"Das laß dir gesagt sein, Eireann, du bist nichts als ein Abschaum! Man sollte dich in einem Sack verschnürt nach Erid Damian zurückschicken, mit einer Botschaft, daß du untauglich bist, auch nur die billigsten Dienste für den Kaiser zu versehen!"
Maidetrin, der die Szene beobachtet hatte, lachte. "Den hast du aber hart rangenommen, Dagonos! Wage das bloß nicht bei mir! Komm schon, Eireann! Laß uns reiten!"
Eireann, dem das Blut aus beiden Nasenlöchern rann, bestieg sein Pferd. Mit ungläubiger Überraschung starrte er Dagonos noch immer an, als er mit seinen acht Freunden im Fuchswald verschwand. Auf einmal war es wieder ruhig auf der gräsernen Ebene, und vom Walde her hörte man die Vögel singen.