Der weiße Rehbock (Autor: Hanno Berg)
 
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Der weiße Rehbock

Autor: Hanno Berg

 

Der weiße Rehbock

 

 

 

I

 

„Guten Tag, kleiner Tarfos!“, sagte die alte Mida und bat den dreizehnjährigen Jungen herein, der soeben an ihrer Tür geklopft hatte.

Die alte Mida war die Dorfälteste und schon beinahe hundert Jahre alt. Sie wusste immer einen Rat, so dass jeder Dorfbewohner, egal ob jung oder alt, sie bereits irgendwann einmal um Hilfe gebeten hatte.

„Setz dich dort auf das Sofa, Junge! Ich will dir ein Glas Saft holen.“

Tarfos tat, was die alte Frau forderte. Er war der ältere der beiden Kuma- Brüder. Durch einen bösen Zauberer namens Kaukar war seine Mutter vor etwa zwei Monaten gezwungen worden, ihr Heim zu verlassen und ihm in seiner düsteren Burg auf dem Berg Nebos zu Diensten zu sein, wann immer er es wollte. Er drohte, sie andernfalls so zu verhexen, dass sie nur noch Böses täte und ihr Seelenheil verlöre. Die Jungen waren nun allein, denn der Vater lebte schon lange nicht mehr. Kaukar hatte beim Abschied gesagt, er werde ihre Mutter nur dann wieder frei geben, wenn sie ein Rätsel lösten, das er ihnen stellen werde. Tarfos und sein Bruder Mokos ertrugen die schmerzliche Trennung von ihrer Mutter nicht länger, weil sie sich kaum allein durchs Leben schlagen konnten, und so war Tarfos aufgebrochen, die alte Mida um Rat zu fragen.

Die alte Frau, die um das Elend der Familie Kuma bereits wusste, stellte dem Jungen ein Glas Kirschsaft hin und fragte: „Junge, was führt dich zu mir?“

„Ach, Mida, wir beiden kommen nicht allein zurecht! Die Mama fehlt uns so! Sag, weißt du nicht einen Weg, wie wir sie befreien können?“

„Hör zu, mein Junge!“, antwortete Mida. „Kaukar hatte sein ganzes Leben lang Zauberlehrlinge, die er in seiner Kunst unterwies. Zum Abschluss ihrer Lehre aber verlangte er von ihnen allen, dass sie sich der schwarzen Magie verschreiben und dem Teufel dienen sollten. Einige von ihnen verweigerten ihm dies. Diese ließ er in sein Zauberzimmer kommen und vor seinem Schreibtisch Platz nehmen. Dann musste ihm jeder einzelne sein Leben erzählen, und er schrieb alles darüber in ein leeres Buch. Wenn der Lehrling dann fertig war, klappte Kaukar das Buch zu. Sein Gegenüber war im selben Moment von seinem Stuhl verschwunden und wurde nie wieder gesehen. Das jeweilige Buch stellte der Zauberer anschließend in seine Bibliothek, wo man alle Bücher noch heute findet.“

„Und warum erzählst du mir diese Geschichte, Mida?“, fragte Tarfos. „Was hat sie mit meinem Anliegen zu tun?“

„Das will ich dir sagen, junger Mann,“ gab die Alte geduldig zur Antwort. „Einer der Lehrlinge, sein Name war Mik, war ein Zauberer, der es in allen Dingen mit Kaukar hätte aufnehmen können. Auch er wollte nicht dem Teufel dienen, und so ließ Kaukar ihn ebenfalls verschwinden. Wenn du ihn aber nun erlöstest und ihn um Hilfe bitten würdest, so könnte er dir mit großer Sicherheit helfen, deine Mutter zu befreien.“

„Aber wie soll ich Mik erlösen, wenn doch keiner weiß, wohin Kaukar ihn verbannt hat?“, fragte Tarfos.

„Das, mein Kleiner, weiß ich auch nicht so genau,“ entgegnete Mida. „Ich habe allerdings gehört, dass Kaukar auf jedes Buch, in das er die Lebensdaten der Verschwundenen eingetragen hat, den Namen des Erzählenden schrieb. Man muss wohl das Buch über den, den man befreien will, ganz durchlesen. Dann kann man ihn wiederfinden. So jedenfalls hat es mir vor Jahrzehnten mein Vater erzählt, zu dessen Zeit Kaukar, der niemals älter zu werden scheint, auch schon sein Unwesen trieb.“

„Aber wie kann ich das Buch über Mik bekommen, ohne von Kaukar verzaubert zu werden?“, fragte Tarfos.

„Am Fuß des Berges Nebos liegt ein kleiner Gasthof,“ erwiderte Mida. „Suche die Wirtin auf, die eine erfahrene Kräutersammlerin ist, und bitte sie um das Rabeskraut, ein Zauberkraut, das nur einmal im Jahr einen Tag lang blüht und in unserem Land nur am Fuß des Berges Nebos wächst. Von der Asche dieses Krauts gib etwas in ein Tintenfässchen und schreibe dann mit der Tinte den Namen Mik auf die erste Seite eines leeren Buches. Dann wirst du Miks Geschichte lesen können.“

„Danke, liebe Mida!“, sagte der Junge und verabschiedete sich von der alten Frau. „Vielleicht kann ich ja Mama befreien und den bösen Kaukar besiegen.“

„Ich wünsche dir alles Gute, mein Junge!“, sagte die Alte lächelnd und gab Tarfos zum Abschied die Hand.

Dann verließ der Junge eilig das Haus und lief zu seinem Bruder Mokos zurück, der zu Hause gespannt seine Rückkehr erwartete...

 

II

 

Die beiden Jungen packten einige Vorräte in eine Tasche, nahmen die Flinte ihres verstorbenen Vaters aus dem Schrank und suchten noch ein wenig Geld zusammen. Anschließend nahmen sie noch ein Buch mit gänzlich leeren Seiten, ein Fässchen Tinte und eine Schreibfeder mit. Dann spannten sie die alte Rosi, das Zugpferd, das ihrer Familie schon lange Jahre gute Dienste geleistet hatte, vor den Wagen und fuhren in Richtung auf den Berg Nebos davon. –

Zwei Tage später kamen sie an dem kleinen Gasthof an, von welchem die alte Mida gesprochen hatte. Sie sprangen vom Kutschbock herab, und während Mokos den Zügel der alten Rosi festhielt, ging Tarfos zur Tür des Hauses und betrat die Schankstube.

„Was begehrst du, junger Mann?“, fragte ihn die alte Frau, die gerade hinter dem Tresen die Gläser spülte.

„Seid Ihr die Wirtin?“, fragte Tarfos.

„Na, wer soll ich denn sonst sein, Junge?“, entgegnete die Frau.

„Ich habe eine Bitte an Euch,“ sagte Tarfos daraufhin. „Ich möchte etwas von den Kräutern kaufen, die Ihr so fleißig gesammelt habt.“

„Und welche Sorte brauchst du?“, fragte die Wirtin.

„Ich brauche das Rabeskraut,“ antwortete der Junge. „Habt Ihr etwas davon da?“

„Sicher!“, gab die Wirtin zur Antwort. „Warte einen Moment! Ich bin gleich zurück.“

Minuten später brachte sie Tarfos einen Bund Kräuter, der schon getrocknet war.

„Was bin ich Euch schuldig?“, fragte Tarfos.

„Ist schon gut!“, sagte die Wirtin.

„Außerdem wollte ich Euch um ein Quartier für die Nacht und ein gutes Abendbrot für meinen Bruder und mich bitten,“ sagte Tarfos. „Und um einen Platz im Stall und Heu für unser Pferd. Wir können auch bezahlen!“

„Kein Problem!“, sagte die Wirtin, und Tarfos holte Mokos herein, nachdem die beiden die alte Rosi im Stall untergebracht hatten.

Die Wirtin trug ihnen Brot, Butter Käse und Wurst auf und gab ihnen auch ein wenig Wein. Als sie mit dem Essen fertig waren, zeigte sie ihnen ihr Zimmer im oberen Stockwerk. Dann ließ sie die beiden allein. –

Tarfos verbrannte die Kräuter in einer Schale zu Asche und gab diese anschließend in das kleine Tintenfass, das sie mitgebracht hatten. Danach schrieb er den Namen Mik mit der Tinte auf die erste Seite des leeren Büchleins, wie es die alte Mida verlangt hatte. Im selben Moment aber war das ganze Buch mit der Geschichte beschrieben, die Mik dem bösen Zauberer Kaukar erzählt hatte...

 

 

 

III

 

„Ich werde die Geschichte des Zauberlehrlings Mik morgen in der Frühe durchlesen,“ sagte Tarfos zu seinem Bruder. „Heute ist es schon zu spät. Wir wollen erst einmal schlafen.“

Mokos nickte gähnend, zog sich aus, legte sich in sein Bett und war Sekunden später eingeschlafen. Tarfos blieb noch einen Augenblick wach und dachte an seine Mutter und daran, wie es ihr wohl im Moment ergehen mochte. Dann aber schlief auch er ein. –

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück in der Schankstube zog sich Tarfos mit dem Buch über Mik in sein Zimmer zurück und las es dort bis zum Ende durch. Es geschah jedoch nichts. Das Buch lag aufgeschlagen vor ihm auf dem Tisch, doch Mik war nirgendwo zu erblicken. Hatte ihm die alte Mida einen Bären aufgebunden?

Wütend ergriff Tarfos das Buch und warf es an die Wand. Klatschend fiel es zu Boden und klappte im selben Moment zu. Da aber stand an seiner Stelle der junge Mik lebendig vor ihm.

„Du hast mich erlöst!“, sagte er fröhlich zu Tarfos, der ihn einigermaßen verdutzt ansah. „Was kann ich für dich tun, um dir diesen Dienst zu vergelten?“

Als Tarfos sich wieder gefangen hatte, erzählte er seine Geschichte und fragte Mik, ob er ein Mittel wisse, wie seine Mutter aus den Händen Kaukars zu befreien sei.

Mik überlegte einen Augenblick angestrengt. Dann zog ein Lächeln über sein Gesicht, und er sprach: „Du und dein kleiner Bruder, ihr müsst beide vom Fleisch des weißen Rehbocks essen. Danach musst du zu Kaukar gehen und anbieten, sein Rätsel zu lösen, und dein Bruder muss sich in die Bibliothek des Allwissens in der Stadt Nauna begeben. Gemeinsam werdet ihr so das Rätsel des schwarzen Magiers lösen und eure Mutter befreien.“

„Und wo finden wir den weißen Rehbock?“, fragte Tarfos.

„Er grast jeden Tag zur zwölften Stunde auf einer Lichtung im großen Wald am Fluss Basos, ganz hier in der Nähe,“ erwiderte Mik. „Ich werde euch hinführen.“

„Dann lass uns keine Zeit verlieren!“, sagte Tarfos und verließ eilig das Zimmer. „Es ist schon fast elf Uhr!“

Mik folgte ihm in die Schankstube, wo Mokos bereits wartete. Sie zahlten ihre Zeche, verabschiedeten sich von der Wirtin, die doch einigermaßen erstaunt war, dass sich oben noch ein dritter junger Mann befunden hatte, spannten die alte Rosi vor ihren Wagen und fuhren zu dritt eilig davon...

 

 

 

IV

 

Sie fuhren zum großen Wald am Fluss Basos und hatten etwa vierzig Minuten später die Lichtung erreicht, auf welcher der weiße Rehbock zur zwölften Stunde zu grasen pflegte. Während Mokos bei Rosi und dem Wagen zurückblieb, pirschten sich Tarfos und Mik an die Lichtung heran. Tarfos übergab Mik die Flinte seines Vaters, die er mitgebracht hatte, damit dieser den Rehbock schießen konnte.

Sie mussten nicht lange warten. Bald betrat ein Rudel Rehe die Lichtung, um dort vom saftigen Gras zu fressen, das diese bot. In seiner Mitte befand sich tatsächlich ein schneeweißer junger Bock, der prüfend die Luft durch seine Nüstern einsog, um eventuell anwesende Feinde zu erschnuppern. Da der Wind aber Mik und Tarfos entgegenwehte, konnte er die beiden nicht riechen.

Mik entsicherte leise die Flinte, legte an, zielte und schoss. Während die Rehe ob des lauten Knalls in alle Himmelsrichtungen flohen, fiel der weiße Bock tödlich getroffen zu Boden. Mik und Tarfos hoben ihn auf und trugen ihn zum Wagen. Dann fuhren sie zum kleinen Gasthof am Fuß des Berges Nebos zurück. –

Als sie angekommen waren, baten sie die Wirtin, den Rehbock für sie zuzubereiten, was diese bereitwillig tat. Eine Stunde später aßen sie dann alle ein gutes Stück davon und berieten dabei, wie sie weiter verfahren wollten...

 

 

 

 

V

 

Zwei Stunden später machten sich Mik und Mokos daran, im Wagen zur Stadt Nauna zu fahren, um dort die Bibliothek des Allwissens aufzusuchen. Tarfos würde noch zwei Tage im Gasthaus warten, bis sie dort angekommen wären. Dann sollte er Kaukar in seiner Burg aufsuchen und ihn nach seinem Rätsel fragen.

Beim Abschied aber sagte Mokos: „Ich spüre nach dem Essen des Rehbocks nicht die Spur einer Veränderung. Wie nur sollen wir jetzt eher in der Lage sein, Kaukars Rätsel zu lösen?“

„Du wirst die Zauberkraft vom Fleisch des weißen Bocks schon noch erkennen,“ sagte Mik. „Warte es einfach ab!“

Dann machten sich die beiden auf den Weg nach Nauna, während Tarfos, der ebenfalls nicht wusste, wie er das Rätsel des schwarzen Magiers lösen konnte, im Gasthof wartete. -

Als Mik und Mokos Nauna erreicht hatten, suchten sie dort sofort besagte Bibliothek auf, während Tarfos um dieselbe Zeit bei Kaukar ankam und ihn nach dem Rätsel fragte, das er lösen müsse, um die Freiheit seiner Mutter zu erringen.

„Du musst in der nächsten Stunde herausfinden, wer der erste Mensch war, den der Apostel Paulus auf seiner Reise nach Korinth zum Christentum bekehrte,“ sagte Kaukar grinsend. „Solltest du aber dieses Rätsel bis dahin nicht gelöst haben, so werde ich dich in einen Hund verwandeln, und du musst meine Burg bewachen, solange ich es will. Dies ist dein Einsatz bei unserer Wette, der meine ist die Freiheit deiner Mutter.“ –

Im selben Moment aber, als Kaukar Tarfos das Rätsel stellte, wusste Mokos in der Bibliothek des Allwissens, was dieser von seinem Bruder wissen wollte. Als er Mik davon erzählte, lächelte dieser und sagte: „Das ist der Zauber des weißen Rehbocks. Haben zwei Blutsverwandte zur selben Zeit von seinem Fleisch gegessen, so weiß der eine im selben Moment, in dem dem anderen etwas in den Sinn kommt, von diesem Gedanken, auch wenn sie sich an zwei verschiedenen Orten befinden. Suche nun in dieser Bibliothek nach der Antwort auf die Frage des Kaukar, Junge! An diesem Ort wirst du sie mit Sicherheit finden!“

Mokos tat, was Mik gesagt hatte und durchsuchte die Bibliothek nach Büchern über die Reisen des Apostels Paulus. Fünfzig Minuten später hatte er ein Buch über dessen Reise nach Korinth gefunden und begann, darin zu lesen. Da stand es! Der erste Mensch, der Paulus auf dieser Reise begegnet und von ihm zum Christentum bekehrt worden war, war ein gewisser Kornon gewesen, ein Urvater des bösen Magiers Kaukar.

Mokos erzählte seinem Begleiter sofort, was er gerade erfahren hatte. Just im selben Moment aber wusste auch sein Bruder in der Burg des Bösewichts, von wem in Kaukars Rätsel die Rede gewesen war, und er nannte Kaukar den Namen.

Da tat es einen Donnerschlag, die Erde tat sich auf, und Kaukar fuhr auf der Stelle zur Hölle. Alle seine Zauberlehrlinge aber, die nicht zur schwarzen Magie übergetreten und deshalb von ihm verhext worden waren, wurden wieder zu Menschen. Auch die Mutter der beiden Jungen war nun wieder frei, und das Elend der Familie hatte ein Ende.

Mik, der gute Zauberer, bewohnte künftig die Burg des Bösewichts und ließ alle Bewohner des Landes an seinen guten Zaubereien teil haben.

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 202404261829377b2f2b29
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Erstellt: 16.06.2005, zuletzt aktualisiert: 27.09.2016 09:58, 450