Die Grenzwelt
Autor: Dirk Wonhöfer
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Leseprobe:
Das Innere von Merhos Hütte sah aus wie eine Bibliothek. Das schien ein wenig verwunderlich, denn von Außen hatte sie um einiges kleiner gewirkt. In ihr jedoch bekamen die Dimensionen eine ganz neue Definition.
Ein Eingeweihter hätte erkannt: Die Hütte glich einem guten Buch. Es bestand zwar nur aus aneinandergereihten Strichen und Tintenklecksen, doch in der Gesamtheit machten sie viel mehr aus, als eigentlich in das Buch hineinpassen dürfte. Ein guter Roman läßt einen nachdenken und sprengt auf diese Weise die räumlichen Vorstellungen. So ähnlich verhielt es sich mit der Hütte.
All das Wissen, das in ihr lagerte, wirkte sich auf die Wirklichkeit aus wie Wärme auf Quecksilber: Sie begann, sich auszudehnen.
Bücherstapel füllten die Gänge zwischen den Regalen, die wiederum ihrerseits mit Büchern aufgestockt waren. Ein unvorsichtig benutztes Streichholz hätte genügt, um das ganze Haus in wenigen Sekunden zu Asche zu verwandeln.
Deacon wagte einen Sprung über einen kleinen Haufen vergilbter Wälzer, die in seinem Weg lagen. Merho beobachtete ihn nachdenklich. Er hatte ein paar der Werke zu einem Stuhl umfunktioniert und saß vor einem der wenigen echten Möbelstücke in der gesamten Hütte, einem Tisch.
"Hast du all diese Bücher geschrieben?" staunte Deacon.
"Kein Mensch könnte das" sagte Merho. "Es sind Geschichtsbücher."
"Jedes einzelne?"
Verträumt nahm Merho einen Folianten in die Hand. Das Buch besaß einen roten Einband und war etwas weniger dick als der Durchschnitt. "Es sind Geschichtsbücher der besonderen Art" betonte der Alte. "In ihnen findest du... Geschichten von Geschichte."
"Ich verstehe nicht ganz..."
"Sieh her." Deacon setzte sich neben den Greis. Merho fuhr mit den Fingern am Rande des Einbands entlang, dann öffnete er vorsichtig die erste Seite. Deacon fühlte ein eigenartiges Ziehen und hielt die Luft an. Dort, wo er Worte auf den Seiten erwartet hatte, war nichts. Doch trotzdem war das alte Papier dicht... beschrieben...
... Bilder begannen, sich zu formen...
Elfen zogen in einer kilometerlangen Karawane durch eine Wüste. Ihre schlanken Körper trotzten der Hitze, doch man konnte sehen, wie sehr der Marsch sie anstrengte. Statt ihrer waldfarbenen Kleidung trugen sie Safran und Grau. Sie passten sich an. Der Sand knirschte unter ihren Füßen, der Geruch von Schweiß perlte über die Seite...
Deacon kniff die Augen zusammen, als Merho das Buch zuschlug.
"Es war... wie ein Traum" sagte er. "Ich konnte alles genau sehen... aber was war es?"
"Geschichte" lächelte der Alte. "Eingefangen in Büchern."
"Ist es... ein Trick?"
"Kein Trick. Und auch keine sonderbare Form von Magie." Merho rang mit sich, ob er dem Jungen sein Geheimnis anvertrauen sollte. Im Grunde genommen war es tatsächlich keine Magie, und auch keine Zauberei. Es war einfach, wenn man wußte, wie man es anzustellen hatte. Doch ebensogut konnte man behaupten, es wäre einfach, eine Schlange zu beschwören. Wer lange gelebt und genug Erfahrung darin hatte, mochte es schaffen, ohne daß ihn die Schlange biß. Es war lediglich eine Frage der Zeit.
"Ich bin ein Buchbinder" gab Merho Preis. "Es gibt nicht viele von uns. Wir teilen uns die Geschichte. Jeder von uns bindet einen bestimmten Teil."
"Du bindest Geschichte? Davon habe ich noch nie gehört. Was genau bedeutet das?"
"Ich bringe die Vergangenheit auf diese Seiten. Sobald die Gegenwart zur Vergangenheit wird, läßt sie sich einfangen. Sie existiert in diesem Sinne nicht mehr, denn sie ist schon längst geschehen. Es ist bloß noch die Erinnerung an die Vergangenheit vorhanden. Deswegen kann ich sie in einem Buch binden."
"Mußt du dafür zugegen sein?"
"Nicht allzu nah. Nicht allzu nah" murmelte der Greis. "Es reicht, wenn ich aus der Entfernung beobachten kann. Viele Schlachten wären mein Tod gewesen, hätte ich sie aus der Nähe miterleben müssen. Nein, es reicht, wenn ich mich nah genug heranbegebe... und alles von einem sicheren Hügel oder Berg aus binde..."
Eine Idee keimte in Deacons Kopf und ließ sich auf seiner Zunge nieder. "Kannst du sie umschreiben?"
"Wäre die Vergangenheit in Worte gekleidet, könnte man es vielleicht bewerkstelligen" sagte Merho. "Doch das ist sie nicht."
"Und hast du schon einmal... eingegriffen?"
Merhos Antlitz verfinsterte sich. Deacon bekam das Gefühl, ungewollt ein Gewitter heraufbeschworen zu haben.
"Keine Intervention!" sagte der Alte. "In die Geschichte darf nicht eingegriffen werden. Das ist das oberste Gesetz eines Buchbinders. Wenn wir uns nicht daran halten würden... nicht auszudenken!"
"Ich wollte nicht-" begann Deacon, doch dann las er den Titel eines der Bücher, auf denen er saß. Der Aufbau der Nar-Nar Brücke.
"Was ist dort vorgefallen?"
"Wo?"
"Beim Aufbau der Nar-Nar Brücke. Ich wußte nicht, daß es etwas wissenswertes darüber zu berichten gab. Etwas, daß sich in ein Buch zu binden lohnen würde."
Merho schenkte ihm einen abschätzigen Blick. "Nichts ist dort vorgefallen" gab er zur Antwort. "Und dann wiederum... alles."
Quälende Minuten der Stille vergingen, während Deacon sich fragte, welchen Fehler er gemacht hatte, um eine solche Antwort zu verdienen. "Du meinst..." sagte er schließlich. "Es spielt keine Rolle, ob jemand eine kleine Brücke baut oder eine Schlacht um ein mächtiges Königreich kämpft. Geschichte ist Geschichte."
Merhos Gesicht war eine Maske aus respektvoller Verblüffung und mißtrauischer Berechnung. Er nickte langsam. "Für die Geschichte ist jede Tat gleich viel wert" stimmte der Alte ihm zu. "Wir haben eine Redewendung bei uns: Für die Geschichte ist es nur Geschichte. Anderenfalls wäre es manchmal sehr, sehr schwer, die Arbeit zu erledigen, die ich verrichte. Doch du bist schnell von Begriff."
"Ich versuche, so viel wie möglich zu lernen."
"Du solltest lernen, daß Wissen auch von dir selbst kommen kann. Nicht nur die Frage ist wichtig - sondern auch, an wen du sie stellst."
"Doch das, was ich erfahren wollte, kannst nur du mir sagen."
"Die Schattenwelt..." murmelte Merho.
"Ja."
"Viele Dinge weiß man von ihr. Manches ist die Wahrheit. Vieles eine Lüge. Es kommt auf die Perspektive an. Nimm dieses Buch" Merho hielt Der Aufbau der Nar-Nar Brücke in den Händen. "War dieses Ereignis gut oder schlecht?"
"Die Nar-Nar Brücke schuf eine Verbindung zwischen den Ländern Nartien und Rohan. Sie brachte Fortschritt. Sie ist gut."
"Dann sieh, wieviele Tiere und Bäume dafür sterben mußten. War es aus ihrer Sicht auch gut?"
"Natürlich nicht, aber-"
"Aber?" Merho biß sich auf die Lippe. "Es gibt immer ein Aber. Aus jedem Blickwinkel. Das ist es, was ich dir über die Schattenwelt verraten kann."
"Ist das alles?"
"Hast du dir mehr erwartet?"
"Ich bin den ganzen Weg hier herauf gelaufen, um mir das anzuhören?" Ungeduld brodelte in Deacon wie Magma unter der Erde, bereit, sich einen Weg an die Oberfläche zu suchen. "Was ist nun mit der Schattenwelt? Man sagt, dort leben Monster! Stimmt das?"
"Aber ja."
Deacon wollte etwas erwidern, zögerte aber dann. "Böse... Monster?"
"Aber ja."
Wieder zögerte der Junge. "Aus welchem Blickwinkel betrachtet?"
"Ah" sagte Merho und lächelte. "Ah."