Die Netzhaut von Torkil Damhaug
Rezension von Wiebke
Rezension:
Ein Familienurlaub in Griechenland sollte für einen zwölfjährigen Jungen schon ein Erlebnis sein. Aber davon ist Jo meilenweit entfernt. Zwar ist er mit seiner Mutter, dem Stiefvater und zwei Geschwistern tatsächlich in das Urlaubs-paradies gereist, kann aber die Idylle nicht so richtig genießen. Denn während seine Mutter permanent trinkt und mit dem über alle Maßen unsympathischen Stiefvater von einer Bar zur anderen tingelt, muss Jo auf seine Geschwister aufpassen. Ein Urlaub, der fast in einer Katastrophe endet. Nur ein anwesender Feriengast kann das Schlimmste verhindern und Jo vor dem Freitod im Meer retten.
12 Jahre später wird in Oslo eine junge Frau vermisst. Die Psychotherapeutin Mailin Bjerke, die als Gast in eine abendlichen Talkshow geladen wurde, kommt dort nicht an. Tage später wird ihre grausam mißhandelte Leiche gefunden und während Kommissar Viken und sein Team den Fall übernehmen, beginnt auch deren Schwester Liss, Nachforschungen anzustellen. Liss, die sich in den letzten Jahren mehr oder weniger erfolgreich als Fotomodell in Amsterdam durchgeschlagen hat, kann es nicht verwinden, dass sie ihre Schwester allein in Oslo zurückließ. Sie gibt sich insgeheim die Schuld an dem, was geschehen ist und während sie mit ihren Recherchen immer tiefer in die Vergangenheit eintaucht, scheucht sie ausgerechnet den Menschen auf, der ihrer Schwester das angetan hat. Ein schwerer Fehler, den schon bald schwebt sie selbst in allerhöhster Gefahr.
„Die Netzhaut“ ist der zweite Thriller von Torkil Damhaug, der in deutscher Sprache veröffentlicht wurde und in dem der norwegische Autor erneut unter Beweis stellt, dass er das Zeug zum Schreiben hat. Nicht nur, dass er es versteht, seine umfassenden Kenntnisse auf dem Gebiet der Psychologie gekonnt in das Geschehen einzuflechten und damit der Geschichte die notwendige Tiefe zu verleihen, auch sein Schreibstil ist flüssig und weiß gut zu unterhalten. Kombiniert mit einem vielschichtigen Plot und interessanten Charakteren bietet dieser Thriller also alles, was der Leser braucht, um einige spannende Stunden verleben zu können. Doch genau an diesem Punkt scheiden sich die Gemüter. Während die einen vom subtilen Spannungsaufbau schwärmen, kommt bei den anderen nur Langeweile auf. Doch woran liegt es?
Torkil Damhaug ist einer der Autoren, der sich unheimlich viel Zeit für die Darstellung seiner Charaktere nimmt. Nicht nur, dass er sie mit all ihren Fehlern, Schwächen, aber auch ihren Vorzügen beschreibt, sondern er geht sogar soweit, den Leser eine Zeitlang an ihrem Leben teilhaben zu lassen. Eine Art zu schreiben, die sehr lebensecht erscheint, allerdings auch immer das Risiko in sich birgt, die Spannung zu drosseln. Eine Gradwanderung, die Torkil Damhaug meines Erachtens gut beherrscht, die aber viel Spielraum für Kritik offen lässt. So ist „Die Netzhaut“ ein Thriller, der die ruhigen Töne beherrscht, es allerdings auch immer wieder versteht, ordentlich zur Sache zu kommen.
Fazit:
Interessante Charaktere, ein überaus komplex aufgebauter Plot und subtile Spannung sind die Stärken des mit 544 Seiten recht umfangreichen Thrillers aus Norwegen. Ein Buch, das nicht nur unter die Haut geht, sondern es darüber hinaus versteht, gut zu unterhalten.
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