Die Pferdelords und die Barbaren des Dünenlandes (Autor: Michael H. Schenk, Die Pferdelords Bd. 3, Genre: Fantasy)
 
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Die Pferdelords und die Barbaren des Dünenlandes von Michael H. Schenk

Reihe: Die Pferdelords Bd. 3

 

Leseprobe

 

3

Die alten Lieder wussten zu berichten, dass die Menschen des Sandes einst in festen Städten lebten. In Städten mit Häusern und Mauern aus Stein. Aber es waren sehr alte Lieder, und kaum ein Angehöriger des Sandvolkes konnte sich vorstellen, dass es tatsächlich jemals so gewesen sein sollte. Seit Urzeiten schon waren ihre Heimstätten beweglich, um dem wechselnden Wüstenwind trotzen und dem Sturm weichen zu können. Die Städte des Volkes hatten keine Häuser und keine Mauern und auch keine Namen. Sie waren Heimstätten und wurden nach den Clans benannt, die sie bewohnten. Die Heimstatt des Nagerclans war typisch für die Zeltstädte des Nomadenvolkes.

Das Erste, was man von einer Heimstatt erblickte, waren die Aussichtsplattformen, die sich auf einem geschälten Pfahl erhoben. Es waren hohe und starke Pfähle, die man aus Bäumen gefertigt hatte und von denen ein jeder mit Blut bezahlt worden war, denn im Land des Sandvolkes gab es keine Bäume und schon gar keine Wälder. Man musste das kostbare Holz aus den Ländern anderer Völker holen. Aber das Sandvolk hatte nicht viel, mit dem sich handeln ließ, und so nahm es sich mit Gewalt, was es brauchte. Manchmal gelang dies ohne Blutvergießen, manchmal brachte man gegnerische Schädel mit, manchmal musste man eigene zurücklassen. Der Preis dafür – die hohen Pfähle – wurden sorgsam gepflegt und mit den Zeichen der Krieger versehen, die um sie gekämpft hatten.

Die Plattformen dienten dazu, die Annäherung eines Gegners zu erkennen, doch der Hauptfeind des Sandvolkes bewegte sich nicht auf der Erde, sondern darunter.

Sandwürmer sahen nicht besonders gut und das brauchten sie auch nicht, da sie im Wüstensand tief unter der Oberfläche lebten und nur nach oben kamen, wenn sie etwas Fressbares entdeckt hatten. Sie nahmen Vibrationen im Boden noch über große Entfernungen wahr, wobei sie besonders auf gleichförmige Erschütterungen reagierten, wie Lebewesen sie bei der Fortbewegung erzeugten. Ein Angehöriger des Sandvolkes lernte daher früh, seine Füße in veränderlichem Rhythmus aufzusetzen.

Aber auch die Sandwürmer riefen Vibrationen hervor, wenn sie sich unter der Oberfläche hindurchwühlten, und genau das machte man sich bei den Plattformen zunutze. Denn auf ihnen erhoben sich Stangen mit dünnen Metallplatten, die zu schwingen und zu klirren begannen, sobald sich ein Sandwurm näherte. Und da die Plattformen mit Bedacht immer viele Längen vor der Heimstatt errichtet wurden, hatten deren Bewohner im Falle eines Alarms genug Zeit, um sich auf den Wurm vorzubereiten.

Es gab nicht viel, was ein Angehöriger des Sandvolkes gegen einen Sandwurm aufzubieten hatte. Da war zum einen die Schnelligkeit seiner Füße und zum anderen das Gift des Sandstechers, das allerdings eine bestimmte Stelle im gewaltigen Maul des Wurms erreichen musste. Es war nicht leicht, einen vergifteten Pfeilstachel in diese Stelle hineinzutreiben, und so versuchte das Sandvolk lieber, dem Wurm rechtzeitig zu weichen oder seine Aufmerksamkeit erst gar nicht zu erregen.

Ein Sandwurm verfügte neben seinem Vibrationssinn über die Fähigkeit, eine Wärmequelle an der Oberfläche auszumachen, und so entfachte kein Angehöriger des Sandvolkes ein Feuer direkt am Boden. Aus diesem Grund erhoben sich auch die Wohnstätten der Clans auf Pfählen über dem Wüstenboden. Das dazu benötigte Holz war jedoch einfacher zu erhalten, denn die verwendeten Pfähle durften kürzer sein, und für die Bodenplattformen der Häuser genügten sogar sorgsam gebundene Knüppelhölzer. Die Feuer wurden stets klein gehalten, doch konnte man nicht ganz auf sie verzichten, denn man musste kochen und brauchte in den eisigen Wüstennächten eine Wärmequelle. Als Brennstoff wurden die reichlich vorhandenen und schnell nachwachsenden Stachelpflanzen genutzt.

Aus deren Fasern wurden auch die halbkugelförmigen Zelte gefertigt, die auf den Pfahlplattformen standen und als Behausung für die Menschen dienten. Die Fasern wurden von den Frauen zugeschnitten, sorgfältig weich gekaut und danach zu dicken Strängen geflochten, wodurch die Zelte überraschend dicht waren und gut vor Wind und Sand schützten, sofern man den Eingang sorgsam mit einem Fell oder einer Lederhaut bedeckte. Das bei einem Regensturm herabstürzende Wasser ließ die getrockneten Pflanzenfasern ungeheuer schnell aufquellen, sodass sie das Zeltdach zuverlässig abdichteten.

In der Mitte jedes Hauszeltes erhob sich eine Steinplatte, auf der gekocht und geheizt wurde und über der sich ein Loch im Zeltdach befand, durch das Rauch und Gerüche abziehen konnten. Manchmal löschte ein besonders starker Regen das Feuer, doch man störte sich nicht daran, denn in der Wüste war Regenwasser kostbarer als Glut.

Der Regen brachte viel mehr Wasser als das Fleisch der Stachelpflanzen. Wenn er fiel, sammelten die Menschen des Sandvolkes das Nass in gebrannten Gefäßen und traten oft unbekleidet aus ihren Pfahlzelten heraus, um die seltene Erfrischung zu genießen. Doch mitunter schwoll der Regen zum Regensturm an, und das Wasser wurde zur Gefahr. Denn die riesigen Tropfen schlugen mit großer Wucht vom Himmel herunter, sodass der trockene Boden sie nicht schnell genug aufnehmen konnte. Pfützen bildeten sich, wuchsen zusammen und bedrohten das Leben der Menschen, wenn sie nicht rechtzeitig die hohen Pfahlzelte erreichten.

Die Pfahlbauten waren in konzentrischen Kreisen angeordnet. Die äußeren Ringe waren den Zelten der Krieger vorbehalten, gefolgt von denen der Nicht-Krieger. Die Eingänge wiesen ins Kreisäußere, sodass ein Angreifer notfalls vom Zelt aus bekämpft werden konnte. Der innere Zeltring war den Frauen und Kindern vorbehalten, die so am besten geschützt waren. Auch die gebundenen Männer und Frauen mussten diese Trennung einhalten, denn Tradition und Notwendigkeit verlangten es so. Wenn sie den hitzigen Drang verspürten, einander zu bedecken, geschah dies in einem der dicht an dicht stehenden Frauenzelte. Nicht selten gaben die zuhörenden Frauen später ihre Kommentare ab, worüber nicht jeder der Krieger glücklich war.

In der Mitte der Heimstatt schließlich stand das Schädelhaus. Es wurde von einem Geflecht aus Pfählen gestützt, denn es war ein großes Haus, in dem der Kriegerrat zusammentrat und in dem die Trophäen seiner Streifzüge aufbewahrt wurden. Die Eingänge wiesen in die vier Himmelsrichtungen, und die Wände dazwischen waren mit den genommenen Schädeln bedeckt. Viele Krieger traten in dem Rat zusammen, und es gab viele genommene Schädel, daher hob sich die Kuppel des Schädelhauses weit über die anderen Pfahlzelte empor.

Musste die Heimstatt verlegt werden, so wurden Pfahlzelte und Inventar auf Schleppen aus Stachelpflanzenfasern verstaut, die von den Frauen gezogen wurden, während die Kinder um sie herumtollten und die Krieger sie beschützten.

Obgleich die Gebäude der Heimstatt aus Holz und Stachelpflanzen bestanden, waren sie keineswegs schmucklos. Die Frauen nutzten die farbigen Mineralien, die sie in Sand oder Gestein fanden, zerdrückten sie und mischten sie mit Wasser zu einem Brei, mit dem sie das Holz oder die Pflanzenfasern färbten. So zeigten sich die Gebäude der Heimstätten in verschiedenen Rot-, Braun- und Grüntönen, die sich auch in der Kleidung der Menschen wiederfanden. Eine gelbe Färbung hingegen war selten und blieb den Clanführern sowie den schädelreichsten Kriegern vorbehalten.

Je näher man dem Zentrum der Heimstatt kam, desto intensiver wurde der Lärm, den schwatzende Frauen und spielende Kinder verursachten. Natürlich trugen auch die Krieger hierzu bei, aber sie bezeichneten ihr Schwatzen würdevoll als Erfahrungsaustausch. Dazwischen mischten sich das Grunzen der Sandschnüffler und die zahlreichen Geräusche der täglichen Verrichtungen.

Die Frauen waren es, die unter dem Schutz einzelner Krieger in die Stachelpflanzenfelder gingen, mit ihren dicken Lederhandschuhen und Langmessern die Stacheln brachen und die Pflanzen fällten, um sie in die Heimstatt zu bringen. Die Krieger beteiligten sich an der Arbeit, indem sie aufmerksam in die Umgebung spähten, gelegentlich etwas Pflanzenfleisch naschten und die Stacheln danach begutachteten, welche von ihnen sich als Stachelpfeile eignen würden.

Die Kinder kümmerten sich indes um die Sandschnüffler. Sie hörten dem Grunzen und Quieken der haarlosen Geschöpfe zu, die mit ihren Schnauzen schnüffelten und den Sand nach Insekten durchwühlten. Gelegentlich schwoll das Quieken zu einem Brüllen an, wenn eines der Kinder an dem seltsam geringelten Schwanz eines der Sandschnüffler zerrte. Die Tiere waren klein und lebhaft und dienten als Fleischlieferanten des Sandvolkes, wenn man einmal von gelegentlich erlegten Fleckbeißern absah. Zudem waren sie genügsam und vermehrten sich rasch.

Das galt zwar auch für die Fleckbeißer, allerdings war es nicht leicht, einen von ihnen zu erlegen. Obwohl nur halb so groß wie ein ausgewachsener Krieger, war der Fleckbeißer ein wehrhaftes und schnelles Tier. Seine Vorderläufe waren deutlich höher als seine Hinterläufe, wodurch der Räuber den Eindruck vermittelte, als würde er sich nicht zwischen Sitzen und Stehen entscheiden können. Doch das täuschte, denn er war ungeheuer schnell, und der lang gestreckte Schädel mit den großen Fangzähnen machte ihn zu einem gefährlichen Gegner. Zudem jagte der Fleckbeißer im Rudel, und ein Krieger konnte sicher sein, dass er, sobald er einen Fleckbeißer sah, gleich einem weiteren Dutzend der Biester begegnen würde. Ein einzelner Jäger hatte nur dann eine Chance, wenn er auf ein altes Tier stieß, das von seinem Rudel ausgestoßen worden war. Dann entschied allein die Schnelligkeit, wer am Ende wessen Fleisch genoss. Dasjenige der Fleckbeißer war zäh und sehnig, stellte aber dennoch eine willkommene Abwechslung zu dem der Sandschnüffler dar, denn es hatte einen ganz eigenen, wenngleich sehr scharfen Geschmack.

Heglen-Tur war ein Jäger, aber noch kein Krieger, weshalb es ihm bislang verwehrt war, sich Heglen-Turik zu nennen. Er hatte noch keinen Schädel vom Feind genommen, was den jungen Mann betrübte. Ein genommener Schädel brachte Ehre und das Recht, eine Frau zu besteigen, und so sehnte Heglen-Tur den Tag herbei, an dem er Ruhm ernten und das Besteigungsrecht erhalten würde.

Heglen-Tur war nun fünfzehn Sommersonnen alt, und seine Bewährung als Krieger stand kurz bevor. Der Rat der Clankrieger würde heute darüber befinden, wann Heglen-Tur die erfahrenen Krieger auf einem Streifzug begleiten durfte, damit er seinen ersten Schädel nehmen konnte. Einer jener Streifzüge, die nach Norden, Nordosten oder Osten führten, wo jeweils eigene Gefahren lauerten, die aber zugleich die Möglichkeit zur Schädelnahme und damit zur Erlangung großen Ruhmes boten. Zwar wurden die Streifzüge unternommen, um das kostbare Holz zu erlangen, doch Heglen-Tur empfand das Nehmen eines Schädels als weitaus verlockender. Allerdings würde sich niemand freiwillig seinen Schädel lösen lassen.

Im Norden befanden sich die ausgedehnten Waldgebiete des elfischen Volkes, und Heglen-Tur hoffte insgeheim, dass ihn sein erster Streifzug nicht zu ihnen führen würde, denn die Elfen waren ausgezeichnete Kämpfer und tödlich gute Bogenschützen. Erfolg versprechender war der Zug nach Nordosten, über einen der schmalen Gebirgspfade hinweg in das Land der Zwerge, die dort in ihren unterirdischen Städten lebten. Auch die Zwerge konnten kämpfen, aber sie bevorzugten Äxte als Waffen und waren nicht besonders flinke Läufer, was sie zu einem angenehmen Ziel für die viel weiter tragenden Pfeilrohre des Sandvolkes machte.

Es war nicht so, dass das Sandvolk einem guten Kampf aus dem Weg gegangen wäre. Aber es brauchte viele Sonnenjahre, einen Krieger heranzuziehen, und nur wenige Augenblicke, ihn zu töten. In der Wüste wurde nichts verschwendet, schon gar nicht das Leben eines Sandmenschen.

Im Osten führte der Weg in die Westmark des Pferdevolkes. Jenes Reitervolkes, welches vom Sandvolk einst aus dessen angestammter Heimat vertrieben worden war, allerdings in einem langen und blutigen Kampf, der viele Leben gekostet, aber auch viele Schädel eingebracht hatte. Noch immer konnte man im Dünenland die Überreste alter Siedlungen finden, die im steten Wechsel vom Sand bedeckt und durch den Wind wieder freigelegt wurden.

Das Pferdevolk hatte einst zäh und tapfer gekämpft und die letzte große Schlacht an der Grenze zum Dünenland gefochten, wo die Wache des zuvor getöteten Königs die Flucht der anderen Menschenwesen gedeckt hatte. Es war ein guter Kampf gewesen, der noch immer in den Liedern besungen wurde, und das Sandvolk ehrte die besondere Tapferkeit der königlichen Wache, indem es deren Schädel bewahrte und die Toten weiter an der Grenze wachen ließ. Jeder junge Krieger hatte die Pflicht, den Toten des Pferdevolkes die Ehre zu erweisen und ihre Überbleibsel zu pflegen, soweit die Wüste dies zuließ.

Man ehrte die eigenen und fremden Toten, indem man ihre Leiber an jenen Orten beließ, wo ihr Blut ein letztes Mal den Sand der Wüste bedeckt hatte. Nur die Schädel der im ehrenhaften Kampf gefallenen Gegner löste man als Trophäe vom Rumpf. Die Waffen und Rüstungen hingegen beließ man ihnen, so kostbar das Metall auch war, denn es wäre nicht statthaft gewesen, es von den Toten zu rauben. So verrotteten die Überbleibsel jenes Kampfes im Wüstensand, wurden von ihm bedeckt und wieder freigelegt. Einmal im Jahr, wenn die Nacht am längsten währte, tranken die Krieger im Schädelhaus gegorenen Pflanzensaft auf die Ehre der eigenen und der genommenen Schädel. Und mancher dieser Tapferen hatte am folgenden Tag das Gefühl, auch sein eigener Schädel sei bei diesem Ritual gelöst worden.

Die Lieder besangen die Kraft der Pferdelords, die einst bezwungen worden waren, und die Kraft der Krieger, welche dies erreicht hatten. Um die Toten des Pferdevolkes zu ehren, die den letzten Kampf gefochten hatten, erinnerte man sich ihrer auf eine besondere Weise. Ihre Leiber hatte man nicht einfach liegen lassen, sondern in mühevoller Arbeit aufgerichtet. Nun konnten sie nach Osten blicken, dorthin, wohin ihr Volk zurückgewichen war, dessen Überleben sie mit ihrem eigenen Tod gesichert hatten.

Das Sandvolk nannte sie die „Tote Wache“, und es hatte Opfer gekostet, ihr Andenken zu bewahren. Bis die Körper verfallen waren, hatten das verrottende Fleisch und der Gestank ganze Rudel von Fleckbeißern angelockt. Das Sandvolk hatte eigene Leben opfern müssen, um die Toten zu verteidigen. Doch nun gab es nichts mehr, was Fleckbeißer hätte anlocken können, und so war die Ehrenwache mittlerweile weniger gefährlich.

Heglen-Tur trug die typische Tracht der Männer des Sandvolkes. Knochen und die Fasern der Stachelpflanze bildeten die Grundstoffe seiner Kleidung. Ein Blick auf sein ärmelloses Hemd aus gut durchgekauten Pflanzenfasern bestärkte Heglen-Tur in dem Wunsch, bald ein Weib zu besteigen. Denn musste er als Jungmann den Rohstoff noch selbst bearbeiten, würde das Weib dem gebundenen Krieger die unangenehme Aufgabe des Kauens abnehmen und sie vermutlich weitaus sorgfältiger durchführen. Dieses Hemd jedenfalls war nicht richtig weich und anschmiegsam, ja, es kratzte sogar. Aber Heglen-Tur ertrug es mit stoischer Miene. Er wollte sich vor den Frauen und Mädchen des Clans keine Blöße geben. Das Hemd reichte bis über das Gesäß und ließ die Beine frei. Durch den Speichel waren die Fasern beim Kauen ausgeblichen, und so hatte das Hemd die Farbe des Sandes, was eine gute Tarnung bot.

Zu dem kragenlosen Oberteil trug Heglen-Tur einen selbst gefertigten Brustpanzer aus Knochen. Meist benutzte man die leicht erhältlichen Gebeine der Sandwühler, aus denen sich ein passabler Panzer fertigen ließ. Sie wurden mittels geflochtener Pflanzenfasern miteinander verbunden und bildeten einen annehmbaren Schutz gegen die Klinge eines Schwertes oder einer Axt, vorausgesetzt, der Hieb wurde nicht allzu kräftig geführt. Lanze und Pfeil hingegen würden ihn durchschlagen, damit musste man sich abfinden, bis man ein passendes Metallteil fand, das den Panzer verstärken konnte. Metall wurde jedoch stets unter dem Knochenpanzer getragen, denn es schimmerte verräterisch und konnte seinen Träger schon auf große Entfernung entlarven.

Es gab einige Stellen in der Wüste, an denen sich das kostbare Erz finden ließ. Diese Orte waren allen Clans bekannt, aber nicht immer waren sie zugänglich, denn es konnte vorkommen, dass die Wüste sie bedeckte. Das Gesetz der Clans schrieb vor, das genommene Erz gerecht zu teilen, und wer etwas fand und mitnahm, bewahrte den Anteil der anderen Heimstätten daran auf, bis der Rat der Clans sich traf. Während die Turikos über die Belange der Clans entschieden, tauschten die Turik das kostbare Metall. Es gab keinen Streit zwischen ihnen, denn kein Clan übervorteilte den anderen. Sie hatten gelernt, im Notfall zusammenzustehen, und so auch das Pferdevolk bezwungen.

In jeder Heimstatt gab es das Zelt des Schmelzers. Es war besonders stabil gebaut und hatte auf seiner Plattform eine besonders große Steinplatte. Auf ihr formte man aus Sand den Schmelzkegel und brannte ihn. Dann wurde der Kegel beheizt und das Erz von oben hineingegeben. Der Schmelzer und seine Gehilfen achteten viele Sonnen lang auf die richtige Temperatur. Wenn die rechte Zeit gekommen war, zerbrach man den Kegel. Dann hatten sich Schlacke und Metall geschieden, und aus dem Metall wurden Wurmwarner, Messer oder die eisernen Brustplatten der Harnische geschmiedet.

Weitaus wichtiger als der Schutz der Brust war dem Sandvolk der Schutz von Bein und Fuß. An den Beinen hatte Heglen-Tur die knielangen Überzieher aus den unvermeidlichen Pflanzenfasern angelegt, die vor den Stacheln der Pflanzen schützten. Ihre dicken Sohlen bestanden aus der mehrfach gefalteten und vernähten Haut der Sandwühler.

Heglen-Tur trug keinen Helm. Niemand vom Sandvolk tat das. Es war unschicklich, den Schädel zu bedecken, denn es galt als Zeichen mangelnden Mutes. Man bot dem Feind den Schädel dar, mochte er ruhig versuchen, ihn zu nehmen. Allein die Stärke des Kriegers sollte darüber entscheiden, wer am Ende wessen Trophäe nehmen würde.

Der Fünfzehnjährige blickte schweigend zwischen den Hütten des zweiten Kreises der Heimstatt hindurch zum Zentrum hinüber. Einige der Frauen beobachteten ihn, denn sie spürten die Ungeduld, die er verbergen wollte. Ein Sandwühler suchte Schutz vor zwei vergnügt kreischenden Kindern und rannte quiekend zu ihm hinüber. Doch Heglen-Tur ignorierte die kleinen Wesen, die um seine Beine herumtollten, und versuchte sich den Anschein von Gelassenheit zu geben, was ihm jedoch immer schwerer fiel. Als er schon kurz davor stand, mit dem Fuß nach dem störenden Sandwühler zu treten, rannte der Insektenfresser endlich davon, dicht gefolgt von den kreischenden Kindern.

Heglen-Tur spürte ein intensives Jucken zwischen den Beinen, wo einer der plagenden Sandflöhe Unterschlupf vor der Tageshitze gesucht hatte. Auch das Jucken ignorierte er mannhaft, bis sich offensichtlich ein zweiter Sandfloh hinzugesellte und der Reiz übermächtig wurde. Möglichst unauffällig hob Heglen-Tur sein Hemd an und kratzte sich ausgiebig zwischen den Beinen, wobei er auch einen der Flöhe fand und ihn zerquetschte. Errötend bemerkte er eine ältere Frau, die auf sein entblößtes Geschlecht sah und einen anerkennenden Pfiff ausstieß, der sofort die Aufmerksamkeit weiterer Weiber auf ihn lenkte, sodass sich Heglen-Tur beeilte, seine Männlichkeit wieder zu bedecken.

Er tat, als bemerkte er die Blicke und Kommentare der Weiber nicht, und sah erneut zum Schädelhaus im Zentrum der Heimstatt hinüber. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu warten, denn kein Jungmann näherte sich unaufgefordert dem Sitz des Kriegerrates.

Missmutig wechselte er das Pfeilrohr in die andere Hand. Es maß eine halbe Länge, bestand aus kostbarem Holz und war außen mit Fasern der Stachelpflanze umwickelt. Ein Atemstoß reichte aus, um einen Stachelpfeil durch das Rohr zum Feind zu tragen. Und wenn der Atem kräftig war und der Stachel gut und gerade, konnte dieser noch über hundert Längen hinweg sein Ziel finden. Heglen-Tur war stolz auf sein Pfeilrohr, denn er hatte es selbst gefertigt, und es war gut, wie auch seine Stachelpfeile scharf und gerade waren. Neben dem Pfeilrohr trug er noch die schwere Schädelkeule, ein mit Pflanzenfasern an einen langen Oberschenkelknochen gebundener Stein, mit dem man den Schädel eines Feindes zertrümmern konnte. Aber kein guter Clankrieger würde das tun, wenn es sich vermeiden ließ. Die Keule musste vielmehr den Nacken des Gegners treffen, um die Halswirbel zu zertrümmern, damit die kostbare Schädeltrophäe unbeschädigt blieb.

Einzig das gezackte Messer, das in Heglen-Turs aus Pflanzenfasern geflochtenem Gürtel steckte, war aus gutem Metall. Mit ihm ließen sich Tiere ausnehmen, Stachelpflanzen roden und Hälse abschneiden. Sein Messer hatte noch keinen Hals durchtrennt, aber bald, hoffentlich bald, würde dies geschehen.

Seine empfindlichen Ohren nahmen ein leises Klingen wahr. Instinktiv wandte er sich um und blickte zwischen dem Außenring der Pfahlzelte hindurch zur nächsten Wachplattform. Aber der Wächter verhielt sich ruhig. Hätte er das Wühlen eines Sandwurms bemerkt oder einer der anderen Wächter Alarm gegeben, so würde er sich anders verhalten haben. Heglen-Tur entspannte sich wieder und blickte erneut voller Ungeduld zum Schädelhaus des Kriegerrates.

Endlich war dort Bewegung zu erkennen.

In dem Heglen-Tur zugewandten Eingang erschien die Gestalt von Bimar-Turik, und als der alte Krieger Heglen-Tur erblickte, hob er einen Arm und winkte ihn heran. Heglen-Tur hatte sich vorgenommen, mit würdevollen Schritten hinüberzugehen, aber seine Aufregung war zu groß, und so verfiel er in den typischen arhythmischen Trab des Sandvolkes, der einen Krieger rasch durch die Wüste zu tragen vermochte. Dabei bemühte er sich, wenigstens den richtigen Schrittwechsel vorzunehmen, damit der alte Krieger keinen Grund zur Kritik fand.

Bald war es so weit, bald würde Heglen-Tur sich endlich Heglen-Turik nennen dürfen.

Der Fünfzehnjährige erreichte einen der aufragenden Pfosten, auf denen das Schädelhaus ruhte, schwang sich behände hinauf und blieb in ehrerbietiger Haltung vor dem Krieger Bimar-Turik stehen. Bimar-Turik bot keinen schönen Anblick. Sein Gesicht wies zahllose Narben auf, denn als Kind war er in eine Stachelpflanze gestürzt, deren Dornen ihn übel zugerichtet hatten. Er hatte viel Spott ertragen müssen, nachdem die Wunden verheilt und hässliche Narben zurückgeblieben waren. Dieser Spott hatte wohl dazu beigetragen, dass der Clankrieger als ebenso humorlos wie mutig galt. Keiner hatte mehr Schädel genommen als Bimar-Turik, wenn man von Heldar-Turiko einmal absah, dessen Namensendung auf seinen Status als Clanchef hinwies.

„Der Turiko will dich sehen“, knurrte Bimar-Turik und musterte Heglen ironisch. „Warte einen Moment, bis du nicht mehr so schwer atmest. Hat dich der Anblick der Weiber so erregt oder der kurze Lauf so angestrengt?“

Heglen-Tur errötete ein wenig. „Mein Atem ist leicht wie ein Sandkorn im Wind.“

Der ältere Krieger ließ seinen Blick von Kopf bis Fuß über den Jungmann gleiten. „Fehlt es dir an Respekt oder bist du nur zu dumm, um nicht zu wissen, wann du zu schweigen hast?“ Sein Blick wurde kalt. „Noch hast du keinen Schädel genommen und nicht das Recht, deine Stimme einem erfahrenen Krieger gegenüber zu erheben. Und wenn du so laut schnaufst, wirst du nie nahe genug an einen Feind herankommen, um seinen Schädel zu erhalten.“

Heglen-Tur schwieg, denn er spürte, dass der alte Krieger ihn auf die Probe stellen wollte. Bimar-Turik zupfte an Heglen-Turs Knochenpanzer und Gurt und klopfte an den Beinschutz. „Wenigstens siehst du halbwegs so aus wie ein Clankrieger der Wüstennager“, brummte er. „Also lass uns hineingehen und schnaufe nicht so, damit der Turiko wenigstens glauben kann, er hätte einen künftigen Krieger vor sich.“

Der narbige Kämpfer schob den innerlich kochenden Heglen-Tur durch den Eingang in das Schädelhaus. Von der sonnenüberfluteten Hitze des Tages traten sie in den dämmerigen Schatten der riesigen Halbkugel, und Heglen-Turs Augen mussten sich erst auf das seltsame Zwielicht einstellen. Zum ersten Mal betrat er das Haus des Kriegerrates, und der Anblick der vielen Schädel raubte ihm den Atem. So sorgsam waren sie entlang der Wände in die Höhe gestapelt, dass sie die Anwesenden überwölbten, ohne herabzustürzen.

Davor saßen die erfahrensten Krieger des Clans und blickten den Eintretenden ausdruckslos entgegen. Aber Heglen-Tur achtete nicht auf die Kämpfer. Sein Blick galt einzig der imposanten Gestalt in der Mitte des Schädelhauses: Heldar-Turiko, dem Oberhaupt des Nagerclans, der eine lebende Legende des Sandvolkes war.

Als einziger Krieger trug der Turiko einen Helm auf seinem Kopf. Er war hoch, mit einem golden schimmernden Kamm und einer fein gearbeiteten Figur am Stirnschutz. Einst hatte er einem Elfen gehört, der jedoch schon lange keine Verwendung mehr für einen Kopfschutz hatte. Heldar-Turiko hatte Helm und Schädel in einem bemerkenswerten Kampf erfochten. Niemand würde es wagen, den Mut des Turiko anzuzweifeln, und so konnte er den Kopfschutz als Zeichen seiner Würde tragen.

Doch nicht nur der Mut Heldar-Turikos war bemerkenswert. Auch sein Haar war es. Die Menschen des Sandvolkes hatten für gewöhnlich schwarze Haare, doch die des Turiko schimmerten in der Farbe der Sonne, so wie es bei vielen Menschen des Pferdevolkes vorkam. Damals, als das Reitervolk besiegt worden war, hatte man einige ihrer Weiber genommen, denn die eigenen Verluste waren hoch gewesen, und man brauchte neue Krieger. Einige der aus diesen Verbindungen hervorgegangenen Kinder waren ebenso blond gewesen wie der Turiko, doch im Laufe von Generationen waren die Sonnenhaare immer seltener geworden. Es hieß, der Turiko sei der einzige Mann des Sandvolkes, der noch das Sonnenhaar besaß.

„Tritt vor, Heglen-Tur“, sagte der Clanchef. Seine Stimme war leise, und doch schien sie das Schädelhaus auf seltsame Weise zu erfüllen.

Bimar-Turik stieß den Jungmann auffordernd an. „Geh schon und zeige deinen Respekt!“

Heglen-Tur trat rasch vor, näherte sich dem Clanchef und sank dann auf die Knie. Respektvoll neigte er sich vor und bot dem Turiko den ungeschützten Nacken dar. „Meine Trophäe gehört dem Turiko im Zeichen des Nagers“, sagte er heiser und bemühte sich, seiner Stimme einen festen Klang zu geben.

Heldar-Turiko nahm seine Schädelkeule und legte sie symbolisch in den Nacken des Fünfzehnjährigen. „Dein Schädel sei dir erhalten, damit du dem Clan Ehre machst und viele Schädel in sein Haus bringst.“

Die Keule hob sich wieder aus Heglen-Turs Nacken, und er richtete sich auf, ohne jedoch den Blick vom Boden zu nehmen.

Heldar-Turiko sah nacheinander die Männer an, die um ihn herumsaßen. „Ein Jungmann will zum Krieger werden und seinen ersten Schädel lösen. Es ist wohl an der Zeit, ihm diese Ehre zuteil werden zu lassen. Doch zuvor brauchen wir den Beweis, dass er ihrer würdig ist.“

Der Clanchef richtete den Blick auf Heglen-Tur. „Willst du Ehre erlangen, musst du auch Ehre erweisen, Heglen-Tur. Bist du bereit dazu?“

„Meine Trophäe gehört dem Turiko im Zeichen des Nagers“, wiederholte Heglen-Tur ehrerbietig.

Der Clanchef schmunzelte leicht. „Ich frage nicht nach deinem Schädel, sondern nach dem, was du darin hast.“

Einige der Krieger lachten auf, und Heglen errötete. Der Turiko bemerkte die Verlegenheit des Jungmannes und nickte verständnisvoll. „Bevor du den Schädel eines Lebenden als Trophäe nimmst, musst du denen Ehre erweisen, deren Schädel wir einst lösten.“

Heglen-Tur begriff. Der Clanchef meinte die „Tote Wache“.

„So kämpften Ross und Mann des Pferdevolkes, bis der letzte Schädel gelöst war“, zitierte der Turiko mit leiser Stimme. „Und sie gereichten dem Volk der Pferde zur Ehre und auch dem Volk des Sandes. So wird es besungen.“

„So wird es besungen“, echoten die Anwesenden.

Heldar-Turiko richtete Heglen-Tur an den Schultern auf. „Einen Zehntag lang wirst du der Wache des Pferdevolkes die Ehre erweisen. Einen Zehntag lang wirst du nichts essen und nur den Saft der Stachelpflanze zu dir nehmen. Einen Zehntag lang wirst du deine Kraft der Ehre der Toten widmen. Dann, Heglen-Tur, wirst du zu den Nagern zurückkehren. Und danach wirst du die Krieger des Clans auf deinem ersten Streifzug begleiten. Nun geh, Heglen-Tur, und erfülle die Pflicht der Ehre. Mögen dir künftig reichlich Schädel beschieden sein. So sei es besungen.“

„So sei es besungen“, murmelten die Versammelten.

Heglen-Tur erhob sich unsicher. Es hatte geklungen, als sei er nun entlassen, und dies bestätigte sich, als der narbige Bimar-Turik ihn am Arm packte und aus dem Schädelhaus hinauszog.

„Einen Zehntag lang, Heglen-Tur“, brummte der alte Krieger. „Und trödele nicht bei den Weibern herum. Du wirst sie früh genug besteigen können.“ Das Gesicht des Kriegers verzog sich auf grässliche Weise und Heglen-Tur begriff, dass der Turik lächelte. „Glaube mir, Heglen-Tur, du wirst bald merken, dass dies mehr Arbeit bedeutet, als zu leisten dir möglich erscheint. Doch nun geh. Halte dich nicht bei den Zelten auf. Was du brauchst, trägst du am Leibe. Hier, nimm dieses Bündel. Auch das wirst du benötigen. Geh nun und erfülle die Pflicht der Ehre.“

Heglen-Tur nickte und nahm von dem alten Krieger ein fest geschlossenes Bündel entgegen, dann wandte er sich um und sprang mit einem Satz von der Plattform des Schädelhauses auf den Sand hinunter.

„Bist du verrückt?“, schrie Bimar-Turik wütend auf. „Willst du einen Sandwurm herbeirufen?“

Heglen-Tur errötete erneut und bot schuldbewusst seinen Nacken dar. Der alte Krieger nahm die Entschuldigung mit einem verächtlichen Schnauben an und wandte sich wieder der Hütte zu. Der Fünfzehnjährige hingegen ärgerte sich über seine Unachtsamkeit und bemühte sich um so mehr, wieder den typischen Trab des Sandvolkes aufzunehmen, als er vom Schädelhaus aus zwischen den Kreisen der Pfahlzelte hindurchlief, um die Heimstatt zu verlassen.

Er bemerkte die neugierigen Blicke, die man ihm zuwarf, denn natürlich wusste jedes Mitglied des Clans, dass der Jungmann dabei war, ein Krieger zu werden. So bemühte er sich um eine stolze Haltung, um den gleichgültigen Blick des erfahrenen Kriegers, den nichts erschüttern konnte, und um den ungleichmäßigen Schritt des Sandvolkes.

Der schnelle Trab führte ihn aus der Heimstatt und dem Ring der Pfähle mit den Wachplattformen hinaus in die endlos erscheinende Weite der Wüste.

Jeder Angehörige des Sandvolkes war mit der Wüste vertraut, und doch gab es niemanden, der sich wirklich in ihr auskannte. Die Wüste war in ständiger Bewegung, so wie auch der Wind in ständiger Bewegung war. Mal blies er stärker, mal schwächer, mal aus der einen, dann aus der anderen Richtung. Der Wind verfing sich in den hohen Sanddünen, ließ sie wandern, verschüttete Bekanntes und deckte Unbekanntes auf. Das Land war in Bewegung, so wie auch seine Bewohner in Bewegung waren.

Es war erst Mittag, und die Sonne stand hoch am Himmel, während der Jungmann über den Sand trabte. Der rasche gleitende Schritt des Trabs hatte zwei große Vorteile. Er brachte den Boden nicht allzu sehr zum Schwingen und lockte daher keine Sandwürmer an, und zudem berührten die Füße dabei den heißen Sand nur flüchtig, was bei der Tageshitze ebenfalls von Vorteil war. Frauen und Kinder hatten dickere Sohlen an ihrem Schuhwerk, aber für einen Jäger kam das nicht in Betracht. Denn die relativ dünnen Sohlen seiner Fußbekleidung erlaubten es ihm, seinerseits Schwingungen im Boden zu erspüren. Das Leben in der Wüste schärfte Sinne, die andere Völker längst verloren hatten.

Heglen-Turs Blicke schweiften rastlos über die staubigen Weiten, wobei sie einige Stachelpflanzen registrierten, die kaum aus einer Sandverwehung aufragten, und hier und da Bewegungen und Spuren im Sand wahrnahmen, die nicht von Wind und Erosion hervorgerufen worden waren. Nach einer Weile verspürte er Hunger und Durst, aber er verdrängte die Empfindungen und konzentrierte sich auf seinen Lauf. Erst als der Durst übermächtig zu werden schien, hielt er kurz an, zog den wassergefüllten Darm eines Sandwühlers von seinem Rücken, öffnete ihn und trank einen Schluck daraus. Sorgfältig verschnürte er den Wasserschlauch wieder, wobei er darauf achtete, zuvor die Luft herauszudrücken, die das Wasser verräterisch würde schwappen und glucksen lassen, dann hängte er ihn wieder über den Rücken und verfiel erneut in seinen schnellen Trab.

Die Menschen des Sandvolkes waren ausdauernd, und es fiel Heglen-Tur nicht schwer, den Lauf über viele Zehnteltage beizubehalten. Natürlich wurde er nach einer Weile etwas langsamer, aber er wusste, dass seine Kräfte reichten; er schonte sich nur etwas, um genug Reserven für einen Kampf zu haben. Aber kein Fleckbeißer begegnete ihm, lediglich ein wild lebender Sandwühler, den er aber ignorierte, obwohl sein Magen Protest dagegen erhob.

Kurz vor Sonnenuntergang bemerkte er eine spiralförmige Bewegung im Sand. Seine Erfahrung ließ ihn in Schritt verfallen und schließlich stehen bleiben. Noch immer bewegte sich vor ihm der Boden in winzigen kreisförmigen Bahnen. Bald würde die Sonne untergehen, und wenn der Sand seine Tageshitze abgestrahlt hatte, würde es in der Wüste schnell sehr kalt werden. Dies war die Zeit, zu der bestimmte Wüstenbewohner den kühlen Schutz des Sandes verließen und an seine Oberfläche kamen.

Heglen-Tur wusste, dass die Bewegung von einem Sandstecher hervorgerufen wurde. Eigentlich war es für das Tier noch zu früh, an die Oberfläche zu kommen. Vielleicht hatte es die Erschütterungen von Heglen-Turs Schritten gespürt und hoffte auf nahe Beute. Sandstecher töteten auch Tiere, die ungleich größer als sie selber waren. Die Natur hatte sie dazu mit einem sehr starken und schnell wirkenden Gift ausgestattet.

Die Räuber hatten sechs Beine und eine durchscheinenden Haut, durch die man die inneren Organe erkennen konnte. Ihr Hinterleib war nach oben gekrümmt und wies an seinem Ende einen gebogenen tödlichen Giftstachel auf, der in Richtung des Kopfes wies. Das Sandvolk kannte die Gefährlichkeit dieser Tiere, dennoch gab es vor allem unter den Kindern gelegentlich Todesopfer zu beklagen.

Doch die giftigen Wesen stellten auch einen wichtigen Rohstofflieferanten für das Sandvolk dar. Daher nestelte der Jungmann ein kleines Behältnis von seinem Gürtel und öffnete den Verschluss, um dann abzuwarten. Heglen-Tur verharrte reglos, und sein Körper beschattete die Stelle im Sand, wodurch sich dort der Boden abkühlte, bis der Sandstecher schließlich seine Deckung verließ. Es reichte Heglen-Tur, den Ansatz des Stachels zu erkennen; mehr brauchte er nicht, um zu reagieren. Blitzschnell stieß seine Hand vor, und zwei Finger packten das Tier rechts und links des Stachels, noch bevor es zustechen konnte. Heglen-Tur hatte es perfekt zu fassen bekommen und zog es nun aus dem Sand heraus, dann nahm er den kleinen Behälter und drückte den Stachel des Sandstechers gegen die Öffnung. Das Tier zappelte mit den Beinen und krümmte seinen Leib, während der Stachel zu zucken begann. Milchige Tropfen sammelten sich an dessen Spitze und sickerten zäh in den kleinen Behälter.

Heglen-Tur drückte seine Finger behutsam rhythmisch zusammen und regte so den Sandstecher an, auch den letzten Tropfen Gift in den Behälter abzusondern. Dann setzte er das tödliche Tier auf den Sand zurück. Während es sich hastig wieder eingrub, verschloss der Jungmann den Behälter und schüttelte ihn sorgfältig. In der kleinen Röhre befand sich neben dem giftigen Sekret weiterer Sandstecher noch ein Extrakt aus dem Saft der Stachelpflanze, der dafür sorgte, dass das Gift nicht aushärtete, sondern zäh blieb. Durch das Schütteln wurde beides miteinander vermischt.

Heglen-Tur betrachtete seine bisherige Ausbeute und nickte zufrieden.

Bei einem Angriff konnte er die Stachelpfeile seines Pfeilrohres in die Flüssigkeit tauchen. Es reichte aus, die Spitze zu benetzen, und jeder Gegner, der von dem Stachel auch nur geritzt wurde, war des Todes. Aber das Volk setzte diese Pfeile nur gegen Fleckbeißer und Sandwürmer ein, denn es wäre unehrenhaft gewesen, einen zweibeinigen Gegner damit niederzustrecken. Einen Schädel zu nehmen, war nur ehrenvoll, wenn sein Träger auch darum kämpfen konnte.

Bevor es ganz dunkel wurde, suchte sich der Jungmann einen passenden Schlafplatz. Er prüfte die Windrichtung und wählte die dem Wind zugewandte Seite einer Düne aus, um nicht im Schlaf vom Sand bedeckt zu werden. Der Wind würde ihm, zumindest aus der Richtung, aus der er blies, auch den Geruch eines Fleckbeißers zutragen, und seine geschärften Sinne würden Heglen-Tur rechtzeitig wecken. Er zog sein Messer aus der Scheide, steckte diese in den Boden und legte das Messer selbst flach darüber. Auch die Vibrationen eines weit entfernten Sandwurms würden dazu führen, dass die Klinge herunterfiel und ihn zuverlässiger weckte als die Empfindsamkeit seines Körpers.

Schließlich trank er noch etwas Wasser, nahm den Behälter mit dem kostbaren Nass in die Armbeuge und rollte sich zum Schlaf zusammen, um so der Kälte der Nacht zu trotzen. Denn es würde kalt werden, sehr kalt. Schützte man das Wasser nicht mit der Wärme des eigenen Körpers, so konnte es gefrieren und ein gebranntes Gefäß sogar zum Platzen bringen. Wenngleich Heglen-Turs Wasserschlauch dehnbar war, schützte er ihn aus Gewohnheit.

Die Nacht verging ungestört. Nur einmal durchbrach ein fernes Bellen die Stille und ließ Heglen-Tur aus dem Schlaf schrecken. Aber der Fleckbeißer war weit entfernt, und so war der Jungmann wieder eingeschlafen. Früh am Morgen erhob er sich, steckte das Messer wieder ein und nahm zwei Schlucke aus dem Wasserschlauch, bevor er sich wieder auf den Weg machte.

Am frühen Nachmittag erreichte er die Tote Wache, und obwohl er sie schon oft gesehen hatte, fühlte er erneut einen erregenden Schauder, als er die Reihen der toten Reiter vor sich sah. Heglen-Tur verfiel in langsamen Schritt und näherte sich ihnen andächtig. Aus der Ferne schienen die gefallenen Krieger noch immer auf geisterhafte Weise von Leben erfüllt, und Heglen-Tur konnte sich gut vorstellen, wie kraftvoll die Männer des Pferdevolkes einst auf ihren Pferden gewesen sein mussten und welch guten Kampf sie geliefert hatten. Aber je näher er ihnen kam, desto deutlicher waren die Spuren des Verfalls zu erkennen.

Der Fünfzehnjährige rückte das Bündel zurecht, das Bimar-Turik ihm in der Heimstatt überreicht hatte. Es bestand aus sorgfältig aufgewickelten Pflanzenfasern, die Heglen-Tur helfen würden, der Toten Wache Ehre zu erweisen. Knochen und Rüstungsteile von vielen der Skelette hatten sich gelöst, sodass er sie neu würde binden müssen.

„So kämpften Ross und Mann der Pferdemenschen, bis der letzte Schädel gelöst war“, murmelte er andächtig. „Und sie gereichten dem Volk der Pferde zur Ehre und auch dem Volk des Sandes. So wird es besungen.“

Heglen-Tur nahm sich die Zeit, zwischen den Reihen der Toten entlangzulaufen, und staunte wieder einmal, wie groß die Männer auf ihren Pferden gewesen waren. Schließlich öffnete er das Bündel und begann systematisch, die schlimmsten Schäden zu beheben.

Ein Zehntag klang nach einer langen Zeit, aber Heglen-Tur wusste, dass sie rasch vergehen würde, denn es gab viel zu tun. Obwohl das Sandvolk die stützenden Pfähle fest aufgestellt und die einzelnen Teile gut miteinander verbunden hatte, forderte der Wind seinen Tribut. Aber die Mächte des Schicksals hielten ihre schützenden Hände über die Toten. Kein starker Sturm hatte sie je getroffen und ihre Gebeine über die Wüste verstreut. Doch wenn dies einmal geschehen sollte, so berichteten es die Legenden des Sandvolkes, würden die Toten der Pferdemenschen sich erheben und erneut den Kampf aufnehmen. Ein Gedanke, der jeden aufrechten Krieger mit Schrecken erfüllte, denn wie sollte man einen Toten bezwingen, dessen Schädel bereits genommen war? Aber es war wohl nur eine Legende, die entstanden war, damit die Turiks gewissenhaft darauf achteten, dass den Toten Ehre erwiesen wurde. Heglen würde dies tun, so wie die Tradition es verlangte.

Mit geübtem Blick und kundigen Händen widmete er sich seiner Aufgabe, bis er unvermittelt aufschreckte. Er spürte eine schwache Erschütterung des Bodens, und sofort schärften sich seine Sinne.

Behutsam ging er in die Knie und legte das Ohr auf den Sand. Die Erschütterung war nun deutlicher wahrzunehmen, ein rhythmisches Pochen. Es klang fast wie das Graben eines Sandwurms, und doch war es anders. Irritiert versuchte Heglen-Tur das leise Schwingen zu deuten. Doch dann wurde ihm bewusst, dass die Schwingungen nicht aus dem Boden zu ihm drangen, sondern auch durch die Luft an seine Ohren getragen wurden.

Das war kein Sandwurm.

Heglen-Tur richtete sich auf, sah sich überrascht um und erkannte hinter einer Düne im Osten eine aufsteigende Staubfahne, die sich rasch näherte. Automatisch ergriff er die Reste seines Bündels und rannte zu der Düne hinüber, die er überquert hatte, um die Tote Wache zu erreichen. Er lief im schnellen Trab und schob sich dann auf dem Bauch hinter den Kamm. Während er seine Augen gegen das grelle Sonnenlicht abschirmte, versuchte er zu erkennen, was die ungewöhnliche Staubfahne verursachte.

Das Vibrieren und leise Poltern wurde mehr und mehr zu einem harten Dröhnen, das sich rasend schnell zu nähern schien. Heglen-Tur stieß unbewusst einen heiseren Schrei aus, als unvermittelt die Toten zum Leben erwachten.

Männer auf Pferden überzogen die Kuppe der gegenüberliegenden Düne.

Männer mit grünen Umhängen und grünen Rundschilden, mit wehenden gelben Rosshaarschweifen an den Helmen und mit langen Lanzen in den Händen.

Sie verharrten reglos auf der Düne und starrten auf die Tote Wache hinab. Heglen-Tur krallte die Hände in den Sand, wandte den Kopf zur Seite und blickte dann erneut zu der Erscheinung hinüber. Aber seine Sinne täuschten ihn nicht.

Die Pferdemenschen kehrten in ihre alte Heimat zurück.

Es waren nicht so viele Reiter, wie die Tote Wache einst umfasste, aber diese hier mit ihren grimmigen Gesichtern und den großen Pferden machten auf den Jungmann einen furchterregenden Eindruck. Fieberhaft überschlug Heglen-Tur die Anzahl der Feinde und kam auf etwa hundert Reiter und Pferde. Aber wer konnte wissen, ob dies nicht nur eine Vorhut war?

Heglen-Tur wurde plötzlich bewusst, welche Gefahr seinem Clan und allen anderen drohte. Er sah, wie die Männer ihre Pferde antrieben. Nein, diese Reiter kehrten nicht um, sie kamen in die Wüste hinein, vielleicht, um Rache für eine verlorene Schlacht zu nehmen.

Heglen-Tur warf einen letzten kurzen Blick auf den Beritt der Pferdelords, dann rutschte er die Düne hinunter und lief in schnellem Trab der Heimstatt entgegen. Es galt, eine Botschaft zu überbringen. Die Toten lebten wieder.

Die Pferdelords kehrten zurück.

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 202410121741363ddf146e
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Die Pferdelords und die Barbaren des Dünenlandes

Reihe: Die Pferdelords Bd. 3

Autor: Michael H. Schenk

broschiert, 636 Seiten

Mira, Hamburg, erschienen August 2007

Titelbildgestaltung sowie Illustrationen und Karten von pecher und soiron, Alexander Jung

ISBN 978-3-89941-358-8

Erhältlich bei: Amazon

Disclaimer:

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Erstellt: 23.07.2008, zuletzt aktualisiert: 13.01.2015 04:49, 6961