Die Pferdelords und die Paladine der toten Stadt (Autor: Michael H. Schenk, Die Pferdelords Bd. 6, Genre: Fantasy)
 
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Die Pferdelords und die Paladine der toten Stadt von Michael H. Schenk

Reihe: Die Pferdelords Bd. 6

 

Leseprobe

 

1

Die Männer bewegten sich vorsichtig.

Sie waren es gewöhnt, über losen Felsgrund zu steigen. Ihre Füße tasteten sich vorwärts, behutsam wie scheue Wesen, und wenn sie Halt gefunden hatten, verlagerten die Männer ihr Körpergewicht, ohne dabei ihre Aufmerksamkeit von der Umgebung zu wenden. Viele Geschichten erzählten von dem Reich Rushaan, und keine von ihnen war angenehm. Es war ein Land, das fremd und unheimlich war. Nicht umsonst nannte man es die Öde, denn hier gab es nur wenig Leben. Selbst die Pflanzen schienen davor zurückzuschrecken, sich in dem trostlosen Landstrich auszubreiten.

Die Öde war abweisend und verlockte nicht zum Verweilen, aber die Not hatte die vier Männer hierher getrieben. Elmoruk führte den kleinen Jagdtrupp der Zwerge, und seine Hand lag um den Griff der Bolzenschleuder. Er und seine Begleiter stammten aus der gelben Kristallstadt Nal´t´hanas. Wie alle Städte des Zwergenvolkes hatte sie einst tief verborgen in einer riesigen Höhle gelegen, überwölbt von den Felsmassen des Gebirges und geschützt von einer Kuppel aus Platten gelben Kristalls. Ihre Bewohner waren ungestört ihrer Arbeit nachgegangen und hatten ein gutes Leben geführt. Sie hatten nach Erzen, Mineralien und Kristallen geschürft, hatten sich um ihre Nahrung gesorgt und ihren Nachwuchs, die Hüpflinge, aufgezogen.

Es gab nicht viel, wovor sich ein Axtschläger des Zwergenvolkes fürchtete. Da waren zum einen die Feuerbestien aus den Abgründen der Welt und zum anderen die Gefahr, dass ihnen der Felsenhimmel ihres Reiches auf den Kopf stürzen könnte. Und eben dies war vor etlichen Jahren in Nal´t´hanas geschehen.

Ein Beben hatte einen Teil des steinernen Doms zum Einsturz gebracht. Dabei hatten gewaltige Felsbrocken die Kuppel zerstört und viele der Bewohner erschlagen. Männer, Frauen und Hüpflinge waren getötet worden. Viel zu viele kostbare Leben waren vergangen, und Trauer hatte in Nal´t´hanas geherrscht. Mühsam hatten die Zwerge die Opfer geborgen und in Ehren bestattet, so, wie es ihre Tradition verlangte.

Dann hatten sich die Zwerge, in ihrer typischen Zähigkeit, an den Wiederaufbau gemacht. Inzwischen war eine lange Zeit verstrichen, aber Nal´t´hanas hatte sich noch immer nicht ganz von dem Schicksalsschlag erholt. Aus dem Felsendom war ein großes Tal geworden, an dessen einem Ende nun die Stadtkuppel lag, nur noch halb verdeckt vom schützenden Gestein; eine Veränderung, die sich stark auf das Leben der Zwerge ausgewirkt hatte.

Der Einsturz des Doms hatte viele der Pilzbeete verschüttet, die sich auf den Dächern der Zwergenhäuser befanden und die Nahrungsgrundlage des Volkes lieferten. Die restlichen Beete waren ungeschützt der Witterung ausgesetzt gewesen und zum großen Teil eingegangen. Zwar hatten die Zwerge sofort begonnen, die Kristallkuppel zu reparieren, aber es war aufwendig, die zerstörten Platten zu ersetzen. Doch schließlich hatte man es geschafft; die gelbe Kristallstadt war wieder von ihrer Kuppel umgeben, sodass der Regen die Dachbeete nicht mehr überfluten konnte und die Eigenwärme der Stadt verhinderte, dass die Pilze weiter unter dem Schnee und Eis des Winters litten. Allerdings blieb der östliche Teil der Stadt dem Sonnenlicht ausgesetzt, was zu empfindlichen Einbußen bei der Pilzernte führte. Daher waren die Bewohner der Stadt bestrebt, sich zusätzliche Nahrungsquellen zu erschließen. Denn nur eine ausreichende Ernährung konnte zusammen mit der Vermehrungsfreudigkeit des kleinen Volkes dafür sorgen, dass Nal´t´hanas seine einstige Stärke zurückerlangte.

Natürlich hatten die kleinen Männer versucht, Hilfe aus den anderen Kristallstädten zu erhalten, denn auch wenn man einander nur selten besuchte, so war die Verbundenheit unter den Zwergenvölkern doch groß. Zwei Trupps hatten die Zwerge der Stadt ausgeschickt, um Kontakt aufzunehmen, aber keiner von ihnen war zurückgekehrt. Vielleicht waren die Männer einem Unfall zum Opfer gefallen oder von einem Feind getötet worden.

Denn über der Erde herrschte Gewalt, seitdem die Häuser der Menschen und Elfen im Krieg gegen die Orks des Schwarzen Lords der Finsternis standen. Ein Krieg, von dem auch die Kristallstädte des kleinen Volkes nicht verschont bleiben würden, wenn der Feind sie entdeckte.

Weitere Männer auszusenden, erschien dem König der Stadt daher als zu riskant; zu leicht hätte ein Trupp ungewollt einen Gegner heranführen können. Die Zwerge waren vorsichtig und betrachteten jeden als Feind, der nicht ihrem Volk angehörte, etwa die Elfen, deren Land an das Gebiet der gelben Stadt grenzte. Diese Wesen waren hochmütig und kümmerten sich kaum um die Belange der Sterblichen. Es war besser, ihnen aus dem Weg zu gehen, und so hielten sich die Zwerge gut verborgen, wenn ein Trupp der Elfen durch die Berge marschierte.

Bislang war Nal´t´hanas unentdeckt geblieben, aber die Gefahr wurde immer größer, denn um ihr Volk zu ernähren, mussten sich die Jagdtrupps immer weiter von der Stadt entfernen.

Seit drei Jahreswenden versuchten die Zwerge nun Felsböcke zu fangen und in ihr verborgenes Tal zu bringen. Die Tiere mochten die saftigen Dornsträucher, die dort wuchsen, und die Zwerge mochten das saftige Fleisch der Böcke; was lag also näher, als sie vor Ort zu züchten? Ein paar hatten sie bereits gefangen, aber das reichte nicht aus, um die Herde schnell zu vergrößern.

So war Elmoruks Trupp ausgerückt, um weitere Felsböcke in die Stadt zu holen.

Die Jagd hatte sich gut angelassen.

In der Nähe fanden sie die Spuren eines kleinen Rudels, denen sie folgten. Mehrmals waren sie nahe genug an die Tiere herangekommen, um sie sehen zu können. Ein kapitaler Bock, mit drei beeindruckenden Hörnern auf der Stirn, dazu drei Kühe und zwei Jungtiere. Ein guter Fang, wenn sie die alle ins Tal bringen konnten.

Aber leicht machte es ihnen das Rudel nicht.

Die vier Zwerge waren nun schon viele Tageswenden auf der Spur der Felsböcke. Schon mehrmals hätten sie Gelegenheit gehabt, die Tiere zu erlegen. Aber sie wollten sie lebend fangen, und das war bedeutend schwieriger.

Schon vor zwei Tageswenden hatten sie die Ausläufer des Gebirges verlassen und unwirtliches Gebiet betreten, die Öde von Rushaan. Aber nun, da sie so dicht vor ihrem Ziel standen, wollte Elmoruk die Jagd nicht abbrechen. Die Männer bewegten sich wie Schemen durchs Gelände und nutzten die Deckung der Felsen, während sie den Spuren des Felsbockrudels folgten und sich ihm immer weiter annäherten. Elmoruk und Parnuk gingen in der Mitte, die beiden anderen Zwerge in einigem Abstand an den Flanken. Diese Männer waren, ebenso wie Elmoruk, erfahrene Axtschläger und sollten die beiden Jäger vor Gefahren schützen, besonders Parnuk, der als Einziger von ihnen kein Kämpfer, sondern einfacher Schürfer war. Wenn der kapitale Rudelführer die Zwerge witterte und keinen Ausweg sah, würde er angreifen. Ein Felsbock konnte mit seinen drei ausladenden Stirnhörnern tödliche Wunden schlagen, und bevor dies geschah, würde man ihn selbst töten müssen.

Elmoruk hob eine Hand, und die anderen erstarrten. Wieder einmal spähte der erfahrene Axtschläger und Jäger über einen der Felsen und sah erleichtert das Rudel vor sich. Kaum eine Dutzendlänge entfernt standen die Tiere an einem kleinen Wasserloch und tranken. Der Bock hob immer wieder witternd den Kopf und sah sich um, aber der Wind stand günstig für die Zwerge.

Keiner der Männer trug ein metallenes Rüstungsteil oder einen Helm. Nichts sollte klappern oder ihre Anwesenheit durch Lichtreflexe verraten.

Elmoruk nickte Parnuk zu, und lautlos ordneten die beiden Männer die Fangnetze, um sich auf den entscheidenden Wurf vorzubereiten. Sie hatten sich zuvor abgesprochen. Der Schürfer würde die nächststehende Kuh übernehmen und Elmoruk den kapitalen Bock. Wenn es gelang, sie mit den Netzen zu fangen, würden die beiden Jungtiere einfach stehen bleiben, denn der Instinkt würde sie bei den Muttertieren halten. Die beiden anderen Kühe würden zu fliehen versuchen, aber in ihren Eutern war keine Milch, und die Jungen würden sich ihnen nicht anschließen.

Die Maschen und Gewichte des Netzes glitten durch Elmoruks prüfende Finger, und er nickte Parnuk zu. Als dieser die Geste erwiderte, richteten sich die beiden Männer hinter dem Felsen auf und warfen ihre Fangnetze blitzschnell auf ihre Beute.

Der Bock bemerkte die Bewegung und wandte sich ihr instinktiv zu, während er den Schädel senkte und die Hörner der möglichen Gefahr entgegenstellte. Wäre er zur Seite gesprungen, dann hätte ihn das Netz nicht getroffen, aber Elmoruk hatte damit gerechnet, dass der Bock sein Rudel verteidigen wollte.

Die Maschen glitten über die Spitzen der drei Hörner hinweg, und das Netz legte sich über Schädel und Rücken des Bocks, während die Gewichte es zusammenzogen. Als das Tier die Berührung spürte, richtete es sich auf und versuchte zu entkommen, aber es war zu spät. Mit einem wütenden Blöken verlor es den Halt und stürzte zur Seite um. Der von Parnuk ausgewählten Kuh erging es nicht besser. Während die beiden gefangenen Felsböcke zu Boden gingen, stürmten die beiden anderen Kühe blindlings los. Zwei Pfeilbolzen zischten durch die Luft, und die Tiere überschlugen sich und blieben liegen.

„Packt sie“, schrie Elmoruk und warf sich nach vorne.

Sie brauchten nicht mehr vorsichtig zu sein, nun kam es auf Schnelligkeit an, damit der Anfangserfolg nicht zunichte gemacht wurde.

Der Bock blökte erneut und versuchte erfolglos, wieder auf die Beine zu kommen. Dann sah er Elmoruk, wandte ihm den Schädel zu und stieß nach ihm. Doch der Zwerg wich aus, sprang an den Rücken des Tieres und fesselte die Beute gekonnt. Parnuk hingegen erhielt einen schmerzhaften Tritt von der Kuh und schrie wütend auf. Das Tier richtete sich halb auf, aber der Getroffene drückte es wieder nach unten. „Verdammt, packt mal mit an. Das Vieh wehrt sich wie verrückt.“

„Sie will ihre Jungen schützen“, erwiderte einer der Axtschläger.

Gemeinsam fesselten sie das Tier. Der vierte Mann stand vor den beiden verängstigten Jungtieren, die keinen Versuch machten, zu entkommen. Im Gegenteil drängten sie der gefesselten Mutter entgegen, denn ihre Instinkte waren noch darauf ausgelegt, Schutz und Nahrung bei ihr zu finden.

„Ein guter Fang“, knurrte Elmoruk und richtete sich ächzend auf.

„Ein verdammt guter Fang“, bestätigte Axtschläger Maratuk auflachend. „Ein starker Bock, der die Kühe ordentlich bespringen wird, und dazu ein Muttertier mit zwei Jungen, die rasch heranwachsen werden. Ah, ein wahrhaft guter Fang.“

„Die Jungen sind groß genug und werden ins Tal laufen können.“ Parnuk rieb sich das getroffene Bein und sah zu den beiden erlegten Kühen hinüber. „Das ist gut. Dann brauchen wir sie nicht den ganzen Weg zu tragen und können das Fleisch der beiden Kühe mitnehmen.“

„Ja, nehmen wir sie aus. Es hat wenig Sinn, das ungenießbare Zeug mitzuschleppen. Schneiden wir also nur die guten Stücke heraus.“ Elmoruk legte seine Bartzöpfe in den Nacken und verknotete sie, damit sie bei der nun folgenden Arbeit nicht beschmutzt würden, und zückte sein scharfes Messer.

Während die Bauchdecken der erlegten Kühe geöffnet wurden, füllte Maratuk die Wasserflaschen des Trupps auf. Dann bezog er Posten an einem der Felsen und hielt Ausschau nach Gefahr. Unterdessen machten sich die anderen daran, die beiden toten Kühe auszunehmen.

„Reibt das Fleisch gut mit Salz ein“, meinte Elmoruk. „Wir haben einen weiten Weg vor uns, und es soll nicht verderben.“ Er deutete mit der blutigen Klinge auf Parnuk. „Nimm eines der Felle und schabe es sorgfältig aus, damit es sauber ist und wir die besten Stücke darin tragen können.“

„Ich bin zwar zum ersten Mal auf der Jagd, aber ich weiß sehr wohl, was zu tun ist“, erwiderte der Schürfer errötend.

„Dein Netzwurf war gut“, lobte Elmoruk. „Sei also nicht gleich beleidigt.“

Der andere Axtschläger zog soeben Darm und Eingeweide aus dem Bauch der zweiten Kuh, trennte beides ab und warf es zur Seite. Überall stank es nach Blut und dem Darminhalt, den die Tiere im Tode von sich gegeben hatten. „Trotzdem hat er sich einen kräftigen Tritt eingefangen.“ Er sah Parnuk forschend an. „Wirst du bis nach Hause durchhalten?“

„Ich denke, schon.“

„Lass mich mal sehen.“ Elmoruk machte eine auffordernde Geste, dann steckte er das Messer in den Boden und sah zu, wie Parnuk sein Hosenbein nach oben zog. „Nichts gebrochen. Aber du wirst ein bunt geschecktes Bein und Schmerzen bekommen.“ Er musterte Parnuk ernst. „Wenn es nicht mehr geht, dann melde dich.“

„Es wird gehen.“

„Wir sollten uns beeilen.“ Der Wächter kratzte sich am Bart. „Da hinten kommt Nebel auf, und das gefällt mir nicht.“

„Nebel? Jetzt schon?“ Elmoruk erhob sich ächzend und trat zu dem Posten. „Es sind noch mehrere Zehnteltage bis zum Einbruch der Dunkelheit. Vor dem Morgen wird es keinen Nebel geben, denn die Luft ist klar und trocken.“

„Sieh selbst.“ Der Axtschläger wies nach Norden.

Elmoruk beschattete seine Augen. „Du hast recht. Das sieht nach Nebel aus.“

Nördlich von ihnen erstreckte sich ein ausgedehntes Geröllfeld, dessen Felsen im Sonnenlicht scharf konturiert wirkten. Doch hin und wieder wurden die Konturen von einem seltsamen Wallen verdeckt, einem milchig trüben Nebel, wie er am Morgen den Wechsel vom Tag zur Nacht ankündigte, zu dieser Zeit aber höchst ungewöhnlich war.

„Das gefällt mir gar nicht“, brummte der Wächter. „Der Nebel wird immer dichter und breitet sich aus.“ Er sah Elmoruk an. „Und er kommt direkt auf uns zu.“

„Ja, seltsam“, bestätigte der erfahrene Axtschläger. „Aber die nördliche Öde ist auch ein seltsames Land.“

„Kein Land, in dem ich leben oder sterben möchte.“

„Hm.“ Elmoruk sah zu den beiden anderen, welche die Felsböcke zerlegten. „Beeilt euch. Wir wollen sehen, dass wir bald wieder in den Schutz der Berge kommen.“

Parnuk nickte erleichtert. „Einen halben Zehnteltag noch. Wir müssen das Fleisch etwas abhängen lassen, damit das Blut heruntertrieft und wir die Stücke salzen können, sonst verderben sie.“

Elmoruk biss sich auf die Unterlippe und sah den Wächter an. „Hilf ihnen. Ich werde das da selber im Auge behalten.“

„Meine Augen sind gut.“

„Ich weiß.“ Elmoruk legte dem Mann die Hand auf die Schulter. „Aber beim Salzen hast du die flinkeren Finger.“

Der Axtschläger lachte auf und nickte, dann warf er nochmals einen Blick zum Geröllfeld hinüber. „Da geht etwas vor sich, Elmoruk. Achte gut darauf.“

Der Zwerg verzichtete auf eine Erwiderung. Während seine Gefährten sich beeilten, die eingefangenen Tiere und das erbeutete Fleisch für den Transport vorzubereiten, lehnte er am Felsen und spähte misstrauisch zu dem fernen Nebel hinüber. Immer wieder sah er auch in die anderen Richtungen, aber seine Aufmerksamkeit galt der ungewöhnlichen Erscheinung. Das Wabern und Wallen machte es schwer festzustellen, wohin die Nebelfront sich bewegte. Also konzentrierte sich der erfahrene Kämpfer auf einen der Felsen und konnte nun erkennen, dass der Stein immer undeutlicher wurde. Ja, der Nebel kam näher. Wenn es denn Nebel war.

Es sah aus, als verdampfe dort sehr viel Wasser, doch anstatt nach oben zu steigen, hielt sich der Dunst in Bodennähe und wurde immer dichter, während er langsam auf Elmoruk zufloss. An den undurchdringlichsten Stellen des Nebels bemerkte der Zwerg gelegentlich ein Aufblitzen, als tobe dort ein winziges Gewitter. Aber eigentlich war es gar kein richtiges Blitzen, sondern ein sanftes Glühen, das sich ausbreitete wie die Wellen auf der Oberfläche eines Sees, nachdem man einen Stein hineingeworfen hatte, und das dann ebenso wie diese Wellen verebbte.

Nein, der Anblick erfüllte Elmoruk mit immer größerem Unbehagen.

„Wie weit seid ihr?“, rief er den Gefährten zu.

„Fast fertig“, erwiderte Maratuk. „Was macht der verdammte Nebel?“

„Er kommt näher.“

Maratuk nickte. „Dann sollten wir verschwinden.“

Elmoruk bückte sich, hob etwas Sand vom Boden und säuberte sich die Hände, während er abermals zu dem Nebel hinübersah. Er war noch dichter geworden und schien nun auch dunkler zu sein. Der Axtschläger verengte die Augen, als er feste Konturen innerhalb des Wallens zu erkennen glaubte. Täuschten ihn die Sinne?

Inmitten des Nebels meinte er zwei menschliche Gestalten auszumachen. Für einen Augenblick schien das Metall von Rüstungen zu funkeln, aber dann verdichtete sich der Dunst erneut und verschlang alles. Der Zwerg konzentrierte sich auf die Stelle, an der er das Phänomen gesehen hatte. Doch es war nichts mehr zu erkennen. Nur der Nebel, der sich mit einem Mal schneller zu bewegen schien.

Elmoruk hatte nichts gegen einen Kampf einzuwenden, bei dem man einem sichtbaren Feind gegenüberstand, bei dem man wusste, dass die Klinge der eigenen Axt auf Stahl und Fleisch des Gegenübers treffen würde. Aber dieses Wallen und Glühen war ihm unheimlich. Was immer sich in dem Nebel verbarg, es war ihm und den anderen feindlich gesinnt, und Elmoruk hatte das unangenehme Gefühl, dass ihm der gute Stahl seiner Axt hier wenig nützen würde.

Ein wenig blass geworden, wandte er sich endgültig ab und hastete zu den Gefährten. „Beeilt euch, wir müssen los!“

Sie hoben den gefesselten Bock und die geschnürte Kuh auf die Schultern Parnuks und des anderen Axtschlägers, und Maratuk nahm das schwere Fell mit den frischen Fleischvorräten. Als alles bereit war, seufzte Elmoruk erleichtert und blickte sich um.

Zwischen den Felsen am Wasserloch sah es nach einer wilden Schlächterei aus. Blut befleckte den Boden, und die unbrauchbaren Überreste der toten Felsbockkühe lagen achtlos zwischen den Steinen verstreut. Unter anderen Umständen hätten die Zwerge die Spuren sorgfältig beseitigt, aber keinen von ihnen verlangte es danach, länger als nötig an diesem Ort zu verweilen.

Parnuk hatte es besonders eilig, wieder ins Gebirge zu kommen, wenngleich sein Bein verletzt war und er so das Tempo des kleinen Trupps bestimmte. Er merkte kaum, dass Elmoruk immer wieder einen Blick zurückwarf. Aber niemand folgte ihnen, und nachdem ein Zehnteltag verstrichen war, ohne dass ein unheilvoller Nebel oder fremde Gestalten sich auf sie stürzten, war der Truppführer erleichtert. Schließlich ließ er eine Rast einlegen, obwohl sie die Öde noch nicht hinter sich hatten. Aber der Rand des Gebirges Noren-Brak war nun nahe, und inmitten einer Felsengruppe fühlten sie sich einigermaßen sicher.

Sie hatten den ausgewachsenen Felsböcken die Mäuler zugebunden, damit ihr Blöken die Gruppe nicht verriet. Die beiden Jungen waren folgsam auf ihren dürren Beinen mitgelaufen und wirkten nun erschöpft. Sie störten sich nicht an den Fesseln des Muttertieres, sondern stürzten sich sofort auf dessen Zitzen, als Maratuk es auf den Boden legte.

„Wir müssen den Älteren die Fesseln lösen“, brummte Elmoruk, „damit auch sie etwas saufen und fressen können.“

Parnuk nickte und sah auf die beiden jungen Felsböcke, die gierig saugten. „Wir sollten uns ebenfalls etwas zubereiten. Es wird sowieso bald dunkel. Am besten lagern wir im Schutz dieser Felsen und braten uns etwas Fleisch.“ Er leckte sich über die Lippen. „Ich habe schon lange kein geröstetes Felsbockfleisch mehr gegessen.“

Der Gedanke war sicherlich verlockend. Elmoruk strich sich über die Enden seiner langen Bartzöpfe. Eine der gelben Schnüre, mit denen sie gebunden waren, hatte sich ein wenig gelockert, und der Truppführer ließ sich ächzend nieder und löste den Knoten. „Die Felsen bieten uns Schutz. Ich denke, du hast recht. Mit der Beute schaffen wir es vor Einbruch der Nacht nicht mehr ins Gebirge. Also schön, richten wir uns hier für die Nacht ein.“ Er sah die anderen eindringlich an. „Aber kein Feuer.“

„Keinen Braten?“, brummte Parnuk enttäuscht. „Bei den feurigen Abgründen von Irghil, wozu die ganze Plackerei, wenn wir uns nicht einmal einen herzhaften Bissen gönnen dürfen?“

„Wir sind noch immer in der Öde“, entgegnete Maratuk an Elmoruks Stelle. „Fremdes Land, Parnuk. Feindliches Land.“

„Es ist vor allem totes Land“, versetzte Parnuk störrisch. „Ich kann hier keine Gefahr entdecken.“

„Dein Hunger ist größer als dein Verstand“, zischte der andere Axtschläger. „Als wir die Öde betraten, konntest du es kaum erwarten, sie wieder zu verlassen. Und jetzt willst du hier ein gemütliches Feuer machen, damit man uns auf große Entfernung sehen kann. Verdammter Schürfer.“

„Was soll das heißen?“ Erbost wandte sich Parnuk dem Axtschläger zu. „Ich habe meinen Teil dazu beigetragen, dass wir nun das Fleisch haben. Du hast kein Recht, mich zu beleidigen.“

„Ruhe!“ Elmoruk ließ das Zopfende sinken, das er gerade neu flocht, und hob den Kopf. „Seid still, ich höre etwas!“

Die anderen schwiegen und lauschten. Parnuk nickte zögernd. „Ich auch. Steine, die sich bewegen.“

Elmoruk deutete auf die jungen Böcke. „Haltet ihnen die Mäuler zu. Da marschiert jemand durch die Öde, und ich will nicht, dass er uns bemerkt.“

Begleitet von Maratuk, schob sich Elmoruk in die Deckung einiger größerer Felsen und spähte in die Richtung, aus der die schwachen Geräusche erklangen. Ab und zu war das leise Klicken und Poltern eines rollenden Steines zu hören.

„Wer immer das auch ist“, hauchte Maratuk, „er bewegt sich leise.“

Der Boden war dicht mit Geröll bedeckt, und so ließen sich Geräusche nicht ganz vermeiden. Ein Glück für die Zwerge, die sonst die Herannahenden wohl nicht bemerkt hätten.

Elmoruk legte die Hand auf die Schulter des anderen Axtschlägers und deutete nach rechts. Dort erschienen undeutlich Gestalten, die langsam näher kamen. „Elfen“, flüsterte der erfahrene Kämpfer. „Wenigstens eine Hundertschaft.“

Auf die Entfernung konnte man weder ihre Gesichter noch die spitzen Ohren erkennen, aber ihre Gestalt machte sie unverwechselbar: Schlanke, hochgewachsene Männer mit den hellblauen Umhängen ihres Volkes. Sie trugen die typischen hohen Helme mit dem Nackenschutz und dem aufragenden Symbol ihres Hauses an der Stirn. Die Zwerge konnten das Zeichen nicht erkennen, aber es mussten Elfen von einem der Häuser des Waldes sein, denn die Muster auf Kleidung und Helmen waren eindeutig. Über den Schultern ragten die langen Bogen empor, und an den Hüften hingen Pfeilköcher und Schwerter. Viele der Elfen trugen zudem schwere Lasten mit sich.

„Sie marschieren in die Öde hinein“, murmelte Maratuk.

„Nein, nicht in die Öde.“ Elmoruk duckte sich tiefer hinter die Felsen. Elfische Krieger hatten verdammt scharfe Sinne, und er wollte nicht, dass die Spitzohren ihn und seine Männer bemerkten. Er zog Maratuk nach unten und bedeutete ihm zu schweigen. „Sie marschieren nach Osten, am Rand des Gebirges entlang“, flüsterte er. „Wahrscheinlich zum Pass von Rushaan, der in die Länder der Orks hineinführt.“

„Ob es wieder Krieg gibt?“ fragte Maratuk erschrocken. „Werden die Legionen des Schwarzen Lords wieder gegen den Bund kämpfen?“

„Ich glaube nicht, dass die Elfen in den Kampf ziehen. Dafür sind es zu wenige. Gerade mal eine Hundertschaft ihrer Bogen.“

„Ja, du hast recht.“

Die Elfen zogen vorüber, schweigend und nahezu lautlos. Nur gelegentlich rollte ein Stein unter dem Tritt eines Fußes. Eine schemenhafte Prozession, die schon bald wieder aus dem Blickfeld der Zwerge verschwunden war.

„Glaubst du wirklich, sie wollen zum Pass von Rushaan?“

Elmoruk nickte entschlossen. „Sie werden nicht in die Öde vordringen. Niemand dringt dorthin vor.“

Maratuk nickte mit düsterer Miene. „Und wer es tut, kommt nicht mehr zurück. Die ‚Anderen‘, die Wächter, sie dulden es nicht.“

„Die Wächter sind nur ein Gerücht, nicht mehr als ein Aberglaube“, brummte Elmoruk. Aber seine Stimme verriet Zweifel. Er musste an die Schemen denken, die er in dem Nebel gesehen hatte.

„Es macht keinen Unterschied, ob die Elfen den ‚Anderen‘ oder den Orks begegnen.“ Maratuk richtete sich auf und bedeutete den Begleitern mit einem Wink, dass die Gefahr vorüber sei. „Sie sind so gut wie tot. Kein lebendes Wesen wird den Wächtern entkommen. Und um einer Legion der Orks standzuhalten, sind sie zu wenige.“

„Sollten wir sie nicht warnen?“

„Wozu?“ Maratuk zuckte die Schultern. „Die Elfen sind nicht unsere Freunde. Und sie leben schon lange genug, um zu wissen, was in Rushaan vor sich geht.“

Parnuk und der andere Axtschläger waren erleichtert und beeilten sich, die Tiere zu versorgen. Sie erhoben keinen Widerspruch, als Elmoruk entschied, in die hereinbrechende Nacht zu marschieren. „Je eher wir den Schutz unserer Berge erreichen, desto besser“, seufzte Parnuk. „In dieser Öde fühle ich mich nicht wohl.“

Elmoruk sah nachdenklich in die Richtung, in der die Elfen verschwunden waren. „Es heißt, sie werden das Land bald verlassen.“

Maratuk lachte und schulterte den gefesselten Felsbock. „Wer? Die Elfen? Das kümmert mich wenig. Kommt, lasst uns lieber zusehen, dass wir das Fleisch nach Hause schaffen. Ich möchte hier nicht länger bleiben. Das ist ein Land des Todes.“

Elmoruk nickte. Er glaubte nicht, dass einer der Elfen aus der Öde zurückkehren würde. Egal, was ihr Ziel war, sie würden nur den Tod finden.

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240426042610447338d6
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Die Pferdelords und die Paladine der toten Stadt

Reihe: Die Pferdelords Bd. 6

Autor: Michael H. Schenk

Taschenbuch: 624 Seiten

Verlag: MIRA TASCHENBUCH IM CORA VERLAG; Auflage: 1 (3. November 2008)

Sprache: Deutsch

ISBN-10: 3899415272

ISBN-13: 978-3899415278

Erhältlich bei: Amazon

Disclaimer:

Freigabe zur Weiterveröffentlichung der Leseprobe besteht, soweit vom Autor nicht anders angegeben nur für "FantasyGuide.de". Für alle weiteren Veröffentlichungen ist die schriftliche Zusage des Autors erforderlich.


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Erstellt: 23.07.2008, zuletzt aktualisiert: 24.02.2015 21:10, 6964