Dornenthron von Boris Koch
Rezension von Ellen Norten
Dunkle Märchen
Wie würden heute die von den Gebrüdern Grimm gesammelten Märchen aussehen? Mystik und Fantasy liegen im Trend, doch erzählt heute niemand mehr Geschichten beim abendlichen Kaminfeuer, dazu haben wir Kino, Fernsehen oder Bücher. In letzteren versuchen sich Autoren im Thema und der Dornenthron von Boris Koch liefert ein gutes Beispiel. Der Verlag preist den Roman als Neuinterpretation von Dornröschen an, doch bei der Lektüre wird schnell klar, dass hier noch andere Märchen Pate gestanden haben und diese in einem aktuellen Märchenbuch geschickt verwoben sind. Die Ereignisse sind schaurig, manchmal brutal und für zarte Kindergemüter nicht geeignet, aber es handelt sich ja auch nicht um ein Kinderbuch, wie der Autor dies in seiner Danksagung gegenüber seiner vierjährigen Tochter Elli äußert, ihr jedoch für ihre Inspirationen dankt.
Boris Koch entführt uns in das Königreich Lathien, das einst mit anderen Ländern gemeinsam zu einem großen Kaiserreich gehörte und von der prächtigen Stadt Ycena aus regiert wurde. Heute hält in Lathien der despotische König Tiban das Zepter in der Hand und quält seine Untertanen. Zu ihnen zählt der arme Müllersgehilfe Ukalion, sein unehelicher Sohn, der trotz dieser Abstammung keine Privilegien genießt. Als Ckaryas, die große Liebe seines Lebens beim Wildern erwischt wird, kann er ihr nicht helfen und Ckaryas stirbt nackt und gedemütigt mit dem blutigen Geweih ihres Wildgutes auf dem Kopf am Strick. Ukalion schwört Rache und will den König stürzen, indem er dem alten Kaiserreich zu neuer Blüte verhilft. Der Weg dahin führt in die geheimnisvolle Stadt Ycena in der – wie könnte es anders sein – eine Prinzessin mit einem Kuss aus ihrem hundertjährigen Schlaf gerissen werden muss.
Ukalion bricht zu seiner Mission auf und trifft auf andere Untertanen, deren Wege aus verschiedenen Gründen in die alte Kaiserstadt führen. Da ist Anthia, die ihren Bruder Grigio rächen will, dessen junges Leben ebenfalls am Strick endete. Wir lernen Perle und ihren Bruder Ion kennen, die von ihren Eltern als Leibeigene verkauft wurden. Die Kinder fliehen, verirren sich im sogenannten Wilden Wald und treffen eine mysteriöse Frau.
»Was macht ihr hier?«, erklang plötzlich eine Stimme hinter ihnen, und Perle zuckte zusammen, während Ion keuchte. Es war eine tiefe, kräftige Frauenstimme, der Ton scharf.
Sie wirbelten herum und sahen eine hochgewachsene Gestalt mit langen, weißblonden Haaren, die Perle auf den ersten Blick für einen Geist oder einen Dämon hielt, so schrecklich war ihr Gesicht, das wie das Zerrbild eines Menschen erschien. Doch dann erkannte sie, dass es sich um eine Frau handelte, die von zahlreichen Narben entstellt war. Runde Narben um die Augen, gerade Linien über den Nasenrücken, wulstige Verlängerungen der Lippen im Mundwinkel und ein Gewirr von verheilten Schnitten über Wangen und Stirn, rot und weiß und ausgefranst.
»Bitte …«, flehte Ion und verstummte, bevor er herausgebracht hatte, um was er bat.
»Wir haben uns im Wald verirrt«, erklärte Perle. »Und dann haben wir das Kaninchen gerochen.«
»Ihr habt also Hunger?« Die Frau zeigte ihnen ein Lächeln. Ihre Augen waren leuchtend grün und strahlten, doch das vernarbte Gesicht blieb trotz der lächelnden Lippen nahezu reglos wie eine Maske. S. 279
Wer ist die unheimliche Frau, sieht so die moderne Hexe aus, die freundlich um die verfolgten Kinder wirbt?
Und dann ist da noch Tyra, deren Sohn spurlos verschwindet. Ein boshafter Gaukler entführt erstgeborene Kinder und deren Spur führt ebenfalls nach Ycena.
Die äußerst spannenden Episoden hängen alle mit der geheimnisvollen Kaiserstadt zusammen. Wir tauchen ein in eine fremde Welt, in eine unbekannte Zeit, doch die Abenteuer, die uns umgeben sind lebendig und nachvollziehbar. Das Buch ruft bei mir längst verschüttet geglaubte Erinnerungen wach, an eine Zeit in der Märchen meine Fantasie beflügelten. Der Dornenthron präsentiert Märchen für Erwachse, vielseitig, bunt und grausam. Und so warte ich gespannt darauf, wie es weiter geht, in der in Aussicht gestellten Fortsetzung des Buches.
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