Drei Phasen der Entwurzelung oder Die Liebe der Schildkröten (Autorin: Lisa Jenny Krieg)
 
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Drei Phasen der Entwurzelung oder Die Liebe der Schildkröten von Lisa J. Krieg

Rezension von Ralf Steinberg

 

Rezension:

Das Jahr 2022 brachte der deutschsprachigen Science-Fiction eine erstaunlich große Anzahl beeindruckender SF-Romane. Die Titel verbreiteten sich über die sozialen Medien, so las man im zweiten Halbjahr regelmäßig irgendwo: »Die Schildkröten musst du unbedingt lesen!« Gemeint war: Drei Phasen der Entwurzelung oder Die Liebe der Schildkröten von Lisa Jenny Krieg.

 

Der Roman verfolgt die Leben dreier Frauen, drei Generationen aufeinander folgender Weiterentwicklungen der Menschheit – und wie es der Titel bereits vorwegnimmt, ist diese Entwicklung enorm. Sie führt weiter weg von unserer heutigen Zivilisation als in den meisten Utopien oder Dystopien.

 

Zunächst lernen wir Anna kennen. Die Meeresbiologin arbeitet in einem Institut, dass sich mit Genetik befasst. Vor 154 Jahren brach in den Feuern ein Großteil der Zivilisation zusammen, Reste davon besiedeln äquatornahe Gebiete, doch Klimakatastrophen engen die bewohnbaren Bereiche immer weiter ein. Es Kampf um Ressourcen spaltet die Gesellschaft. Erschwert wird das Ganze durch ein biologisches Problem. Genschäden führten zur Verwendung tierischer DNA am Menschen, diese Hybriden bilden keine einheitliche Form, vielmehr entwickelten sich die unterschiedlichsten Mischformen. Anna etwa kann unter Wasser atmen, wenn sie es auch nur sehr ungern tut. In letzter Zeit mehreren sich Angriffe unveränderter Menschen auf die hybriden Menschen, das alte Übel rassistischer Ängste und des Hasses gegenüber Anderen.

Doch Anna ist Wissenschaftlerin, die sich am liebsten ganz in ihrer Arbeit versenken möchte, um weder an das Leid in ihrer Vergangenheit denken zu müssen, noch an die Offerten der Zukunft, etwa der junge Mann, der dem Traum nachhängt, im Meer einen der längst verschwundenen Wale zu finden.

Doch Annas Leben bricht auseinander und es dauert, biss sie es wieder zusammensetzen kann. Eine wesentliche Rolle spielen dabei die Begegnung mit einer unveränderten Meeresschildkröte und das Kind, das in ihr wächst …

 

Dieser erste Teil führt uns in eine nicht so ferne Zukunft, in der die Menschen mit Klimakatastrophen zu leben lernten und sich teilweise durch genetische Anleihen an Tiere veränderten. Das Meer spielt dabei bereits eine große Rolle, ist es doch bewohnbarer noch als das Land und viele der hybriden Menschen können dort leben.

Lisa Jenny Krieg zeigt uns diese Welt durch die Augen einer jungen Frau, die mit ihren Problemen kämpft und dennoch bereits über eine ungewöhnliche Sichtweise verfügt. Die Autorin unterstützt das durch eine lyrische Sprache, die durch den Präsenz der Erzählzeit eine große Nähe zu den Figuren und ihrer Umwelt erschafft. Darum ist es zunächst auch sehr traurig, wenn man Anna verlassen muss und sich ihrer Tochter Nisha zuwendet.

 

Doch der zweite Teil fasziniert fast sofort durch das bildgewaltige Unterwasserleben, denn Nisha lebt tatsächlich komplett in der Unterwasserstadt. Die Jugendliche hatte eine schöne und behütete Kindheit. Aber auch hier droht Unheil. Eine tödliche Krankheit befällt die domestizierten Schildkröten, es werden immer weniger Kinder geboren und auch der Rassismus an Land bleibt ein Problem. In dem Gefühl, von den Erwachsenen nicht ordentlich unterstützt zu werden, beschließt eine Gruppe der jungen Unterwassermenschen, ein Leben in der Tiefsee zu führen und gründen eine Art bolo oder Kibbuz. Aus ihrer Sicht ist das Leben an Land für die zukünftige Menschheit passé.

 

Neben dem Auslotens einer solchen Gemeinschaft wird dieser Teil durch den Abnabelungsprozess bestimmt, den Nisha durchläuft und der in der Metarmorphose gipfelt, die im Titel dieses Teiles angekündigt wurde. Nisha als Figur kommen wir sogar noch näher als Anna und mit den Leben dieser beiden Frauen im Kopf stürzen wir in den wohl phantastischsten Teil des Romans.

 

Lokapi erforscht einen seltsamen Wald, der sich in einer interdimensionalen Blase befindet, voller Lebewesen, die auf der Erde längst ausgestorben sind. Leider lässt sich nichts aus dieser Blase mitnehmen und so verlieren ihre Geldgeber allmählich die Geduld, das Projekt steht vor dem Aus. Doch Lokapi spürt eine starke Verbindung zu dem Wald, zu den Pflanzen und Tieren dort. Die junge Frau wurde in einen fernen Dorf großgezogen und folgte schon damals einem Sog, der sie nun hierhin führte und so ist bald klar, für welches Leben sie sich entscheidet. Doch der Wald überrascht sie mit ein paar Antworten auf ihre quälenden und auch auf einige ihrer ungestellten Fragen …

 

Diese dritte Phase der Entwurzelung ist die phantastischste. Konzept und Ausführung erinnern an Werke des magischen Realismus, Lokapis Suche zielt auf Transformation und Transzendenz, denen man vielleicht nicht unbedingt folgen können muss. Hier bietet die Autorin eine sehr exotische Gedankenwelt an, die so faszinierend wie auch unorthodox erscheint. Das Finale ist dann zwar auch eine direkte Konsequenz aus den drei Teilen, verlässt aber deutlich die Grenzen der Science-Fiction im klassischen Sinne.

Wem diese Art der phantastischen Reise gefällt, wird hier in Begeisterung schwelgen.

 

Lisa Jenny Krieg ist als Ethnologin sehr daran interessiert sich zu überlegen, was mit dem Mensch als Spezies alles noch geschehen wird, wenn sie sich an die selbstverschuldeten Klimakatastrophen anpassen muss. Können genetische Eingriffe dabei helfen? Wie beeinflusst das unser Zusammenleben, wie stellt sich ein Leben unter Wasser dar?

Mit der Hybridisierung und der Möglichkeit, sich Lebensräume zu erschließen, wie sie hier Lokapi von den ganz besonderen Schildkröten gezeigt werden, findet die Autorin einen hoffnungsvollen Weg in die Zukunft.

 

Der Wortschatten Verlag spendierte dem Werk ein auffälliges Cover. Dietrich Betcher brachte Titelei und stilisierte Schildkröten sehr elegant in einem wundervollen Blau unter, das an Annas Vater erinnert und seine Vorliebe für alle Töne dieser Farbe, die für ihn das Meer bedeuteten. Ein würdiger Hingucker.

 

Fazit:

Mit ihrem Debüt »Drei Phasen der Entwurzelung oder Die Liebe der Schildkröten« entwirft Lisa Jenny Krieg eine Zukunft, in der sich die Menschheit verändern muss, um überleben zu können. In beeindruckender Weise führt sie uns durch die Leben dreier Frauen in eine exotische und phantastische Utopie. Ein Höhepunkt deutschsprachiger Science-Fiction und einer der besten Romane des Jahres 2022.

 

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Buch:

Drei Phasen der Entwurzelung oder Die Liebe der Schildkröten

Autorin: Lisa J. Krieg

Taschenbuch, 464 Seiten

Wortschatten Verlag, 4. November 2022

Cover: Dietrich Betcher

 

ISBN-10: 3969640288

ISBN-13: 978-3969640289

 

Erhältlich bei: Amazon

 

Kindle-ASIN: B0BN6N2PH2

 

Erhältlich bei: Amazon Kindle-Edition


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Erstellt: 09.04.2023, zuletzt aktualisiert: 10.03.2024 18:58, 21778