Graues Land (Autor: Michael Dissieux)
 
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Graues Land von Michael Dissieux

Rezension von Torsten Scheib

 

Rezension:

»Die Welt hat sich weitergedreht« – es ist ebenjenes Zitat, das den rüstigen Rentner Harvey verfolgt; selbst über das vermeintliche Ende der Zivilisation hinaus. Denn die Welt hat sich in der Tat gewandelt, wenngleich nicht zum Besseren. Was zunächst mit dem unvermittelten Ausfall der Fernsehsender beginnt und durch das konstante Ausbleiben von Strom fortgeführt wird, mündet in Stille. Nicht lange, bis sich ein nebelartiges Konstrukt über das Land legt und Harvey klar wird, dass etwas geschehen ist. Etwas Gewaltiges, Allumfassendes, Radikales. Auf einmal entpuppt sich die abgelegene Hütte in den Bergen nicht als Rückzug, denn als Falle – zumal sonderbare Kreaturen des Nachts ums Haus schleichen. Und jene, von Harvey Shoggothen getauften Wesenheiten sind alles andere als friedlich, wie ein kurzer Zusammenstoß beweist. Doch bis zum jüngsten Tage kann und will sich Harvey nicht verkriechen. Er muss in Erfahrung bringen, was mit der Welt passiert; was aus seinem Sohn und dessen Familie geworden ist. Außerdem ist da noch seine bettlägerige und schwerst demenzkranke Frau, die ebenfalls versorgt werden muss.

So steigt er schließlich entschlossen in seinen klapprigen, aber zuverlässigen Van. Sein Ziel? Der Gemischtwarenladen seines Freundes Murphy. Doch ebendort muss Harvey die bittere Lektion erfahren, dass sich nicht nur die Welt weitergedreht hat – die Menschen darin haben sich ebenfalls verändert …

 

Der Plot von Graues Land mag wie eine weitere, längst standardisierte postapokalyptische Mär daherkommen, entpuppt sich aber bereits nach wenigen Seiten als packend, originell und vor allem anders. So ist Michael Dissieux’ Held Harvey kein muskelbepackter, hitzköpfiger Jüngling sondern vielmehr ein alter Mann, der neben seinen vorhandenen Sorgen zudem mit der Last einer im Untergang befindlichen Welt zurechtkommen muss. Verfasst in der ersten Person werden wir Zeuge von Harveys Erinnerungen, seinen Träumen und Alpträumen; erhält der Roman dank dieser Vorgehensweise eine packende Tiefe, der man sich, trotz der traurigen Natur der Geschichte weder entziehen kann noch will. So entwickelt sich rasch neben einer verdammt guten Endzeitgeschichte zudem ein Disput, der sich mit gewichtigen Dingen auseinandersetzt: dem Alter. Der Liebe. Der Hoffnung. Der menschlichen Natur. Es ist dieser Charakter, der den Roman auf eine andere Stufe hebt und überdeutlich werden lässt, wie kraftvoll und reflektierend (dunkle) Phantastik in seinen besten, scharfsinnigsten Augenblicken sein kann.

 

Daneben kann Dissieux auf seine konsequente und stets fokussierte Story bauen. Wenngleich gelegentlich die Arbeiten eines H. P. Lovecraft herangezogen werden, so besitzt »Graues Land« nicht die ausschweifende Natur des Vorbilds, ist prägnant und kommt stets auf schnellstem Wege auf den Punkt. Gerade diese nüchterne Erzählweise ist es, der »Graues Land« einen Teil seiner unheimlichen Atmosphäre zu verdanken hat. Seine Prosa bleibt stets stringent, wie auch die Handlung selbst. Über weite Strecken gibt es nur Harvey und dessen ganz persönlichen Mikrokosmos. Was darüber hinaus in der Welt geschieht, bleibt überwiegend spekulativ; ein gekonnter Kniff, der unweigerlich dafür sorgt, dass sich die form- und gesichtslosen Züge der Gefahr in den Verstand des Lesers einnisten und die Furcht vor der allumfassenden, unbekannten Komponente auf ein Vielfaches erhöhen. So greift ein Rädchen ungemein präzise ins andere; ergänzt sich der geradlinige Stil mit der stets direkten, von mehr als nur einem Hauch Melancholie durchzogenen Handlung. Ein ungemein fesselndes Leseerlebnis also, dass auch nach Beendigung nur sehr schwer aus dem Kopf eines Lesers weichen will. Hier haben sowohl Autor Dissieux also auch der neu gegründete Luzifer-Verlag eine Duftnote gesetzt, die erst mal übertroffen werden muss – auch von der so hoch gelobten internationalen Konkurrenz beziehungsweise den immer abgestumpfter daherkommenden Großverlagen. Definitiv kann »Graues Land« jetzt schon unbestreitbar als einer DER Höhepunkte des noch jungen Jahres bezeichnet werden, dem hoffentlich auch der entsprechende Erfolg beschieden sein wird.

 

Fazit:

Unheimlich, melancholisch, ergreifend, spannend – Michael Dissieux’ Romaneinstand ist ein beeindruckender Erstling geworden, der es mühelos mit den Schwergewichten der gegenwärtigen dunklen Phantastik aufnehmen kann. Bravo!

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 2024042510365805a07b04
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Buch:

Graues Land

Autor: Michael Dissieux

Taschenbuch, 272 Seiten

Luzifer Verlag, Dezember 2011

Illustrationen: Nenad Becarevic

 

ISBN-10: 3943408035

ISBN-13: 978-3943408034

 

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 20.03.2012, zuletzt aktualisiert: 03.12.2021 16:09, 12405