GRM Brainfuck (Autorin: Sibylle Berg)
 
Zurück zur Startseite


  Platzhalter

GRM Brainfuck von Sibylle Berg

Rezension von Ralf Steinberg

 

Verlagsinfo:

Die Brave New World findet in wenigen Jahren statt. Vielleicht hat sie auch schon begonnen. Jeden Tag wird ein anderes westliches Land autokratisch. Algorithmen, die den Menschen ersetzen, liegen als Drohung in der Luft. Großbritannien, wo der Kapitalismus einst erfunden wurde, hat ihn inzwischen perfektioniert. Aber vier Kinder spielen da nicht mit – sondern gegen die Regeln. Und das mit aller Konsequenz. Willkommen in der Welt von GRM.

 

Rezension:

Die Mutter der Dystopie hätte GRM Brainfuck von Sibylle Berg werden können und für gut 300 Seiten ist es das auch. »GRM« erklommt mühelos die Höhen medialer Aufmerksamkeit, nicht ganz typisch für einen deutschsprachigen Science-Fiction-Roman.

 

Sibylle Berg bereiste die düstere Phantastik schon in Ende gut und offenbar gibt es fünfzehn Jahr später noch immer gute Gründe, uns den Spiegel der Realität vorzuhalten und auf ihre Finsternis hinzuweisen. Gut, es sind keine Hinweise, es sind Faustschläge in die Weichteile unserer heilen Welt.

 

Der Roman verschleppt uns nach Rochdale, einem tristen englischen Nest, mit Dauerregen und Wohnblocks voller Menschen, die kaum Arbeit aber jede Menge Wut auf alles haben. Ein sozialer Brennpunkt. Die Bankenkrise, der Syrienkrieg, Brexit – die britische Gesellschaft geht langsam den Bach runter. Während die Erwachsenen in Gewalt, Drogen und Sex versumpfen, gibt es keine Wärme oder Liebe für Kinder. Darunter Don, Hannah, Peter und Karen. Ihre Welt ist etwas, das ihnen passiert, die ihnen ständig etwas antut, in der Menschen sie benutzen, wegzuwerfen versuchen und bestenfalls übersehen. Es ist eine Welt, der sie entfliehen wollen, die es ihnen aber schwer macht, mit ständig zunehmender Überwachung, Digitalisierung und Entwertung. Eine Welt, geführt von Idioten, Programmen und Wut. Den Soundtrack zu ihrer Welt liefert Grime, dessen Vorreiter Skepta, wie passend, gerade erst sein neuestes Album veröffentlichte. Einstmals wütender britischer Rap, der sich den Dreck aus Lunge und Hirn tanzte.

 

Weite Teile des Romans brennen uns die sozialen Missstände in die Netzhaut. Vermutlich jegliche Art von Missbrauch, Körperverletzung, Vernachlässigung, Dummheit, Kontrollverlust und technischer Überlegenheit wird immer und immer wieder über uns ausgeschüttet. Dutzende Biografien verschlingen sich in einem schnell drehenden Karussell und reißen jegliches Licht und alles Gute aus dem Heute, präsentieren ein schwarzes Loch aus Zukunftsmaterie. Sibylle Berg seziert gnadenlos männliche Machtwünsche, die hinter konservativer Restauration stecken, hinter Abtreibungsverbot, Sexismus und Diskriminierung. Sie führt uns vor Augen was passiert, wenn die Populisten die Meinungshoheit gewinnen und die Demokratie nutzen, ihre oligarchisch, diktatorischen Träume zu realisieren. Sie macht den Überwachungsstaat transparent, der bei ihr kein Orwellscher Unterdrückungsapparat ist, sondern eine Mitmachbewegung, der InfluenzerInnen, SelbstdarstellerInnen, MegabloggerInnen und EndgerätenutzerInnen. Auf dem Weg zur Schlachtbank, Spaß daran und live dabei.

 

Das alles ist wunderbar böse und überlappend erzählt. Episch, treffsicher und spitzfindig. Doch es hört nicht auf. Die Autorin findet immer noch eine Perversion, die bisher nicht vorkam, immer noch eine neue Möglichkeit, technischen Fortschritt in einen Albtraum zu verwandeln. Irgendwann sind es der Gewürze zu viele und die Suppe ist überwürzt. Das mag auf einer Ebene passen, ermüdet aber und nimmt der spitzen Feder einiges an Wucht. Man hat ja irgendwann verstanden. Das deprimierende an »GRM« ist, dass da kein Ausweg kommt, weder im Buch, noch davor. Sibylle Berg hat Recht; das auszuhalten, macht der Megabrainfuck von »GRM« nicht leicht.

Also keine Mutter der Dystopie, sondern ihr Babylon.

 

Als Reaktion auf die geballte negative Weltsicht verfasste unser Redakteur Markus Mäurer einen Essay auf TOR online: Schluss mit der Schwarzseherei! Warum Zukunft wieder ein positiv besetzter Begriff werden muss.

 

Fazit:

»GRM Brainfuck« von Sibylle Berg haut uns um die Ohren, was an dieser Welt schlecht ist und erklärt uns auch noch, was in Zukunft noch schlimmer werden wird, dass alles Gute dem Missbrauch geweiht ist und wir fröhlich grinsend auf dem falschen Weg hopsen.

Science-Fiction mit Augenöffnerfunktion, der Klinge des Wahnsinns und smartem Sprachdesign. Ein Buch, das zum Aufschreien, Aufstehen und Aufhören zwingen möchte.

Und eigentlich auch eins über Liebe.

Nach oben

Platzhalter

Buch:

GRM Brainfuck

Autorin: Sibylle Berg

Gebundene Ausgabe, 639 Seiten

Kiepenheuer & Witsch, 11. April 2019

Cover: Claus Richter

 

ISBN-10: 3462051431

ISBN-13: 978-3462051438

 

Erhältlich bei: Amazon

 

Kindle-ASIN: B07K7SJLQP

 

Erhältlich bei: Amazon


Platzhalter
Platzhalter
Erstellt: 07.06.2019, zuletzt aktualisiert: 27.03.2024 18:28, 17637