Herrin der Lüge (Autor: Kai Meyer)
 
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Herrin der Lüge von Kai Meyer

Rezension von Martin Weber

 

Das Mädchen Saga ist mit einem einmaligen Talent gesegnet (oder verflucht): sie ist die begnadetste Lügnerin der Welt. Allerdings kann sie ihre Zuhörer nur dann von ihren Worten überzeugen, wenn diese in ihrem tiefsten Inneren an das Gehörte glauben wollen. Zusammen mit ihrer Familie zieht Saga zu Beginn des 13. Jahrhunderts durchs Deutsche Reich und nützt unter anderem diese Begabung zur Lüge bei ihren Auftritten, indem sie ausgewählte Zuschauer vor dem Publikum bloßstellt. Während einer Vorstellung auf Burg Lerch kommt es allerdings zum Eklat, denn die Wachmannschaft verhaftet Sagas Zwillingsbruder Faun, der wieder einmal lange Finger gemacht hat. Alles Bitten und Betteln hilft nicht, der Dieb bleibt inhaftiert und muss mit einer drakonischen Strafe rechnen. Doch Saga kann Faun nicht im Stich lassen und macht sich mit der wahnwitzigen Absicht auf, ihn aus seinem Kerker zu befreien. Darauf hat Gräfin Violante - die Burgherrin - nur gewartet, die Gauklerin tappt in die von ihr gestellte Falle und wird ebenfalls festgesetzt. Die Adelige erpresst Saga damit, Faun hinrichten zu lassen, wenn sie nicht bereit ist, ihr Lügentalent in Violantes Sinn einzusetzen. Saga soll als Heilige namens Magdalena auftreten, die zu einem neuen Kreuzzug aufruft. Das Besondere daran ist nun, dass sich der Appell nicht an die politisch und militärisch maßgeblichen Kräfte richtet, sondern an Jungfrauen aus dem einfachen Volk – mit der Kraft der unbefleckten Weiblichkeit soll das Heilige Land befreit werden.

 

Doch es ist nicht das Feuer des christlichen Glaubens, das Violante in Wirklichkeit antreibt. In Wahrheit verfolgt sie diesen aberwitzigen Plan, um ihren beim letzten Kreuzzug verschollenen Gatten aufzufinden. Ihrer Meinung nach können es sich der Papst und die europäischen Herrscher nicht leisten, tausende von wehrlosen Frauen ohne Unterstützung ins Morgenland übersetzen zu lassen. Die Gräfin hofft, dass ein Ritterheer mitgeschickt wird und damit die Erfolgsaussichten steigen. So bricht sie mit Saga und einigen Begleitern auf und zieht nach Venedig. Auf dem Weg nach Italien muss die Gauklerin erstmals als Magdalena auftreten und Gefolgschaft rekrutieren; eine Aufgabe, die sie bravourös bewältigt. Allmählich findet sie sogar Gefallen an der Macht, die sie mit Hilfe ihres Lügengeistes ausüben kann.

 

Mächtige Gegenspieler stehen allerdings den Plänen der Gräfin feindselig gegenüber und tun alles, um sie zu durchkreuzen. Es werden sogar Attentäter auf die Magdalena angesetzt, um dem Treiben des Jungfrauenkreuzzuges ein frühes Ende zu setzen. Und Saga ahnt nicht, dass es Faun mittlerweile gelungen ist, aus dem Gefängnis auszubrechen und sich auf ihre Spur zu heften. Faun trifft dabei auf eine junge Frau, die ihn auf seinem weiteren Weg begleitet. Dieses Mädchen trägt jedoch ein finsteres Geheimnis mit sich, das die auf der Reise lauernden Gefahren noch vervielfältigt …

 

 

KOMMENTAR

 

Uns Lesern von phantastischer Unterhaltungsliteratur geht es ein wenig wie den willigen Zuhörern der Magdalena: wir wollen belogen werden, wollen in eine erfundene Welt eintauchen, wollen den Erfindungen der Schriftsteller glauben, damit wir für einige Stunden der banalen Realität entfliehen können; wir brauchen dieses „Brot der Lüge“, um nicht am Mangel an Abenteuer & Phantasie innerlich abzusterben.

 

Einer, von dem sich immer mehr Menschen gerne belügen lassen, ist Kai Meyer. Wie in „Das Buch von Eden“ - seinem letzten Roman für ein erwachsenes Publikum - fungiert auch diesmal das Hochmittelalter als Bühne für ein episches Drama. Und wieder wurde daraus eine Geschichte, die über 800 Seiten benötigt, um zu einem Ende zu kommen: anscheinend gibt es eine eindeutige Tendenz dahingehend, dass die Bücher umso länger werden, je länger eine Schriftstellerkarriere anhält (siehe Stephen King, Wolfgang Hohlbein, Elisabeth Georg u.a.). Nun ist Kai Meyer als 69er-Jahrgang noch relativ jung, hat als Autor jedoch bereits über eine Dekade auf dem Buckel und kann auf mehrere dutzend Veröffentlichungen zurückblicken. Allerdings gereicht im allgemeinen der Hang zum Ausufernden den erzählten Geschichten nicht immer zum Vorteil; bei „Die Herrin der Lüge“ kommt aber nie der Eindruck auf, der Verfasser lege Wert auf Zeilenschinderei und berausche sich ganz einfach sinnfrei an seiner Begabung, Wörter aneinanderzureihen. Inspiriert von historischen Tatsachen wie dem Kinderkreuzzug spinnt Kai Meyer sein eigenes Garn, wobei er diesmal im Unterschied zu seinen restlichen Werken dem phantastisch-übernatürlichen Element keinen Platz einräumt, denn selbst Sagas „Lügengeist“ kann prinzipiell psychologisch erklärt werden.

 

Nun ist das Buch ein historischer Abenteuerroman und der Autor hat sich erkennbar in die Materie eingearbeitet (es ist ja auch nicht seine erste Publikation, die im Mittelalter spielt), dennoch sollte man nicht erwarten, dass Mediävisten die Lektüre ohne gelegentliches Stirnrunzeln durchstehen würden, da vor allem das Denken & Handeln der Protagonisten doch sehr an die Gegebenheiten modernerer Zeiten angepasst wurden. Die Lockerheit, mit der etwa die Hauptfiguren alle Standesgrenzen ignorieren, indem sie oft wie Gleichgestellte agieren, entspricht kaum der mit der damaligen sozialen Schichtung einhergehenden Mentalität.

 

Im zweiten Romandrittel häufen sich dann leider fragwürdige Zufälle und Ereignisse entwickeln sich gerade in die Richtung, die dem Schriftsteller behagt. Zu einem Gutteil gehört so was natürlich zur Dramaturgie einer fiktiven Geschichte, aber ab einem gewissen Ausmaß wird es zu einem Ärgernis, das aufmerksame Leser aus der erdachten Welt reißt, weil dadurch die Geplantheit des Ganzen offensichtlich wird. Was ist damit gemeint? Tiessa und Faun treffen in Venedig unter vielen tausenden Menschen zufällig auf Zinder; Zinder kämpft am Piratenschiff gegen eine Übermacht und kann entkommen; stößt dann wieder auf das Paar; die drei sind gerade in der Gegend gestrandet, in der sich der Kaiser mit seinem Heer aufhält etc.

In wirklich herausragenden Romanen kommen solche gehäuften Zufälle nicht vor, oder die Verfasser präsentieren sie auf eine Weise, dass man sich der Marionettenfäden nicht wirklich bewusst wird. Obwohl die „Herrin der Lüge“ dennoch unterhaltsam ist, hat es Kai Meyer meiner Meinung nach diesmal nicht ganz geschafft, die an manchen Stellen offensichtlich werdende Konstruiertheit des Plots zu übertünchen. Doch davon abgesehen gibt es nichts zu bekritteln, da wir interessante Charaktere in einem faszinierenden Abenteuer erleben dürfen. Gelegentlich gelingen dem Verfasser zudem richtiggehend eindringliche Szenen, wie etwa die erste Begegnung zwischen dem kleinen Mädchen und dem Bethanier, wo das Geschehen packend geschildert wird und man mit der kleinen Heldin atemlos mitfiebert.

 

Auch wenn es schließlich kein Finale mit einem großartigen Feuerwerk gibt, fällt das Ende angenehm auf, weil es mit dem richtigen Gleichgewicht zwischen Action, Tragik und Happy End aufwarten kann.

 

 

FAZIT

„Die Herrin der Lüge“ bietet großes Abenteuerkino in Romanform, entführt ins finstere und blutige Mittelalter, als die Welt noch größer und geheimnisvoller war und der Glaube an Gott die Herzen der Menschen bewegte. Ignoriert man, dass der Zufall manchmal zu sehr seine Hand im Spiel hat, garantiert die erzählte Geschichte einen vergnüglichen eskapistischen Lesegenuss voll von Dramatik und Spannung - auf diese Weise lasse ich mich gerne belügen.

 

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Buch:

Herrin der Lüge

Autor: Kai Meyer

Gebundene Ausgabe, 832 Seiten

Lübbe, September 2006

 

ISBN: 3785722613

 

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 03.12.2006, zuletzt aktualisiert: 05.08.2023 15:12, 3158