Rezension von Katrin Kress
Rezension:
Story:
Dr. phil. Thomas Hockenberry, Homer-Experte, ist eigentlich tot. Gestorben in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts. Er wurde jedoch von Zeus und den Göttern des Olymp aus DNA-Resten rekonstruiert und soll nun im Auftrag der Muse Melete mit anderen re-animierten „Scholikern“ als Kriegsberichterstatter in Troja (Ilium) arbeiten – und zwar zur Zeit des von König Agamemnon geführten Angriffs der Griechen! Seltsam nur, dass die Götter nicht auf dem Berg Olymp in Griechenland residieren, sondern auf dem Olympus Mons auf dem Mars, und dass sie Hockenberry und seine Kollegen mit allerlei High-Tech-Hilfsmitteln ausstatten, mit denen die Scholiker sich unerkannt und ungefährdet unter die griechischen und trojanischen Helden mischen können. Noch seltsamer ist der geheime Auftrag, den Hockenberry nach neun Jahren von der Göttin Aphrodite erhält: Er soll die Göttin Athene töten! Dies ist das erste Glied in einer Kette erstaunlicher Ereignisse, die schließlich dazu führen, dass die Geschichte des trojanischen Krieges einen völlig anderen Verlauf nimmt, als die Ilias berichtet, so dass Hektor und Achilles, die sich eigentlich gegenseitig niedermetzeln sollten, gemeinsam gegen die Götter zu Felde ziehen…
In einer anderen Zeit, Jahrtausende nach dem trojanischen Krieg, nehmen die auf den Jupitermonden „lebenden“ Moravecs – intelligente, empfindungsfähige, friedfertige Cyborgs – gefährliche Quantenaktivitäten auf dem Mars wahr und schicken eine Expedition dorthin, die schon gleich zu Anfang beinahe scheitert. Nur Mahnmut, ein kleiner U-Boot-Kapitän mit einer Vorliebe für Shakespeare-Sonette und Orphu von Io, ein riesiger Hochvakuum-Moravec und Proust-Fan, überleben das Desaster. Sie müssen sich allein auf dem Mars durchschlagen, wo sie den KGMs (Kleine Grüne Männchen) begegnen und es nur zu bald mit dem Gott Zeus und seiner Sippschaft zu tun bekommen. Auf der Erde leben derweil nur noch ein paar hunderttausend Menschen, rundum betreut und somit dumm gehalten von Servitor-Robotern. Diese letzten „Altmenschen“ können nicht lesen, haben keine Ahnung von ihrer eigenen Vergangenheit und sind auf den Schutz der geheimnisvollen Voynixe angewiesen, denn die wieder dicht gewordenen Wälder der Erde sind bevölkert von genetisch rekonstruierten Sauriern und anderen prähistorischen Wesen. Man pflegt eine hedonistische, sorglose Lebensweise. Selbst der Tod hat seinen Schrecken verloren, denn selbst tödliche Verletzungen werden umgehend in der „Klinik“ repariert, allerdings kann niemand älter werden als genau 100 Jahre. Eher zufällig begibt eine Handvoll dieser dekadenten Leute sich auf eine Odyssee, die sie bis hinauf in die orbitalen Habitate der längst verschwundenen „Nachmenschen“ führen wird…
Meine Meinung:
Ein Wort vorab: „Ilium“ ist der erste von zwei Teilen, der zweite Roman „Olympos“ sollte schon bereit liegen, da man sonst das Buch nach einem furiosen Höhepunkt ein wenig unzufrieden zurückgelassen wird, denn es bleiben viele Fragen offen – und zwar solche, die sich dem Leser gleich von Anfang an stellen. Einiges von der Verunsicherung, die man in den ersten 150 Seiten des Romans verspürt, legt sich allerdings mit der Zeit, denn Simmons streut immer wieder ein paar Informationshäppchen aus, die man selbst zu einem Puzzle zusammensetzen muss. Zu Anfang versteht man erst einmal überhaupt nicht worum es geht, und wird von all den Namen griechischer und trojanischer Helden, die fast in einem Atemzug mit zunächst unverständlichen (teils fast schon in „Technobabble“ ausartenden) Science-Fiction-Begriffen genannt werden, beinahe erschlagen. Nach und nach klärt sich das Bild, man durchschaut das fiktive Universum ein wenig besser und kommt gut in die Story „hinein“. Die kommt dann so richtig in Gang, man wird gefesselt, möchte das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen – und schon ist es wie gesagt ziemlich abrupt zu Ende. Leser, die in der SF im allgemeinen und im Werk von Simmons im besonderen nicht so bewandert sind, werden sich dann immer noch fragen, was die vielen Begriffe eigentlich zu bedeuten haben, die Simmons ihnen ohne jegliche Erklärung an den Kopf geworfen hat. Vor allem aber bleibt bis zuletzt unklar, welche Ereignisse in der Vergangenheit zu den Verhältnissen geführt haben, mit denen Hockenberry, die Moravecs und die Altmenschen sich jetzt herumschlagen müssen.
Simmons spielt geschickt mit Homers Ilias, die man eigentlich in Form der Gesänge (also nicht als Prosa-Heldensage) gelesen haben müsste, um die Anspielungen und Veränderungen richtig verstehen zu können. Das gilt auch für den Sprachstil – wenn die griechischen Helden z.B. einen Satz so anfangen, wie ihn Homer geschrieben haben könnte, dann aber gleich wieder in moderne Umgangssprache abgleiten, dann kann man die Komik dieser Gegensätze nur richtig würdigen, wenn man die Ilias kennt.
Ohne Zweifel ist „Ilium“ SF auf hohem Niveau. Nach ein paar vielleicht etwas zu lang geratenen Ausführungen über die Ilias, Shakespeare und Proust ist der Roman extrem unterhaltsam, spannend und teils sogar recht derb (in den Kampfszenen) bzw. horrorlastig. Wenn nun noch im zweiten Band alle offenen Fäden logisch verknüpft werden, würde ich mich fast dazu hinreißen lassen, von einem Meisterwerk zu sprechen.