Monster (Autor: Andreas Flögel)
 
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Monster

Autor: Andreas Flögel

 

Die Geschichte erschien usprünglich in der Anthologie Schlag 13!

 

Vorortsiedlung Sun Valley, heute, am Nachmittag:

Art war ein Monster. Zumindest sah er sich selbst so. Ein Monster auf der Lauer.

Er lag auf einer Anhöhe, das Fernglas fest in der Hand. Unten konnte er das Reihenhaus mit dem kleinen Garten sehen. Es sah ein wenig ungepflegter aus als die beiden angrenzenden Häuser. Das war klar. Das Geld fehlte.

Durch die Fenster konnte er seine Beute beobachten. Die Frau richtete etwas in der Küche. Der Mann war gerade in den Keller gegangen. Art hoffte, dass das Kind zum Spielen nach draußen kommen würde. Die Zeit war knapp, und er musste zuschlagen.

 

Büro von Milton Danning, gestern, am Vormittag:

„Art, Sie wissen, wie das ist.” Milton Danning überprüfte den Sitz seiner Krawatte. Ein edles Stück, das ideal zu seinem maßgeschneiderten Anzug passte. Milton wandte sich von seinem Spiegelbild im Fenster ab und blickte Art über den Schreibtisch hinweg an. „Es gibt Regeln. Es gibt Verträge. Natürlich, die Eltern wollen immer nur das Beste für ihre Kinder. Und so soll es ja auch sein.” Milton lächelte etwas gequält, dann beugte er sich vor. „Vor fünf Jahren hat GenTec Plc. die Firma Pre-Natal-Improvements Ltd. gegründet. Man wollte am boomenden Markt für gentechnische Aufwertung von Ungeborenen mitmischen. Das hat man auch. Sobald die werdenden Eltern damals erfahren haben, dass sie ein Baby erwarten, kamen sie zu PNI um sich dafür eine Sonderausstattung auszusuchen.”

Art räusperte sich und fixierte Milton.

Dieser blieb ungerührt.

„Ach, Art! Haben Sie sich doch nicht so. Wenn sich jemand ein Auto kauft, will er schließlich nicht dasselbe wie sein Nachbar. Also lässt er es tiefer legen und zieht die Breitreifen auf. Wenn derjenige ein Kind bekommt, will er es auch aufmotzen. Also stattet er es mit mehr Intelligenz oder größerer Stärke oder was auch immer aus.”

Art bemerkte plötzlich, wie fest er die Kiefer aufeinander presste.

 

Vorortsiedlung Sun Valley, heute, am Nachmittag:

Durch das Fernglas schätzte Art das Gewicht der Erwachsenen ab. Mit Hilfe einer Tabelle bestimmte er die richtige Menge für die Narkoseinjektion und bereitete zwei Projektile für die Handwaffe vor. Er hoffte nur, dass sie ihn angreifen würden, so dass er die Narkosewaffe einsetzen konnte. Auf keinen Fall wollte er, dass sie mit ihm redeten, dass sie bettelten oder ihn gar anflehten, es nicht zu tun.

 

 

Büro von Milton Danning, gestern, am Vormittag:

„Wir hatten nur einen Mitbewerber. Crea-Gen Inc. kopierte in infamer Weise unsere Geschäftsidee. Doch es gab massenhaft Aufträge. Aber wie immer, wenn das Geschäft brummt, kommen die ewig gleichen Spielverderber.” Miltons Stimme wurde lauter. „Irgendwelche Bürgerinitiativen haben irgendwelche Professoren hervorgekramt. Gutachten wurden erstellt. Plötzlich wurde auch die Politik aufmerksam. Es hieß, dass die Eltern manipuliert werden. Dass sie gar keine andere Wahl hätten, als für ihre Brut das Beste zu wollen. Ja, sogar, dass das genetisch bedingt sei. Also wirklich! GenTec Plc. war schon an der Börse, da hatten die meisten Politiker noch nichts von Gentechnik gehört. Aber sie haben nicht locker gelassen. Schließlich wurde sogar ein Gesetz erlassen. Jetzt ist nur noch die Behandlung von Krankheiten erlaubt, keine Aufbesserungen. Eine Schande!”

Art konnte Milton richtig ansehen, wie ihn das Thema berührte.

 

Vorortsiedlung Sun Valley, heute, am Nachmittag:

Nun war die Videokamera dran. Art wusste, dass er hier in seinem eigenen Interesse sorgfältig sein musste. Er überprüfte mehrfach den Blickwinkel. Dass die Kamera sendete, konnte er am Monitor der Empfangs- und Aufnahmeeinheit sehen. Er hatte sie hinten im Wagen installiert. Schließlich wusste er nicht, ob er Zeit hatte, die Kamera einzusammeln. Er legte die Speicherkarte ein und drückte die Aufnahmetaste.

 

Büro von Milton Danning, gestern, am Vormittag:

„Aber was zuerst wie ein Rückschlag aussah, hat sich inzwischen als Vorteil herausgestellt.” Milton hatte sich wieder beruhigt und lächelte. „Da es keine weiteren Kinder mit Aufbesserungen geben wird, sind die, die es gibt, natürlich wertvoller geworden. Knappe Ressourcen, auf die GenTec dank der Verträge, die wir mit den Eltern abgeschlossen haben, ein Anrecht hat. Die Aufgebesserten sind eine Goldgrube. Aber natürlich nur, wenn man es richtig macht. Man muss sie fördern und ihre speziellen Begabungen schulen. Da darf man sich nichts vormachen. Wenn die genetischen Anlagen nicht weiterentwickelt werden, ist so ein Aufgebesserter gar nichts Besonderes. Es ist wie fruchtbarer Boden, auf dem nicht angebaut wird. Und wo nicht angebaut wird, da gibt es keine Ernte.”

Er wartete, Zustimmung heischend, auf Arts Reaktion. Dass diese ausblieb, irritierte Milton sichtlich.

Trotzdem fuhr er fort: „Nun haben wir den Eltern vorgeschlagen, für die Ausbildung der Kinder aufzukommen. Wir haben angeboten, die Kinder auf unsere Kosten in extra für sie geschaffenen Begabtenschulen lernen und wohnen zu lassen und ihre Fähigkeiten zum beiderseitigen Vorteil voll zu entfalten. Aber was war der Dank? Von Ausbeutung war die Rede. Von Internierung. Die meisten Eltern ließen sich von der allgemeinen Miesmacherstimmung anstecken. Sie erklärten, dass sie ihre Kinder nicht hergeben wollten, dass sie für ihre Kinder ein normales Leben wünschten. Natürlich sind wir vor Gericht gegangen. Das waren wir unseren Shareholdern schuldig.”

Die letzte Bemerkung begleitete Milton mit einem Faustschlag auf den Schreibtisch. Art hoffte, dass Milton sich wenigstens schmerzhaft die Knöchel gestoßen hatte.

 

Vorortsiedlung Sun Valley, heute, am Nachmittag:

Art saß am Steuer seines Wagens. Die Vorbereitungen waren abgeschlossen. Mit tiefen Atemzügen versuchte er, sich zu beruhigen. Im Geiste ging er noch einmal alles durch. Er würde vorfahren und den Motor laufen lassen. Er würde die Gerichtsverfügung zeigen und laut und deutlich sagen, warum er gekommen war. Dann würde er zuschlagen und auf dem schnellsten Weg verschwinden. Er holte noch einmal tief Luft. Dann startete er den Motor.

 

Büro von Milton Danning, gestern, am Vormittag:

„Nun, wir hatten vor Gericht nicht den vollen Erfolg. Die Aufgebesserten sollten bei ihren Eltern bleiben dürfen. Doch ein Schlupfloch ist uns geblieben. Wenn die Eltern nicht mehr in der Lage sind, für die geeignete Ausbildung der Kinder zu sorgen, dann können wir per Gerichtsbeschluss verfügen lassen, dass das Kind in Zukunft im Gewahrsam von GenTec ausgebildet wird. Als Nachweis dafür, dass die Eltern nicht mehr ausreichend für ihr Kind sorgen können, reicht es in der Regel, wenn sie die noch ausstehenden Raten für die Aufbesserung nicht fristgerecht bezahlen.“

Wieder spielte Milton mit seinem Krawattenknoten.

„Die Sache hat nur einen Haken. Wir müssen das Urteil selbst umsetzen. Das bedeutet, wir müssen das Kind bei seinen Eltern abholen. Dabei kommt es immer wieder zu unschönen Szenen. Die Presseabteilung hat deshalb angeregt, dass die Kinder nicht mehr von GenTec-Mitarbeitern abgeholt werden, sondern dass wir dazu externe Kräfte beauftragen. Im Fall eines Falles kann sich GenTec dann leichter von etwaigen Vorfällen distanzieren. Das gibt ein besseres Bild in der Öffentlichkeit. Wichtig ist natürlich, wen wir mit der Wiederbeschaffung beauftragen.” Milton hielt einen Moment inne. „Wir hatten dabei an Sie gedacht, Art.”

Art sprang auf. Er versuchte Milton zu packen, doch dieser hatte sich schon aus seiner Reichweite gebracht. Zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß Art hervor: „Ich werde für Sie keine Kinder entführen.”

Milton winkte ab. „Entführen! Wie melodramatisch. Es handelt sich um Wiederbeschaffung ... Sie wissen, wenn jemand mit den Raten für sein Auto im Rückstand ist, schickt die Firma, die den Kauf finanziert hat, schließlich auch jemanden vorbei, der das Auto wieder abholt. Alles ist ganz legal. Sie handeln auf Basis eines Gerichtsbeschlusses. Wenn Sie sich an ein paar Regeln halten, kann Ihnen nichts passieren. Falls Sie von den Eltern angegriffen werden, obwohl Sie sich zu erkennen gegeben haben, können Sie alle nötigen Mittel einsetzen, um sie abzuwehren. Das dürfte Ihnen als Ex-Marine doch leicht fallen. Unsere Rechtsabteilung rät Ihnen nur, am besten alles auf Video aufzuzeichnen, damit es später keine Missverständnisse gibt.”

Schließlich schaute Milton Art direkt in die Augen. „Art, wir haben Sie überprüft. Sie sind der Mann dafür. Und wir beide wissen, dass Sie keine andere Wahl haben, als anzunehmen.”

 

Vorortsiedlung Sun Valley, heute, am Nachmittag:

Art hielt direkt vor der Grundstückseinfahrt. Er ließ die Wagentür offen und ging mit schnellem Schritt auf die Haustür zu. Das Kind im Garten hatte aufgehört zu spielen und sah ihm zu. Er klopfte, den Gerichtsbescheid in der Hand. Von drinnen hörte er Stimmen.

Der Mann fragte: „Wo ist Jamie?”

Die Stimme der Frau war zu hören: „Er ist draußen. Oh mein Gott, er ist draußen im Garten!”

Art sagte seinen Spruch. Er brüllte ihn geradezu. Brüllte ihn, damit die Eltern alles hörten, damit alles auf Video aufgezeichnet wurde und damit er sich selbst überzeugte, dass alles legal war.

Die Frau schrie hysterisch, den Mann konnte er nicht hören.

Art wich von der Tür zurück. Keinen Moment zu früh.

Der Mann stieß die Eingangstür auf, hoffte wohl, Art damit zu erwischen. Er hielt einen Baseballschläger in der Hand.

Er rief „Jamie, komm sofort ins Haus.” Dann hob er den Schläger und fixierte Art.

Art griff nach der Narkosewaffe. Als der Mann mit dem Baseballschläger auf ihn zu rannte, zog er die Waffe und schoss. Natürlich traf er. Kein Problem auf die Entfernung. Aber die Wirkung trat nicht sofort ein. Der Mann stolperte weiter auf ihn zu. Art wich zur Seite aus, den Mann fest im Blick.

Plötzlich ein stechender Schmerz in der Schulter. Art hatte nicht bemerkt, dass er beim Ausweichen in die Nähe des Küchenfensters gekommen war. Die Frau hatte mit einem großen Küchenmesser zugestoßen. Jetzt traf ihn der Baseballschläger in die Rippen. Die Luft blieb ihm weg. Art stolperte weg vom Fenster.

Endlich zeigte sich die Wirkung der Narkose bei dem Mann. Er ließ den Baseballschläger fallen, dann sank er selbst zu Boden.

Fieberhaft versuchte Art, die Narkosewaffe neu zu laden. Jeder Atemzug tat weh.

Die Frau kam aus dem Haus gelaufen. Sie rannte auf ihr Kind zu, rief hysterisch „Jamie, oh, Jamie!”

Endlich hatte er das zweite Projektil in die Waffe eingeführt. Ohne zu zögern, schoss er der Frau in den Rücken.

Bei ihr trat die Wirkung schneller ein. Sie fiel zu Boden, als sie das Kind fast erreicht hatte.

Art rappelte sich auf. Das Kind stand weinend über seine Mutter gebeugt. Art konnte es packen, hob es hoch. Das Kind zappelte, weinte und schrie nach seiner Mutter. Art wollte es beruhigen, wollte ihm sagen, dass alles gut wird. Doch er bekam die Lüge nicht über die Lippen, und so schwieg er.

 

Vorortsiedlung Dew Valley, heute, am Abend:

Als Art zu Hause ankam, sah er seine Tochter auf der Wohnzimmercouch. Sie las in einem Buch. Art nahm an, dass das Buch aus der Universitätsbibliothek war. Seine Tochter war gerade erst vier Jahre, aber im ganzen Haus gab es keinen Lesestoff mehr, der sie interessierte.

Als er hereinkam, sah sie zu ihm auf. Sie lächelte ihn kurz an, dann bekam ihr Gesicht einen besorgten Ausdruck. „Mami ist in der Küche. Sie weint wieder.”

Als Art die Küche betrat, drehte sich seine Frau zu ihm um. Er konnte sehen, dass seine Tochter recht hatte.

Die Stimme seiner Frau war kaum zu hören: „Crea-Gen hat angerufen. Sie haben gesagt, dass heute um Mitternacht die letzte Frist abläuft.”

Art musste zweimal schlucken, ehe er mit ihr reden konnte: „Es ist okay. Ich habe das Geld für die nächsten Raten besorgt.”

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Die Charaktere dieser Geschichte, sowie alle Handlungen sind geistiges Eigentum des Autors. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Orten oder Handlungen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Der Autor verfolgt kein kommerzielles Interesse an der Veröffentlichung dieser Geschichte.

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Erstellt: 11.06.2009, zuletzt aktualisiert: 23.02.2019 14:06, 8861