Nachtflügel von Kenneth Oppel
Rezension von Bine Endruteit
Dämmer ist ein Chiropter. Das sind Vorfahren der Fledermäuse, wie wir sie heute kennen. Doch diese Wesen lebten bereits vor 65 Millionen Jahren. Sie hatten Segel anstatt von Flügeln und konnten sich damit von einem Ast, der sich möglichst hoch oben in einem Baum befand, fallen lassen und hinunter segeln. Doch Dämmer ist anders als all die anderen Chiropter aus seiner Kolonie. Seine Segel haben kein Fell, er hat nur zwei Krallen anstatt von dreien und seine Beine sind nicht kräftig genug. Beim hinauf klettern ist er schneller erschöpft als die anderen. Dazu kommt noch, dass er beim Gleiten ständig das Gefühl hat, flattern zu müssen.
Doch der Neugeborene lässt sich nicht beirren. Er ist von den Vögeln begeistert, die fliegen können und wünscht sich nichts sehnlicher, als auch durch die Lüfte gleiten zu können, so wie sie. Dass ihm das tatsächlich möglich sein könnte, beginnt er zu glauben, als eines Tages ein Saurier in der Kolonie auftaucht. Der hat ebenso wenig Federn wie Dämmer selbst und kann trotzdem fliegen. Der kleine Chiropter versucht es immer wieder und schließlich gelingt es ihm tatsächlich: Er kann fliegen!
Doch dieses Können macht ihn zu einem Außenseiter. Die anderen Chiropter meiden ihn nun nicht nur wegen seines seltsamen Aussehens, sondern auch, weil er sich anders verhält als sie und sie sich vor ihm fürchten. Sie halten es für unnatürlich, sich in der Luft nach oben zu bewegen. Doch dieses Talent soll ihnen allen noch eine große Hilfe sein, als Reißzahn und seine Meute von Feliden auf die Insel der Chiropter kommen. Sie fressen und jagen die Tiere und nur Dämmer hat die Fähigkeiten und das Geschick, es mit ihnen aufzunehmen.
„Nachtflügel“ ist die Vorgeschichte zur erfolgreichen Fledermaus-Trilogie von Kenneth Oppel. Sie ist jedoch völlig eigenständig und kann unabhängig von den anderen Büchern gelesen werden. Der Autor macht das, was schon Richard Adams in seinem Erfolgsroman „Unten am Fluss“ getan hat: Er erzählt eine Geschichte aus der Sicht von Tieren. Hier sind es Chiropter und Feliden, Vorfahren von Fledermäusen und Raubkatzen. Natürlich sind seine Figuren vermenschlicht, handeln aber immer noch nach tierischen Instinkten.
In Oppels Geschichte geht es um Veränderungen und wie unwillig diese von anderen aufgenommen werden. Es ist eine Fabel, die in einer abenteuerlichen Erzählung widerspiegelt, wie wir selbst uns wahrscheinlich in einer solchen Situation verhalten würden. Einer aus der Gruppe ist so anders, dass die Gemeinschaft kurz davor ist, ihn auszuschließen. Das diese Andersartigkeit etwas ganz Besonderes und Nützliches ist, müssen sie erst lernen. Allerdings ist auch Dämmer äußerst verunsichert über das, was er ist und kann und muss erst herausfinden, wie er damit umzugehen hat.
Sowohl bei den Chiroptern als auch bei den Feliden treten Veränderungen auf, die für uns selbstverständlich sind. Hier werden sie anhand von einzelnen Tieren gezeigt, obwohl die Evolution in Wirklichkeit natürlich viel länger brauchte, um neue Erscheinungsformen hervorzubringen. Man bekommt hier eine Vorzeitgeschichte im Zeitraffer geliefert, die sich einige künstlerische Freiheiten erlaubt.
Dämmer hat man schnell ins Herz geschlossen. Er ist ein liebenswerter Kerl, der zu Anfang äußert naiv ist und sich nach und nach immer mehr Selbstbewusstsein aneignet. Junge Leser werden sich gut mit ihm identifizieren können, auch wenn sie rein äußerlich nichts mit ihm gemeinsam haben.
„Nachtflügel“ ist ein spannendes Leseabenteuer. Für alle, die schon die Fledermaus-Bücher von Kenneth Oppel mochten, ist das Buch ein Muss. Doch auch wer die nicht kennt, wird seine Freude an diesem Roman haben.
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