Nachtleben (Autor: Martin Hoyer; Genre: Fantasy)
 
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Leseprobe: Nachtleben

Ungeachtet des Umstandes, dass der Ort denkbar ungünstig dafür war, gönnte sich Irrid etwas Ruhe. Wenn er die Sporne an seinen Füßen in das Holz schlug, konnte er seiner Armmuskulatur, der die größte Arbeit beim Klettern zukam, ein wenig Ruhe gönnen.

Die Jinjend waren geborene Kletterer, doch das, was sich Irrid vorgenommen hatte, lag weit entfernt von dem, was zum normalen Leben eines Angehörigen seines Volkes gehörte.

Der alte Spähturm von Saramee war eine schlanke Konstruktion aus gebrannten Ziegeln und in das Mauerwerk eingearbeiteten Holzbalken, die verhindern sollten, dass der beinahe 80 Schritt hohe Bau durch seine eigenen Schwankungen beschädigt wurde. Das Konzept der Baumeister hatte sich über dreieinhalb Jahrhunderte gegen die Witterung, gegen Stürme und sogar gegen einen Stadtbrand behauptet.

Es war die feuchte, salzhaltige Luft, die schlussendlich das Schicksal des Turms besiegelt hatte. Die einst geschmeidigen Hölzer waren unter dem Einfluss der Witterung hart, brüchig und ebenso mürbe geworden, wie die Ziegel selbst.

Der Turm zerfiel von Jahr zu Jahr mehr, und der einzige Grund, warum der Stadtrat trotz mehrerer kleiner Einstürze nicht den Abriss anordnete, war der, dass es schlicht niemanden scherte, wann der Bau endgültig in sich zusammenbrechen würde.

Das schlanke Bauwerk bildete das Zentrum eines ummauerten und seit langem ungenutzten Platzes, dessen Fläche die Form eines Auges aufwies. Irrid wusste, dass die Anordnung der verschiedenfarbigen Bodenplatten des Platzes diesen Eindruck unterstützten, sofern man von einem menschlichen Auge ausging. Dieser Umstand, verbunden mit der Gestalt des Turms und der menschlichen Auffassung von Ironie mochten die Gründe sein, warum der alte Spähturm auch als "Der Splitter" bekannt war.

Die Augen Irrids hatten kaum Ähnlichkeit mit der stilisierten Darstellung des Platzes. Doch dafür waren sie in der Lage, trotz der Dämmerung alle Details zu erkennen, die nötig waren, um den Turm – wenn auch nicht ohne Gefahr – zu besteigen.

Auch als Jinjend war Irrid nicht so vernarrt ins Klettern, dass er dieses Risiko gerne einging. Leider hatte er weder die Werkzeuge noch das Wissen, um die Schlösser am Eingang des Turms aufzubrechen.

Er blickte nach unten. Der Weg zum Boden war genauso weit wie der zur Aussichtsplattform an der Spitze des Turms – es war an der Zeit, dass er weiterkletterte. Je mehr er sich beeilte, desto mehr Zeit blieb ihm, das zu tun, weswegen her hierher gekommen war.

Einige Minuten später schwang er sich über die Brüstung des Turms. Jetzt, wo Irrid am Ziel war, forderte der Kraftakt seinen Tribut. Er ließ sich zu Boden sinken und gönnte seinen Muskeln, an die Innenseite der Brüstung gelehnt, die verdiente Ruhe.

Sein Blick glitt über die Plattform: Sie war quadratisch wie die Grundfläche des Turms, und Irrid wusste, dass sie genau ein Drittel der Fläche an der Turmbasis aufwies. Der Splitter verjüngte sich nach oben hin.

Irrid erhob sich und wandte sich um. Die verschränkten Arme auf die Brüstung gelehnt, ließ er den Blick über die Stadt schweifen. Aus dieser Höhe wirkte das Gewirr von breiten Straßen, kleinen Gassen und kleinsten Gässchen wie das Muster in der Borke eines alten Baumes. Dieses Muster war unregelmäßig, wo die Struktur von einem der zahlreichen kleinen Marktplätze oder den großen Sippenhäusern unterbrochen wurde. Die unregelmäßige Beleuchtung tat ihr Übriges, um der Stadt selbst bei Nacht und aus der Vogelperspektive jenen Anstrich von Unordnung zu geben, die ihre Natur war.

Irrid wusste, dass dort, wo die Stadt am dunkelsten war, das Chaos eine besondere Heimat hatte, aber auch, dass das Leben der Stadt an jeder Stelle pulsierte, die er zwischen dem Hafen und den landseitigen Stadtmauern ausmachen konnte.

Als Ganzes bot es einen Anblick, der Irrid für die Anstrengungen mehr als entschädigte. Hätte ihn jemals jemand gefragt, hätte er nicht genau sagen können, was ihn immer wieder auf den alten Turm zog, und ihn das Risiko eingehen ließ, den Tod auf den Steinplatten des Augenplatzes zu finden.

Vielleicht war es deshalb, weil es ihm die eigene Verwundbarkeit vor Augen führte, und ihm gleichzeitig immer wieder aufs Neue erkennen ließ, wie verletzlich die Stadt unter ihrer harten Schale aus Selbstbewusstsein und Vorwärtstreben war.

Saramee war eine Stadt der Möglichkeiten für alle Wesen, die sie zu nutzen verstanden, und ein Sumpf für Jene, die in ihrem Spiel versagten.

Irrid hatte sich vorgenommen, ein Gewinner zu sein.

 

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Titel: Nachtleben

Autor: Martin Hoyer

Reihe: Saramee Bd.2

Illustration: Chrissi Schlicht

A5 Paperback – 72 Seiten

ISBN: 3936742529

Verlag: Atlantis Verlag

erschienen Februar 2005

Erhältlich bei: Amazon

Disclaimer:

Freigabe zur Weiterveröffentlichung der Leseprobe besteht, soweit vom Autor nicht anders angegeben nur für "FantasyGuide.de". Für alle weiteren Veröffentlichungen ist die schriftliche Zusage des Autors erforderlich.


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Erstellt: 11.11.2005, zuletzt aktualisiert: 08.02.2015 19:12, 1531