Nichts von euch auf Erden (Autor: Reinhard Jirgl)
 
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Nichts von euch auf Erden von Reinhard Jirgl

Rezension von Ralf Steinberg

 

Verlagsinfo:

Im 23. Jahrhundert ist die Erde für die Raubgier der Märkte und Mächte zu klein geworden. So beginnt die Auswanderung der Starken auf Mond und Mars; auf Erden zurück bleibt nur die alte, schwache Menschheit. Schon zwei Jahrhunderte später erweist sich der Mars als so lebensfeindlich, dass die neuen Menschen zurückkehren und brutal die Macht auf der nun friedlichen Erde an sich reißen. Was wie eine düstere Science-Fiction-Vision klingt, ist ein Roman über die uralte Frage von Emigration und Heimkehr. Reinhard Jirgl erzählt von Gier und Gewalt, Unterdrückung und Krieg, Leben und Tod.

 

Rezension:

Normalerweise schreiben Büchner-Preisträger keine Science Fiction. Bei Nichts von euch auf Erden von Reinhard Jirgl ist das Genre zum Glück einmal eindeutig und unstrittig. Jirgl wollte SF schreiben und steht auch in Interviews dazu. Also eigentlich gute Voraussetzungen, das Fandom im Sturm zu erobern.

 

Leider ist dem nicht ganz so. Denn Reinhard Jirgl hat sich an etwas gewagt, was nur ganz wenige SF-AutorInnen versuchen: Er hat auch die Sprache und ihre Schrift in die Zukunft transferiert. Aber bekanntlich ist niemand so konservativ wie gestandene SF-LeserInnen und diese müssen erst einmal die Hürde überwinden und sich in die extravagante Orthografie und Text-Aufladung einlesen.

Jirgl hat seine Schreibweise nicht für diesen Roman erfunden, vielmehr erweist es sich, dass sie für die Darstellung einer Zukunft perfekt passt. Jirgl schreibt Futur.

 

Gerechterweise muss man vor dem folgenden Gelobe sagen, dass diese Sprachcodierung immer da versagt, wo Jirgl politische Reden schwingt, oft genug werden diese lose im Text verteilten Brandreden zur phrasenreichem Geschwafel, das durch die komplexe Metaverknotung der Wörter eher einschläfernd als aufrüttelnd wirkt. So etwas muss man ausblenden und kann es auch, denn diese Passagen sind für den eigentlichen Roman kaum notwendig, zumal sie mit Redundanzen im großen Stil glänzen.

 

Nein, das Wesentliche in »Nichts von euch auf Erden« ist die klassische Utopie. Eigentlich sogar eine Dystopie in engeren Sinne, jedoch würde man damit jenen Teil zu leichtfertig unterbuttern, der eine ganz besondere Faszination mit sich bringt:

Zu Beginn beschreibt Jirgl eine Menschheit, die durch (ungewollte) genetische Veränderungen zu friedlichen, sensiblen und fast vergeistigten Wesen wurde. Er nimmt sich viel Zeit, das Wesen dieser Gesellschaft zu beschreiben. Dazu wirft er uns in die Innensicht eines Jünglings, der kurz vor seinem Erwachsenwerden, dem 25. Geburtstag, steht. Wir erfahren von seiner großen Liebe und der sehr festgelegten Zukunft unter einer Schutzkuppel, die Himmel und Videoschirm zugleich ist. Es ist der Abend der Zivilisation. Ruhig wartet man auf den Tod, bemüht, niemanden mit seiner Existenz zu belästigen. Das Leben ist ereignisarm, die wenigen Bedürfnisse befriedigen Maschinen. Das Zusammenleben wird von Anstand geregelt, eine Verwaltung besteht nur pro forma. Ein elementares Recht ist das auf einen Mord, welches aber niemand einfordert. Selbst der Wunsch nach Kindern ist verschwunden, die Toten leben weiter als Computersimulationen.

Anlass dieser Entwicklung war die Deportation von Störenfrieden, Verbrechern und Querdenkern vor 200 Jahren. Erst zum Mond und dann auf den Mars. Arbeitskräfte, den roten Planeten zu terraformen. Damit die Vertriebenen nicht aufbegehren, veränderte man ihre Gene. Doch der Plan gelang nicht völlig. Zum einen gelangte die Genveränderung auf die Erde und führte dort zu der beschriebenen Pazifisierung, zum anderen fanden die Marsianer einen Weg, die Veränderung bei sich zurückzunehmen. Und nun kehren sie heim, voller Ekel vor der degenerierten Erdgesellschaft, wohingegen die Erdlinge sie mit lauer Neugier still erwarten.

In dieser Wartezeit zeigt unserem Protagonisten ein älterer Bekannter eine historische Aufnahme, die ein Paar dabei begleitet, wie sie zur Ausreise auf den Mars in immer schlimmeren Verhältnissen reisen müssen bis es einer Deportation in ein KZ gleicht. In dieser Szene kann Jirgls Schriftcodierung seine volle Wucht entfalten. Hier erweitern die Gleichheitszeichen und Zusammensetzungen das Beschriebene, geben ihr lyrische Vielfältigkeit. Es gibt eine breitere Erfahrung des Gehetztwerdens, der Symbolträchtigkeit jeder Nuance der Handlung. Das ist fesselnd und atemberaubend. Diese Lese-Erfahrung wiederholt sich noch einige Male. Etwa wenn der Ich-Erzähler als Austauschgefangener auf dem Mars unter bestialischen Bedingungen zu überleben versucht, oder er später eine Wanderung über die Marsoberfläche macht. Diese eigentlich völlig fremden Erlebniswelten dringen durch Jirgls Schreibstil ungemein plastisch in die Fantasie des Lesers.

Dabei ist die Invasion der ehemaligen Ausgestoßenen stark an bekannte Vorbilder ausgerichtet. Der mächtige Feind erobert problemlos die friedlichen Einwohner und setzt ein Regime des Schreckens ein. Bei Jirgl geschieht das mit einer grauenvollen Authentizität, so dicht am Leben, dass es beständig schmerzt. Er hat seine beiden Welten so sicher in den Händen, dass man als Leser die Konsequenz der Ereignisse begreift, auch wenn man es nicht will. Wenn sich die Marsgeborenen vor die friedlichen Erd-Lämmer stellen und deren Lebensweise plätten, beginnen sie das mit einer demagogischen Rede, die quasi jeden derartigen Umsturz reflektiert, sei es die Vertreibung der amerikanischen Ureinwohner, Afghanistan oder die DDR. Das Perfide steckt immer im Glauben daran, der Bessere zu sein und das Gute zu bringen. Wo man bei vielen solcher Szenarien das Gefühl hat, plakativ Ereignisse vorgesetzt zu bekommen, durchlebt man es bei Jirgl.

 

Die Sprache nutzt Jirgl auch zur Differenzierung der beiden Welten. Er gibt den Kulturen durch sie einen unterscheidbaren Duktus; er trennt auf dem Mars sogar noch zwischen einzelnen Schichten der Bevölkerung. Mag dieses Mittel auch übertrieben wirken und vor allem bei 500 Seiten insgesamt zu viel, zu anstrengend oder zu maßlos empfunden werden, die Konsequenz des Autors beachtenswert.

 

Im letzten Teil des Buches wechselt die Perspektive, und erst nach und nach wird erkenntlich, durch wessen Über-Augen wir das finale Geschehen betrachten. Jirgl schwingt den eisernen Besen und macht Tabula Rasa. Da er das Leben auf Erden schon vorher als Fehlentwicklung definierte, nur entstanden durch einen zufälligen externen (natürlichen) Engriff, erscheint das Ende als logisch. Interessant ist, wer dieses Ende einleitet. Hier zieht der Autor ein großes metaphorisches Register und spielt der Menschheit eine saftige Totenmesse. Zartbesaitete Gemüter werden sich an die Kannibalen-Szene erinnern. Übrigens eine gute, wenn auch schreckliche Möglichkeit zu testen, ob jemand den Roman so weit gelesen hat.

 

Es bleibt abzuwarten, ob das Buch seine native Zielgruppe erreichen kann.

Trotz der Verwendung interessanter SF-Themen und Topoi scheint sich der Roman an jemand anderes zu wenden.

Nun braucht Kunst keine Adressaten, es ist also eigentlich sinnlos zu hinterfragen, warum Jirgl SF nicht für normale SF-Fans schrieb. Aber hätte er die Geschichte in gebräuchlichen Worten erzählt, wäre es immer noch ein grandioser SF-Roman geworden.

 

Leider engt sich die Leserschaft dramatisch ein. Das Buch verschwindet aller Erfahrung nach aus der Wahrnehmung der SF-Gemeinde und schlägt auf im Westentaschenuniversum deutscher Hochliteratur.

 

So landet ein prallvolles Füllhorn moderner SF im germanistischen Archiv, wird zur Fußnote in der Geschichte deutschsprachiger Science Fiction:

Jirgl, Reinhard – schrieb auch mal einen SF-Roman.

 

 

Der Besprechung lag die pdf-Version zugrunde, Aussagen über das gebundene Buch sind daher nicht möglich.

 

Fazit:

Reinhard Jirgl schrieb mit »Nichts von euch auf Erden« eine klassische Utopie. Die Stärke des Romans liegt in der extravaganten und experimentellen Sprache, deren Kraft sich in den wortgewaltigen Beschreibungen zeigt. Wie er Deportation, Sklavenarbeit oder Degeneration mit Sprache/Schrift zur Mehrdimensionalität verhilft und dadurch lebendig werden lässt, ist ganz große Kunst.

Vor dem Genuss jedoch steht die Akzeptanz der erschwerten Lesbarkeit. Wer sich davon nicht abschrecken lässt, wird ein ganz spezielles Erfahren von Literatur erleben.

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Buch:

Nichts von euch auf Erden

Autur: Reinhard Jirgl

gebunden, 512 Seiten

Hanser Verlag, 25. Februar 2013

 

ISBN-10: 3446241272

ISBN-13: 978-3446241275

 

Erhältlich bei: Amazon

Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240427053734403def85
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Erstellt: 20.09.2013, zuletzt aktualisiert: 28.01.2024 19:17, 13255