Sherlock Holmes - Eine unautorisierte Biographie (Autor: Nick Rennison)
 
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Sherlock Holmes - Eine unautorisierte Biographie von Nick Rennison

Rezension von Christian Endres

 

Sherlock Holmes, der berühmte Detektiv aus der Feder von Sir Arthur Conan Doyle, ist, obwohl eine literarische Erfindung durch und durch, wohl eine der berühmtesten Persönlichkeiten der Welt. Überall kennt man den beratenden Detektiv aus London, überall hat man seine Abenteuer gelesen, gehört oder gesehen, und überall wird gerne angenommen, dass es sich bei Mister Sherlock Holmes aus der Baker Street tatsächlich um eine reale Person aus dem viktorianischen Zeitalter gehandelt haben muss.

 

Dem ist (und es tut mir wirklich leid, wenn ich hier nun das ein oder andere Weltbild zusammenbrechen lasse) aber definitiv nicht so. Was unzählige Menschen allerdings in keinster Weise davon abhält, sich intensiv mit Sherlock Holmes’ Leben auseinander zu setzen – meistens eben genau so, als habe er wirklich als Mensch aus Fleisch und Blut existiert. Nick Rennison ist einer dieser »unverbesserlichen«, aber eben auch sehr akribisch arbeitenden und stets unglaublich versierten Holmes-Kenner (und -Forscher), und hat sich vor gar nicht all allzu langer Zeit satte zwei Jahre lang intensiv mit den Recherchen zu Holmes’ Leben beschäftigt und sich ferner an die mühsame Arbeit gemacht, der populären Figur von Conan Doyle anhand echter historischer Fakten und Hintergründe eine fiktive (!) Biographie auf den Leib zu schneidern ...

 

Nach einer äußerst gelungenen Einleitung zum Thema Holmes und dem Kult, der sich um dessen Person rankt, aber auch einer ersten interessanten Abhandlung über die Authentizität von Watsons Berichten sowie einer gut geschriebenen Einstimmung auf den Hintergrund »des Dämons hinter dem viktorianischen Zeitalter«, führt uns Nick Rennison behutsam an das Leben von Sherlock Holmes heran. Holmes Kindheit in Yorkshire, seine Jugendzeit auf den steifen und für ihn einschränkenden Universitäten und seine ersten Jahre als Schauspieler in London sind interessante und zum Teil bedeutende Stationen auf seinem Weg – dem Weg zum beratenden Detektiv auf der einen, aber, an der Seite seines Bruders Mycroft, auch der Weg zur Stütze des Britischen Empires und Königin Viktoria auf der anderen. Knapp die Hälfte des Buches widmet Rennison diesem Kapitel im Leben von Sherlock Holmes, während er seine Ansichten und Auslegungen immer wieder mit historischen Fakten untermauert oder seine Denkansätze einfach nur so plausibel schildert und erklärt, dass man sie ihm gerne abnimmt und problemlos in das persönliche Bild von Doyles Detektiv übernimmt.

 

Im Kontext ab einem gewissen Punkt in Holmes’ Leben unumgänglich, gehen Rennisons Ansätze irgendwann stets mit Watsons Aufzeichnungen (bzw. denen von dessen »Literaturagenten« Conan Doyle) einher. Rennison schafft es allerdings problemlos, Begebenheiten, Andeutungen und Zitate aus den originalen [aber eben fiktiven, um das noch mal zu verdeutlichen] Holmes-Geschichten mit der Historie oder dem Zeitgeschehen von damals zu verknüpfen. Darüber hinaus scheut er sich auch nicht, kritisch mit dem Mythos Holmes umzugehen, wenn er »Watson«/Doyle Schlampigkeit, Nachlässigkeit oder absichtliches Verfälschen und Verwässern von brisanten Informationen, Daten und Fakten vorwirft und sich auch mit diesen Fehlern und Ungereimtheiten in Holmes’ literarischem Kosmos auseinander setzt. Teilweise versucht er, sie zu berichtigen, teilweise aber auch, sie lediglich zu erklären oder einfach nur dem interessierten Leser vor Augen zu führen, dass auch der Ehrenmann John Watson ein recht hintergründiges Wesen hatte – zumindest wenn es darum ging, die Westen seiner Zeitgenossen rein zu halten und nicht durch seine literarischen Gehversuche als Chronist seines Freundes Sherlock Holmes zu gefährden ...

 

Was Rennison im weiteren Verlauf seiner Holmes-Biographie ebenfalls sehr geschickt macht, ist, dass er sich nicht starr auf Sherlock konzentriert. Natürlich steht dieser im Mittelpunkt der »unautorisierten Biographie« – doch immer, wenn der von Rennison ersonnene Lebenslauf des weltberühmten Detektivs aus London es gestattet oder gar verlangt, schweift der Autor auch gerne einmal ab und widmet sich so unter anderem dem Leben und Werdegang von John H. Watson oder Mycroft Holmes, aber auch dem von Professor Moriarty, Irene Adler, Inspektor Lestrade und anderen wichtigen oder zumindest prägenden Figuren im [literarischen] Leben von Sherlock Holmes.

 

Vieles, was Rennison hier zu Papier bringt, liest sich teilweise nicht weniger spannend als einer von Holmes’ oftmals außergewöhnlichen Fällen (von denen, wie Rennison gleich zu Beginn selbstbewusst aufzeigt, Watson bestenfalls 3-4% niedergeschrieben hat ...). Einzig wenn es um Holmes’ und Moriartys Rolle im irischen Freiheitskampf gegen die britische Krone geht, schweift Rennison für meinen Geschmack etwas zu weit ab und macht Holmes zu einem etwas zu »bürokratischen« Diener der Krone. Und auch nach Holmes’ vorgetäuschtem Tod an den Reichenbach-Fällen, da er bekanntermaßen unter Pseudonym Asien und Persien bereiste, widmet sich Rennison wieder etwas ausführlicher der Politik, und wieder ist es nicht gar so spannend, da er Holmes’ Verdienste in beispielsweise Tibet wieder viel zu außenpolitisch wertvoll für die Kolonialmacht England darstellt.

 

Zum Glück folgt diesem Abschnitt wieder ein sehr gutes Schluss-Viertel, wo Rennison vor allem dadurch zu gefallen weiß, dass er sich sachlich und nüchtern um die offenkundige Diskrepanz kümmert, die Holmes’ Arbeit als Ermittler im Zusammenspiel mit seiner plötzlichen Bekanntheit durch Watsons Veröffentlichungen im Strand Magazine oder die Berichte über seinen Tod und seine Wiederauferstehung gebracht haben müssen. Außerdem zeigt Rennison im finalen Teil der unautorisierten Biographie nicht zum ersten Mal großes Talent, geschichtliche Anekdoten in seinem Text unterzubringen – etwa wenn es um Holmes’ Drogenkonsum geht und Rennison sich von dieser Facette von Holmes’ Charakter zum Opiumkonsum von Charles Dickens, von dort aus zu Freud und dessen anfänglicher Vorliebe für Kokain und letztlich zu Coca Cola schwingt. Köstlich!

 

Zum Ende hin bezichtigt Nick Rennison Doyle, Watson und Holmes noch einmal der Lüge, als er knallhart darlegt und erläutert, wieso Holmes sich als Fünfzigjähriger nicht einfach aufs Land zurückgezogen hat, wie Watson und Doyle uns dies in ihren wenigen Erzählungen aus dieser Zeit in Sherlock Holmes’ bis dahin so umtriebigen und ereignisreichen, von Arbeit und der urbanen Liebe zur Düsternis Londons geprägten Leben Glauben machen wollen. Stattdessen führt Rennison aus, wie Holmes in dieser brandheißen und nicht weniger gefährlichen, kritischen Phase für das neue Europa mit seiner modernen Ordnung, also unmittelbar vor den Kriegswirren, zu einer Schlüsselfigur beim Aufbau des britischen Geheimdienst-Netzwerks wurde – alles in allem ein abermals eher politisch und patriotisch orientierter Schlussakkord in Holmes’ Leben ...

 

Das Hardcover aus dem Hause Artemis & Winkler macht Dank einer sauberen Verarbeitung, gutem Papier und einem schönen Satz im Innenteil einen durchwegs guten Eindruck, bietet großen Lesekomfort und wartet zudem noch mit üppigem Register am Ende des Bandes auf. Lediglich mit dem Covermotiv, das den Schutzumschlag ziert, kann ich mich überhaupt nicht anfreunden: Es ist prinzipiell natürlich nie verkehrt, einem Werk mit oder über Sherlock Holmes ein eher schlichtes und klassisches Cover zu spendieren, auf dem man einen hübschen Schriftzug und die nur allzu bekannte Silhouette des großen Detektivs abdruckt. Warum der Schattenriss im vorliegenden Fall dann aber zu einem fülligen Holmes passen muss, der eine Abmagerungskur dringend nötig hat, und mitsamt des Doppelkinns wirklich meilenweit von der »hageren Gestalt mit dem Raubvogelgesicht« entfernt ist, die wir alle kennen, entzieht sich leider meiner Kenntnis ...

 

Fazit: Lange Zeit galt William S. Baring-Goulds » Sherlock Holmes: Die Biographie des großen Detektivs aus der Baker Street« als das Standard-Werk der Holmes-Forschung. Nick Rennisons Arbeit nun hat in meinen Augen beste Chancen, BGs Werk aus den 70ern abzulösen oder wenigstens doch gleich zu ziehen, da Rennison teilweise einfach etwas realistischer argumentiert und bodenständiger bleibt als sein Kollege, dessen Leistung ich hier allerdings keinesfalls schmälern will, zumal es in beiden Werken ja auch gewisse Übereinstimmungen gibt (wenngleich Rennison auch etwas ernster und fundierter erscheint – Lewis Caroll als Mathematiklehrer von Holmes bzw. Mycroft haben sie trotzdem beide erwähnt). Und wer weiß: Vielleicht können, ja müssen diese beiden gelungenen und einschneidenden Biographien des »großen Detektivs aus der Baker Street« ja sogar friedlich als Standardwerke nebeneinander co-existieren – und dabei eine ähnlich kongeniale Wirkung entfalten wie das zeitlose Gespann Holmes/Watson.

 

Doch das sei, wie es will: Für jeden Freund oder Fan der Abenteuer von Sherlock Holmes ist dieses Buch eine höchst interessante, sehr gut geschriebene und mit großem Wissen, großer Mühe und viel Arbeit zu Papier gebrachte Lektüre, die ich in einigen Jahren gerne als grundlegenden Bestandteil einer jeden Holmes-Sammlung sehen würde. Einzig der versäumten Möglichkeit, in Zusammenarbeit mit deutschen Holmes-Kennern eine aktualisierte deutsche Holmes-Bibliographie zu erstellen und den Anhängen des Buches hinzuzufügen, trauere ich ein wenig hinterher – fraglos eine verpasste Gelegenheit. Doch das nimmt Nick Rennisons eindrucksvollem und äußerst gut aufbereitetem Werk nicht den Glanz oder dem Gedankenspiel mit der fiktiven Biographie von Sherlock Holmes gar den Reiz.

 

Wer sich für Sherlock Holmes und insbesondere sein Leben außerhalb der Bücher interessiert, sich aber auch intensiver mit der Figur und ihrem geschichtlichen oder sozialen Umfeld beschäftigen möchte, der kann bei dieser topaktuellen und formidabel geschriebenen Biographie eigentlich nichts falsch machen – und wird nach der Lektüre vor allem auch förmlich spüren, wie seine Sichtweise des Meisters der Deduktion merklich bereichert worden ist.

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240419133801a6bd2b61
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Buch:

Sherlock Holmes - eine unautorisierte Biographie

Autor: Nick Rennison

Gebunden, Schutzumschlag

Artemis & Winkler, 279 Seiten

Erscheinungsdatum: Februar 2007

ISBN: 3538072469

Erhältlich bei Amazon


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Erstellt: 03.02.2007, zuletzt aktualisiert: 08.03.2024 15:06, 3440