Störgröße M (Autor: Bernd Ulbrich)
 
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Störgröße M von Bernd Ulbrich

Utopische Erzählungen

Rezension von Ralf Steinberg

 

Rezension:

Störgröße M ist ein Band mit utopischen Erzählungen. Utopisch, weil es die offizielle Bezeichnung für SF in der DDR war. Utopische Geschichten stießen auf eine breite Leserschaft, mit dem richtigen sozialistischen Positivdenken darin, konnte man nichts falsch machen. Letztendlich fielen die Geschichten und Romane unter einfacher Unterhaltung, die Zensoren hatten lohnendere Objekte. Doch dieses M, der Mensch, ist ein unberechenbares Wesen. Die Geschichte der Zensur ist voller Fehler, wohl, weil sie es selbst bereits ist.

Das Störgröße M in der DDR erscheinen konnte, ist so ein Zufall, geboren aus Fehlern eines fehlerhaften, da menschlichen Systems. Dass die Geschichten brisanter oder einfach nur kritischer waren, als eigentlich veröffentlichungsfähig, wurde den Verantwortlichen erst hinterher klar. Dem Buch konnte das nicht mehr schaden, wohl aber dem Autor, dessen Veröffentlichungen fortan verhindert wurden.

 

Was aber ist das Besondere, Aufrührerische an den sieben Geschichten, dass sie eine derartige Reaktion auslösten? Und haben sie noch etwas zu erzählen, heute, wo jeder alles sagen kann und es so wenige Zuhörer gibt?

 

Die Antworten kommen dem Leser schnell.

Bereits in der ersten Geschichte, Das Jubiläum beweist Ulbrich, dass er wenig am Hut hat mit idealen sozialistischen Persönlichkeiten und ihrer geschichtlichen Rolle.

Gould und Simark reisen zum Pluto, um eine wissenschaftliche Monografie über einen der größten Helden der Raumfahrt zu schreiben: Kogol. Auf den Spuren der Legende lösen sie nicht nur das Geheimnis der Vergangenheit, sie dringen auch tief in ihre eigenen Abgründe vor, lassen einen tiefen Blick auf die Zustände einer Gesellschaft zu, die Heroen wie Kogol nötig hat, ohne im Geringsten auf die vergötterten Ideale wert zu legen.

Ulbrich verfällt nicht ins Psychologisieren, seine Figuren verfolgen ihre eigenen Interessen und stoßen sich an der Gegenwart, deren Gestaltung sie in der Hand haben.

Auch wenn das Ende trotz aller Dramatik versöhnlich scheint, handelt die Erzählung vom Versagen.

 

In Die bessere Welt sucht der geniale Vertreter Grünspan in einer Welt voller Automaten einen Weg, die Welt weiterhin mit Gutem, etwa Regenschirmen, zu überschütten und besser zu machen. In mephistotelischer Tradition trifft er auf seiner Reise immer wieder auf Penser, dem Denker, der auf der Suche nach einer Welt ist, die ihren Bewohnern gerecht wird.

Ohne dabei in irgendeiner Art und Weise den Kommunismus zu erwähnen, der ja eigentlich nach Ansicht der DDR-Philosophen genau jene gerechte Gesellschaftsform darstellen sollte, machen sich die beiden daran, den Kurort daraufhin zu überprüfen, wie gerecht er seinen Einwohnern wird.

So skurril die Erzählung auch wirkt, sie liest sich als klare Hinterfragung der sozialistischen Realität. Der Denker und der Traditionalist, sie beide reiben sich an unerreichbaren Träumen.

 

Dem Wettrüsten gewidmet ist Das große Rennen. Ohne große Schnörkel erzählt, wird dem Leser bald klar, wofür das Rennen der beiden Raumschiffsbesatzungen steht. Das Ziel ist genauso fragwürdig, wie die Lügen, die es in Gang setzten oder die Scheinheiligkeit, mit der die Beteiligten ihre Mittäterschaft rechtfertigen. So deutlich und gezielt, wie hier Ulbrich beide Seiten gleichermaßen in Frage stellt, verwundert es tatsächlich, warum Störgröße M erscheinen durfte.

Interessant ist die Frage, in wieweit man die Thematik damals, 1980, hätte erkennen können. Beide Supermächte behaupteten im Zugzwang zu sein, oder Abschreckung nötig zu haben, vielleicht das Aushungern zu erreichen. Und in der Erzählung geht es um die bessere Kolonie und damit auch „nur“ um die bessere Zukunft.

Heute ist das Wettrennen vorbei, Trümmer zeugen davon, aber keine Gewinner.

 

Um das Verhindern von Trümmern geht es in Der Cerpendeel-Effekt. Unter Anerkenntnis der gewaltigen Umweltzerstörung, die so in der DDR kein Thema war, erforscht Ulbrich hier mögliche Alternativen, bzw. Lösungsansätze.

Cerpendeel, der mit seiner Idee, des Verlassens der verseuchten Erde und eines Neuanfangs irgendwo anders, letztendlich eine breite Bewegung ins Leben ruft, erkennt auch den anderen Weg, den schwereren. Das Leben mit dem Müll. Und mit genau der Energie und Kraftanstrengung, die vorher in die utopischen Projekte der Raumfahrt gesteckt wurden, ist auch eine Wiederbelebung der Erde möglich.

Ulbrich skizziert hier seine eigene Future Historie, die dennoch sehr dicht an der Realität und trotz aller grüner Umweltpolitik aktuell, und wahrscheinlich leider auch zeitlos bleibt. Der Mensch besitzt soviel Schaffenskraft, doch wie wenig setzt er zum Wohle der Erde und seiner Bewohner ein.

 

Zivilleutnant Dincklee ist ein Quertreiber. Einer jener, die dafür gut sind, durch alternative Wege, Steine aus dem Weg zu räumen, wenn alle vorhandenen Regelwerke so etwas nicht zu lassen.

So geht es in der gesamten Erzählung um das Brechen von Regeln. Sowohl ethische, als auch gesellschaftliche Normen stehen auf dem Prüfstand, wenn das uralte Raumschiff „Messenger“ auftaucht. Deren Havarie überlebte der Bordarzt nur, weil er sich von den Körpern seiner Crewmitglieder ernährte, deren Wesen er vorher in den Computer transferierte.

Wie wahr ist seine Geschichte? Leben die Crewmitglieder tatsächlich noch? Ist der Kannibalismus Mord, oder Notwehr? Vor allem aber geht es Ulbrich um das Recht der Selbstverwirklichung und welch hohe Ansprüche dieses Recht an die zugrundeliegende Gesellschaft stellt. Die Erzählung kommt ohne große Show-Effekte aus und wirkt trotz der philosophischen Thematik nicht belehrend, dafür gelingen Ulbrich seine Protagonisten einfach zu überzeugend. Die Idee der zusammengeschlossenen Bewusstseinsinhalte taucht übrigens nur zwei Jahre später im Roman Andymon von Angela und Karlheinz Steinmüller in ähnlicher Brisanz und Richtung auf. Auch hier stellt sich die Frage, ob und wie viel mehr diese Summe der Geister sind, die sich selbst so dicht an Gott wähnen, was immer das auch sei.

In dieser eigentlich klassischen Science-Fiction Geschichte beweist sich Ulbrich erneut als Nonkonformist. Er stellt das Individuum über den Staat.

 

Wen es keinen Staat gibt, wenn alle Entscheidungen vom Augenblick abhängen, wenn persönliche Wünsche an einer Katastrophe gemessen werden, wie in Planet der Klasse Erde, offenbaren sich besonders die verborgenen Fähigkeiten. Das zum Absturz verdammte Raumschiff „Photon“ weckt vier Männer der Besatzung aus dem Kälteschlaf. Für weitere Reanimierungen reicht die Zeit nicht. Es gibt zwei Landeboote und der Planet voraus ist zum Überleben geeignet. Diese harten Tatsachen bringen die Vier zum Nachdenken und auch zum Handeln. Unter den Eingefrorenen haben sie Freunde, Frauen und Kinder. Alle sind sie dem Tod geweiht. Bis sich die Vier entschließen, anstelle einer Ladung eine Kältekammer mitzunehmen, eine Frau für das Überleben, für das Leben. Sie lassen den Computer entscheiden, nicht fähig diese Wahl selbst zu treffen. Ulbrich lässt seine Figuren zwischen Angst und Überlebenswillen taumeln, schleift sie an der Situation, bis sie ihr Innerstes freigeben. Seine Geschichte endet mit Leben und Tod zugleich. Vielleicht fehlt ihr die Schärfe der anderen Geschichten in diesem Erzählband, Planet der Klasse Erde ist eine eher durchschnittliche Bearbeitung des Themas.

Bernd Ulbrich war so freundlich, den Hintergrund für diese Geschichte näher zu beleuchten:

Die Geschichte Planet der Klasse Erde fällt deshalb etwas aus dem Rahmen, weil das eigentlich ein Roman werden sollte. Ich habe, da mir zum geplanten Umfang des Sammelbandes noch etwas fehlte, quasi das erste Kapitel zweckentfremdet und eine Erzählung daraus gemacht. Die ganze Dramatik, die sich aus diesem Anfang entwickelt, Gründung einer neuen Zivilisation, Begegnung mit degenerierten Hominiden, ethische Konflikte, praktische Bedrohung, Auseinandersetzung, Feindschaft untereinander usw. fehlt in diesem Beginn und wäre sicherlich als Ansatz später angelegt worden, wenn die spätere und nicht vorhersehbare Entwicklung der Personen und der Handlung es erfordert hätten. Solche Konstrukte mit Neubeginn und Auseinandersetzung ums Wie schwirren mir immer noch mal im Kopf herum. Vielleicht wird’s noch mal was in diese Richtung.

 

Ganz anders hingegen die Titelgeschichte Störgröße M. Mit Gespür für Schönheit und die leisen Gefühle erzählt Ulbrich von zwei Liebenden. Die sich lieben über wenige Meter hinweg, getrennt und verschüttet für Ewigkeiten. In kurzen Stunden des Wachseins, unterbrochen von jahrelangem energiesparendem Tiefschlaf, versucht Lauretta zu ihrem Liebsten Canabis zu gelangen. Ihre Gespräche über Helmfunk sind die Störgeräusche, die eine Messsonde oben an der Oberfläche in den Verruf der Unzuverlässigkeit brachte und dutzende Techniker die Nerven raubte. Wie Saul und Demperer, denen die Rettung der Liebenden fast vor die Füße fällt, die das Geheimnis der Sonde lüften können, doch zwischen Schwäche und Unglaube wird ein ungleicher Kampf ausgefochten. In allem liegt das Unberechenbare menschlicher Reaktionen.

Was bleibt, ist die Liebe.

 

Die Erzählung Störgröße M ist eine der nachhaltigsten Geschichten eines sehr abwechslungsreichen Bandes. Die Geschichten sind fast alle mehr als unterhaltende Science Fiction. Sie sind im positiven Sinne politisch, denn sie hinterfragen und stellen Gegenwartsbezüge auf, nicht nur zu unserer sozialistischen Vergangenheit.

Die Themen, von Wettrüsten über Umweltschutz bis hin zur Selbstverwirklichung, präsentiert Ulbrich mit einem so offenen und unangepassten Blick, dass es mehr als deutlich wird, warum man Bernd Ulbrich ein weiteres Veröffentlichen unmöglich machte.

 

Wenn diese Erzählungen heute noch etwas bewirken, dann vielleicht, dass es mehr Geschichten geben sollte, die außer Action und Unterhaltung, etwas beinhalten, das des Nachdenkens wert ist. Etwas mehr Pfeffer tut der SF sicherlich gut. Es geht nicht darum, ewig zu meckern oder zum Selbstzweck zu kritisieren. Aber etwas mehr Störgröße M sollte es schon sein.

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240419152739e955d779
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Störgröße M

Utopische Erzählungen

Autor: Bernd Ulbrich

Verlag Das Neue Berlin, 1980

273 Seiten

 


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Erstellt: 07.06.2006, zuletzt aktualisiert: 18.02.2024 09:28, 2350