Rezension von Chris Schlicht
Am 19. Mai 1845 startet in England eine waghalsige Expedition. Die Schwesterschiffe HMS „Erebus“ und HMS „Terror“, die modernsten Schiffe ihrer Zeit, starten mit 130 Mann Besatzung und Tonnen von Lebensmitteln und Kohle in die Arktis, um die sagenumwobene Nordwestpassage in den Pazifik zu finden. Etwas, das bis in die heutige Zeit eine Sage bleiben sollte, denn dieser Weg war bis heute nie völlig eisfrei. Und so war diese Expedition von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Keiner der Männer kehrte zurück. Man erfuhr nur durch Nachrichten, welche an bestimmten Punkten hinterlassen wurden und Exhumierungen ein paar Details.
Die Expedition steht unter dem Oberbefehl von Sir John Franklin, der das Flaggschiff „Erebus“ befehligt und Kapitän Crozier, einem Iren von niedrigem Stand, der die „Terror“ führt. Crozier ist ein Mann, der sich hoch gearbeitet hat und von den adeligen Expeditionsleitern nie wirklich akzeptiert wird. Doch Nomen es Omen: Erebus, der Gott der Finsternis und Terror, der Schrecken selbst, sollen für die Expedition bald sehr lebendig werden.
1847/48 sitzen die beiden Schiffe bereits den dritten Winter fest, nachdem Franklin sie mit seinem Drang, den Weg zu finden, nach einem Winter im Packeis vor der Beechey-Insel in eine gefährliche Situation gesteuert hat. Die Schiffe sitzen auf einem Gletscher fest, der sie nicht wie das normale Eis nach Süden mitnimmt, sondern in einem kleinen Kreis herum dreht und langsam zerdrückt. Nach dem zweiten Winter im Eis tauen die Schiffe jedoch nicht, wie nach dem ersten Winter, frei, sondern sitzen auch im Sommer fest. In diesem Sommer beginnt für die Besatzungen das absolute Grauen.
Es beginnt damit, dass die Schiffsärzte mit Entsetzen feststellen müssen, dass man ihnen mangelhafte Konserven als Proviant geliefert hat. Durch schlechte Verlötungen sind viele Lebensmittel verdorben oder mit Blei aus dem Löt vergiftet. Das bedeutet für die auf nicht absehbare Zeit festsitzende Mannschaft, dass die Lebensmittel bestenfalls noch über den kommenden Winter, nicht jedoch über die zu befürchtenden weiteren Winter reichen wird. Und frische Nahrung gibt es im Packeis nicht, außer Eisbären.
Als wären Kälte, Nahrungsmangel und beginnende Skorbut nicht genug, gibt es erste Opfer durch die Angriffe eines geheimnisvollen Wesens. Alle glauben zunächst an einen übergroßen Eisbären, welcher ein Opfer unter den Teilnehmern einer Schlittenexpedition zur nächst gelegenen Insel gefordert hat. Doch die Männer, die den Angriff miterlebten, waren nervöser als bei einem normalen Eisbärangriff. So schießen sie auf zwei Inuit, die sich ihnen nähern. Der Mann kommt dabei ums Leben, seine junge Begleiterin kommt mit auf die „Terror“. Eine Frau an Bord wird von den meisten Seeleuten als Fluch empfunden und die Frau macht bald als Hexe von sich reden. Lediglich der junge Leutnant Irving, der von Crozier zur Betreuung der Inuit abgestellt wird, erliegt ihrer Faszination und verliebt sich in Lady Silence, wie die Inuit genannt wird, weil ihre Zunge abgebissen wurde.
Im Sommer 1847 wird Sir Franklin von dem unheimlichen Wesen getötet und unter das Eis gezogen. Die Erebus ist bereits nicht mehr seetüchtig und die Seeleute sind sich sicher, dass sie das Schiff aufgeben müssen, sollten die Schiffe jemals aus dem Eis befreit werden können.
Das Monster fordert immer mehr Opfer unter der Besatzung. Es wagt sich auch immer häufiger auf die Schiffe vor und holt sich die Leute von der Wache. Ein Mann überlebt den Angriff des Monsters und er weiß sicher, dass es kein Eisbär ist. Doch was ist es dann und was hat Lady Silence mit ihm zu tun, die trotz aufmerksamer Bewachung durch Leutnant Irving kommt und geht, ohne dass sie jemand zu Gesicht bekommt, was ihren Ruf als Hexe noch pflegt. Ihr Verschwinden hat eine ganz banale Erklärung, aber was Leutnant Irving zu sehen bekommt, als er Silence ins Eis folgt, entzieht sich jeder Vorstellungskraft eines christlich erzogenen Menschen...
Ob es nun wirklich notwendig ist, eine monströse Erklärung für die Auslöschung von 130 Menschenleben auf dieser unseligen Expedition zu erschaffen, darüber lässt sich trefflich streiten. Eigentlich könnte man die knapp tausend Seiten auch mit den rein menschlichen Dramen füllen, die sich auf einem Schiff abspielen, das jahrelang im Eis festsitzt, ohne Hoffnung auf Rettung. Und das bei bis zu – 60° Celsius Kälte, ohne ausreichend Lebensmittel, beginnender Skorbut und Anflüge von Kannibalismus. Dan Simmons schafft es, jedem Besatzungsmitglied Leben und Motivation einzuhauchen, nicht zuletzt durch gedankliche Ausflüge in die Vergangenheit. So zum Beispiel Kapitän Croziers Verführung durch Sir Franklins Nichte in einem Schnabeltierweiher in Australien.
Am Anfang ist das Buch etwas verwirrend, denn Simmons springt in der Zeit hin und her. Jedes Kapitel wird aus Sicht verschiedener Besatzungsmitglieder erzählt und beginnt mit Kapitän Crozier im Winter 1847/48. Doch mit Sir Franklin kehrt die Handlung im nächsten Kapitel in die Vergangenheit, dem Beginn der Expedition zurück. Da jedes Kapitel jedoch mit genauer Orts- und Zeitangabe beginnt, wird es schnell klar und man findet in die Abläufe rein.
Dann aber nimmt die Geschichte mit dem schleichenden Grauen den Leser gefangen. „Terror“ ist absolut keine Lektüre für den Winter, außer man hat die Möglichkeit, sich ein schönes prasselndes Feuer im Kamin zu entzünden. Denn man braucht bei diesem Buch unbedingt etwas Warmes von außen, um die kalten Schauer, die es dem Leser über den Rücken jagt, zu mildern. Dan Simmons gelingt es mit seinen detaillierten Beschreibungen, dass der Leser sich ganz in die Situation der Männer hineinversetzen kann, die bei den höllisch kalten Temperaturen Eis festsitzen, ohne die Hoffnung auf eine Rückkehr. Man fängt automatisch an zu frieren, wenn man mit den Leuten Wache schiebt, die sich in immer dickeren Schichten Kleidung einwickeln, ohne den Fehler in ihrer Denkweise zu erkennen. Ihre Denkweise verbietet es, sich ein Beispiel an der Inuit zu nehmen, die nur einen Fellanorak auf blanker Haut trägt – mit dem Fell nach innen. Sie ist schließlich nur eine Wilde.
Monster hin oder her, Das Buch besticht auch durch die gründliche Recherche, die Simmons betrieben haben muss, denn man wird als Leser in jedem beschriebenen Detail in die damalige Zeit und die damals vorherrschenden Denkweisen zurückversetzt. Das Monster ist auch nur ein Detail im großen Ganzen. Ein Stimmiges, das zu dem Grauen der winterlichen Arktis passt und nur für einen kleinen zusätzlichen Schauder sorgt. Das wahre Grauen ist die Örtlichkeit, das alles verzehrende Eis, das genauso lebendig zu sein scheint wie das Monster. Das Eis, das die beiden Schiffe zu fressen beginnt und am Ende verschlingt.
Bestes Lesefutter für Leser, die sich ganz und gar in das Setting und die Charaktere hineinversetzen wollen. Die Warnung ist angebracht, sich beim Lesen warm anzuziehen, sonst stecken die Frostbeulen an. Auch die Fans von H. P. Lovecraft dürften hier voll auf ihre Kosten kommen.
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