The Antman
Autor: Marc Meyer
Verlag: Blitz-Verlag
Exotic-Horror
256 Seiten Paperback
Best.-Nr. 2121 - 12.90 EUR
Erhältlich bei: Amazon
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Leseprobe 1:
aus dem Kapitel: "Das untote Erbe der Alvarez"
Don José de Alvarez blickte sich um. Die Sonne stand im Zenit, das Licht war so gleißend, dass Don José selbst unter dem Sombrero die Augen zu einem ameisenkleinen Schlitz zusammenkneifen musste, um nicht zu erblinden. In den Achsen des Jeeps hörte er das Schmierfett sieden. Sonst war es still. Don José konnte nur hoffen, allein zu sein, wenngleich er ein Recht fühlte, den geweihten Canyon betreten zu dürfen. Das arabeseke Mal in seiner Hand schmerzte wie Tequila auf einen frisch beschnittenen Kinderpenis.
Langsam schritt Don José auf den Canyoneingang zu. Im Kontrast mit dem heftigen Sonnenlicht schienen die Schatten der Felsen wie schwarze Mauern, die sich nur öffneten, um zu verschlucken, was immer sie berührte. Don Josés Herz pochte, dreißigmal heftiger als vor 22 Jahren, da er den Canyon zum letzten Mal betrat.
Der Weg durch den langen Schattengang der Felsen erschien ihm als ausweglose Ewigkeit. Keine Grille zirpte. Kein Luftzug ließ die kantigen Wände heulen. Don José merkte, wie der Untergrund sich änderte. Aus dem Sand wurden runde Steine und dann knackte es unter seinen Füßen, als laufe er auf einem Teppich morscher Äste und Zweige. Das war früher nicht so gewesen. Als er dann am Ende des kühlen Ganges den Canyonkrater erreichte und seine Augen sich wieder gewöhnt hatten an das schmerzende Licht, gefror Don José das Blut in den Adern.
Vor ihm lag ein riesiges Meer aus menschlichen Skeletten, und was er für Äste und Zweige gehalten hatte, waren nichts als Knochen, in denen er knöcheltief stand.
Dieser Anblick war selbst Don José, der in seiner Soldatenzeit so manche anatomische Geschmacklosigkeit studieren musste, zu irreal. Erst nach und nach begriff er, dass dies kein Alb war, der ihn drückte. Er war im Hier und Jetzt.
Langsam schritt er in dem Skelettmeer voran, zu nicht mehr in der Lage als sich ein ums andere Mal bange zu bekreuzigen. Ihm fiel nun auf, dass an den Skelettknochen noch Armbänder, Halsketten und Uhren hingen, vor allem aber die verschlissenen Stoffreste von Röcken und Kleidern. Madre Mia! Alle Leichen, die Don José sah, waren Frauenleichen. Bleich wie das Knochenmeer selbst, stand Don José in dieser gräuslichen Dünung des Todes.
Hatte Bella sich nicht beschwert, dass alle Männer in Campo del Sol sie anstarrten, als wären ihre Frauen aus dem Jahresurlaub nicht zurückgekommen? Hatte er im Ort, abgesehen von der altkommunistischen Bürgermeisterin, irgend eine Frau gesehen? Was für eine Epidemie mochte das sein, die hier gewütet hatte? Und warum lagen all diese Knochen so scham- und würdelos zusammengeschoben hier im Canyon? Que se passa aqui?
Don José gingen nie zuvor so viele Fragen auf einmal durch den Kopf. Und nie zuvor schien eine Antwort ihm ferner. Plötzlich verfing sich sein Blick an einen grauen Rest edel geklöppelter Rockspitze. Don José fiel nieder auf die Knie, nahm das Stück Spitze in die Hand. Si! Don José erkannte an diesem kleinen Zipfel seine gesamte Kindheit wieder. Zu oft hatte ihm dieses Stück Stoff Trost und Wärme gespendet. Don José wühlte tiefer in den Knochen. Schließlich hielt er ein löchriges Kleid in den Händen, dessen Schick und Eleganz trotz der Verwesung unverkennbar war. Auch erkannte Don José an den fahlen Knochen den schlichten Schmuck, vor allem aber das kleine Perlmuttmedallion an den Halswirbeln.
"Muuuutteeeeerrrrr!!!"
Don José reckte sein Gesicht gen Himmel und die Wucht seines Schreis riss die Sonne entzwei.
***
Für einen Moment schien es Bella, als würde das Licht des Tages vom Himmel forttanzen und nichts als ein schwarzer Schleier über die Wüste schweben. Doch das mochte ein letzter Streich ihres Halbschlafes sein, aus dem sie jetzt hochschreckte.
Bella rieb sich die Augen. Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren, wo sie war. Ihr Blick fiel auf das Familienfoto der Alvarez, über dem noch immer die Krone aus Säbel und Peitsche hing. Campo del Sol. Claro. Bella fühlte, wie ihre Haut klebte. Eine Dusche. Jetzt oder nie. Tranig und verspannt wie eine Alkoholikerin schlurfte sie in die Küche.
Don José war wirklich lieb. Auf der Anrichte lagen ein frisches Handtuch und eine Flasche Apfelschampoo, dazu ein kleiner Zettel:
Ich liebe den Duft deiner gegorenen Frucht.
Besos, José
Für einen Soldaten verdammt poetisch, dachte Bella, küsste die krakelige Schrift auf dem Papier, strich sich den letzten Dunst des Traumes aus dem Gemüt. Skeptisch fiel ihr Blick auf den Wasserhahn der Spüle. Eine böse Ahnung stieg in ihr hoch. Kurzerhand drehte sie den Hahn auf, so weit es ging. Es gurgelte seltsam, ein wenig Sand und Rost fiel aus der Öffnung. Dann gurgelte es noch mehr, bis schließlich in einem munteren Schwung ein klarer Schwall Wasser ins Spülbecken spritzte. Bella lächelte, hielt ihre Hand in das sprudelnde Nass. Kühl, fast heilig rann es durch ihre Finger. Sie befeuchtete ihr Gesicht, was einer Erlösung schon sehr nahe kam. Für eine komplette Wiederauferstehung benötigte sie jedoch den massiven Strahl des lebensspendenden Elementes auf ihrem ganzen Körper. Also drehte sie den Wasserhahn wieder zu, legte ihre Kleider ab, wobei sie selbst noch einmal leicht erschrocken den gegorenen Fruchtgeruch einatmete, von dem Don José so schwärmte. Dann ging sie in die kleine Fliesenecke, wo das Duschrohr aus der Wand kam.
Jetzt merkte Bella, dass die Fenster keine Vorhänge hatten. Zu ihrer Erleichterung sah sie im staubigen Ruinengarten des Anwesens aber kein Hüttenfenster oder sonst irgend einen Punkt, von wo aus man die ozeangleiche Dünung ihres nackten Körpers hätte erspähen können. Bella lächelte. Mit Paparazzis war in Campo del Sol gracias-à-deus nicht zu rechnen. Noch ein Vorteil der Provinz, dachte sie.
Bella entfernte das Mehlsieb unter dem Duschrohr, drehte den alten Eisenhahn in der Wand so weit es irgend ging auf.
Wieder gurgelte es aus voller Tiefe. Bella atmete tief ein. Sie reckte sich der Rohröffnung entgegen, schloss die Augen, öffnete die Lippen. Sie konnte es nicht erwarten, wiedergeboren zu werden. Es hat Maler gegeben, die sich versuchten an der Verewigung des Bildnis einer badenden Venus; doch der Anblick Bellas in diesem Moment raubte jeder bisherigen Kunst jegliche Anmut und Passion. Santa Señora! Bella war ein Meisterwerk des Allmächtigen persönlich! Und vielleicht war Gott ja eine Frau, die sich in Bellas Körper selber zelebrierte.
Endlich löste sich ein erster Wassertropfen vom Rand des Rohres und zersprang feierlich auf Bellas geschlossenem Augenlid. Aus noch tieferem Grund gurgelte es verheißungsvoll im Rohrsystem. Bella öffnete die Augen, bereit, die Erquickung mit allen Sinnen zu genießen. Doch in diesem Moment schoss aus dem Rohr ein rostbrauner Perlenbrei. Er überzog Bella wie ein Netz aus Nylon.
Meinte Bella im ersten Moment noch, es handelte sich um ein matschiges Gemisch aus Rost und Sand, welches sich im Rohr abgelagert hatte, spürte sie nun, wie der vermeintliche Matsch sich auf ihrer Haut bewegte. Bella erkannte, was als dunkler Strahl unablässig auf sie niederprasselte: Ameisen. Abermillionen von kleinen, erregt durcheinander krabbelnden Ameisen, eine jede mit sechs haarfeinen Beinchen und zwei Fühlern, die Bellas gesamte Haut wirr ertasteten und ein flirrendes Muster über ihren geschwungenen Körper zogen, schon den gesamten Boden bevölkerten, in der ganzen Küche dunkel prasselten.
Bella schrie. Sie schrie wie am Spieß, wie an Tausenden, Milliarden kleiner und kleinster Spieße, die vom Leibhaftigen persönlich geweiht waren, um den Menschen an die dünne Schwelle zwischen Tod und Wahnsinn zu treiben, an der er sich dann entscheiden muss, welcher Instanz er nun seine heilige Seele verschreibt. Doch Bella kämpfte, schlug um sich, wischte die stecknadelkopfgroßen Biester von ihrer Haut, spuckte, schluckte und würgte und spie sie aus sich heraus, glaubte schon die Schwelle der panischen letzten Gegenwehr überschritten zu haben, fühlte beinahe das verräterische Glück der allerletzten Hingabe in eine unbekannte, doch jedenfalls Erlösung bringenden Welt, starb vor Ekel und vor Qual - als plötzlich ein sonorer Singsang erklang.
Ähnlich dem Gesang des Trauerzuges, doch intensiver, fülliger, erschütternder, klang von irgendwoher eine tiefe, beinahe vibrierende Liturgie. Im Nu verschwanden sämtliche Ameisen von Bellas Körper, ja selbst die Bisse, wenn sie denn welche hatte, schienen auf Bellas Haut zu verblassen. Aller Schmerz, alle Pein waren mit einem Schlag dahin. Lediglich ein tumbes Gefühl des Angewidertseins blieb. Im Vergleich zu dem vorher Erlittenen erschien dies nichtig. Die Ameisen drückten sich durch die Ritzen und Fugen des Küchenbodens fort, waren schon so gut wie verschwunden.
Bella versuchte zu orten, woher diese seltsame Melodie kam, die offensichtlich dafür verantwortlich war, dass die Ameisen von ihr abließen. Schließlich sah sie aus dem Schatten des Durchgangsflures zwei Hände, die beschwörerisch in der Luft herumtanzten. Der Gesang verstummte und aus dem Dunkel des Ganges trat ein schmächtiger, totenblasser Knilch, dessen hohle Wangen wie Gesichtsdurchbrüche wirkten. Im ersten Hauch des einfallenden Lichtes blieb er stehen und starrte als Fratze Bella reglos an.
Als ersten Reflex ihrer wiedergewonnenen Besinnung griff Bella nach dem Handtuch, dass sie so gut es ging um ihren Körper schlang.
"Muchas Gracias, Señor", entfuhr es Bella.
Die Fratze lächelte schüchtern, wobei sie einen dicken Goldzahn in einem tadellos gepflegten, blütenweißem Gebiß entblößte. Über den endlos tiefen Wangengruben leuchteten zwei Augen wie die eines Geburtstagskindes.
"Die Ameisen sind faszinierende Wesen. Finden Sie nicht?", sprach eine sonore Stimme Bella fordernd an.
"Nicht wirklich, nein", bekannte Bella. Das Gefühl des Ekels stieg nun erbarmungslos in ihr hoch. Sie drehte sich weg, und würgte in die Spüle alles, was ihr Magen besaß.
Als sie wieder hochschaute, war ihr vermeintlicher Gast bereits ein paar weitere Schritte näher gekommen.
"Oh, jetzt habe ich sie aber beim Lügen erwischt", singsangte er, "gerade eben haben diese kleinen Tierchen sie zu Gefühlen hingerissen, die eindrucksvoller waren als alles, was sie bislang kannten. Und was ihnen unter die Haut ging."
Er griente mit einer groben, wisserischen Penetranz, trat noch zwei weitere Schritte dichter an Bella heran. Bella wich keinen Schritt zurück, sondern hielt seinen schalen Blicken stand. Das ließ ihn unsicher werden, für einen Augenblick zumindest.
"Oh, verzeiht, Schönste." Er nahm Haltung an. "Satano. Loco Satano", stellte er sich vor, "man kann sich seinen Namen nicht aussuchen. Man ist das, was die Welt aus einem macht." Und trällernd fügte hinzu: "Schicksale, Señora Bonita. Schicksale."
Dazu machte er einen tiefen Knicks vor ihr, während sein Mund genüsslerich zuckte.
"Meine neue Königin ist da.... Meine neue Königin ist da...." - grell hallte die Stimme Loco Satanos durch sein unterirdisches Reich.
Bella fror wie eine Schneiderin. An die Kühle hier unten konnte sie sich einfach nicht gewöhnen. Sie schaute sich um: Keine zehn Schritte war sie von der Treppe, die in diese Höhlenwelt führte, weggegangen. Doch schon konnte sie kaum mehr ausmachen: Welcher der vielen Gänge führte tiefer in den labyrinthischen Keller von Loco Satano hinein? Und welcher wieder aus ihm heraus?
"Meine neue Königin ist da..."
Allein Loco Satanos großmundiges Frohlocken gab Bella die notwendige Orientierung. Wenn sie schon nicht wusste, wo sie war, konnte sie doch anhand seiner Stimme ausmachen, wo der Herd allen Übels sich gerade rumtrieb. Bella schlang die Stola um ihren Hals. Kurz ärgerte sie sich über die Wahl für das knappe Rote. Dann streifte sie ihre unbequemen Designersandalen ab und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Über den sandigen Boden und an den Wänden entlang flimmerten dunkle, fiebrig zitternde Teppiche aus Ameisen. Bella bemühte sich, die Tierchen nicht zu berühren oder gar auf sie zu treten. Was schwer war, denn es gab keine Stellen, an denen es nicht wimmelte. Doch gingen die emsigen Tierchen einer Beschäftigung nach, die mit Bella nichts zu tun haben schien. Jedenfalls blieb die Journalistin unbehelligt. Sollten diese Tierchen doch um so viel possierlicher sein, als Bella glaubte? Hatte Loco Satano letztlich einen guten Grund für seine Ameisenliebe?
Bella schoss ein paar Photos. Der Blitz löste mittelschwere Irritationen in den wimmelnden Kolonnen aus, doch Bella blieb weiter unbeachtet. So bewegte die unerschrockene Journalistin sich immer sicherer auf den Irrwegen aus Sand und Ameisen, darauf bedacht, dem singenden Herr dieses Labyrinthes zu folgen, ohne ihm zu begegnen.
An der stetig fallenden Temperatur merkte Bella, dass sie ungewollt tief in die Höhle Satanos geriet. Auch wurden die Gänge breiter und höher.
"Meine neue Königin ist da..."
Claro. Bella konnte sich denken, wer mit diesen Worten gemeint war. Dennoch war sie mit jeder Wiederholung dieses verheißungsvollen Rufes weniger beeindruckt. Loco war ein Sonderling, und sicher: nicht ganz dicht in der Birne. Aber was hatte er ihr denn bislang getan? Nichts Böses jedenfalls, wenn man von dem einen oder anderen gehörigen Schrecken, den er Bella eingejagt hatte, absah.
Sicher redete sich Bella ihre Situation auch deswegen ein wenig harmloser, als sie sie tatsächlich empfand. Doch auch ganz rational betrachtet: Don José hatte sich letztlich als das weit aus größere Arschloch gegeben als sein kleiner Bruder. Bis sie nicht alle Gründe im Detail kannte, beschloss Bella Bonita, wollte sie Loco Miguelito nicht weiter einseitig verurteilen. Du bist eine verdammte Journalistin, fauchte Bella sich an, keine elende Boulevardblattschickse.
"Meine neue Königin ist da..." Irgendwie klang das auch süß.
Bella trat in einen Raum, der größer und tiefer war als die anderen. Der Anblick dieses Raumes ließ sie die mahnende Stimme fast vollkommen vergessen - so groß war ihr Staunen: Unter der Decke dieser kathedralenartigen Halle hingen riesige, fluoreszierende Ballen. In diesen Ballen, so konnte Bella gut erkennen, wurden Ameisenlarven versorgt. Doch neben dem Effekt der Vermehrung spendeten diese Brutkokons ein gleichbleibendes, unverschämt friedlich wirkendes, hellblaues Licht.
"Meine neue Königin ist da...."
Fasziniert schaute Bella auf die Brutleuchten. Es hatte eine schönere Wirkung als eine klare Vollmondnacht. Jeder Installationskünstler von Mexico City hätte seine Seele für eine Ausstellung mit einem solchen Effekt gegeben. Auf der jährlichen Wissenschaftsseite des Correio dela Mañana hätte eine Fotoreportage über dieses Phänomen alle anderen Beiträge ausgestochen. Ganz zu schweigen von der Zweitauswertung in den renommierten Fachblättern. Bella schoss ein Photo. Dieses Licht ist so schön, dass es beinahe verliebt macht, dachte Bella.
"Meine neue Königin ist da..."
Locos Ruf klang mittlerweile verdammt nah. Bella orientierte sich in dem riesigen Raum, in den sie, ohne es zu merken, tief hinein geraten war. Was würde Loco wohl sagen, wenn er sie hier so stehen sah? Wäre er überrascht, wie vorhin an der Tür, beinahe übertölpelt, was ihn so unbeholfen und so niedlich erscheinen ließ? Oder hatte er wieder diese von Leidenschaft, ja beinahe Manie durchdrungenen Blicke, die ihn im ersten Moment rüde und streng, im zweiten Moment aber so fordernd, so versprechend, so männlich wirken ließen? Bella atmete tief durch. Sie hatte eine Gänsehaut am ganzen Körper, aber sie wusste nicht mehr, ob sie diese von der Kälte hatte.
In diesem Moment spürte Bella, wie ihr etwas an die Wade fasste. Zuerst nahm sie die Berührung nicht war, doch schließlich krallte es sich tief in ihre Haut, so dass Bella ihren Blick irritiert, beinahe ärgerlich, von den hellblauen Deckenlichtern wieder zur Erde wandte. Es traf sie der Schlag: Bella schaute in die zombiehaften Maske einer siechenden Frau. Mühsam bewegte die armselige Kreatur ihre Lippen, ohne dass ein wahrnehmbarer Ton herauskam. Bella blieb das Herz stehen. Erst, als sie ihren Blick weiter im Raum schweifen ließ, verstand Bella: Überall auf dem Boden verteilt lagen Frauenkörper, die meisten von ihnen mit stummen, verzerrten Gesichtern, in denen es vor Leid und letzter Lebenskraft wirr zuckte - wenn nicht schon der matte Glanz einer faltigen Totenmaske allem Leben einen zweifelhaften Frieden vorgaukelte. Das Groteske und zweifellos Ekelhafteste aber war: Um die Hüften herum war jeder einzelne Leib breit aufgedunsen und bildete einen riesigen, transparenten Bauch, der - mal mehr, mal weniger voll - vor unzähligen, ovalen, weißen Eiern zu bersten drohte. Die prallsten dieser Leiber wurden von zahlreichen Kolonnen ausgewachsener Ameisen belagert, und sobald die wurmigen Larven aus ihren Eiern schlüpften, wurden sie fortgetragen, um in den fluoreszierenden Ballen unter der Decke weiter heranzuwachsen. Bella erkannte in den umherliegenden Kreaturen unschwer das Schicksal der Frauen von Campo del Sol - und weiß der Teufel woher noch.
"Meine neue Königin ist da..."
Die Stimme war nun so nah, dass kaum mehr ein Echo nachhallte. Bella schreckte zusammen. Wieder griff die schrecklich verwandelte Frau an Bellas Wade. Bellas Herz klopfte wie der Zylinderblock ihres ehemaligen Sportwagens auf der Fahrt zum Staudamm Esperanza da Nossa Señora de Bueno Fé. Sie musste sich verstecken, und zwar schnell und anstandslos. So lautlos sie konnte, hastete sie zum nächsten Wandvorsprung und verbarg sich hinter drei schrumpfkopfähnlichen Körperhüllen, die gleich achtlos fortgeworfenem Müll am Rande dieser schrecklichen Brutkammer herumlagen.
Bella war noch nicht ganz in Deckung, als Loco Satano den Raum betrat. Sein verheißungsvolles Meine-neue-Königin-ist-da-Geträllere verplätscherte langsam in seiner sturen Kehle. Staksigen Schrittes watete er durch den Raum.
"Ah, alte Biester, alte. Alles alt, alt, alt", beklagte er sich und inspizierte die Unzahl herumliegender Brutleiber Stück für Stück. Bella atmete durch: Er schien ihre Anwesenheit nicht bemerkt zu haben. Nervös suchend tastete Loco Satano sich von Frauenleib zu Frauenleib, mokierte sich über den Verfall seiner alten Königinnen.
"Ah, die geht noch", wählte er schließlich jene aus, die gerade eben Bella noch flehend ans Bein gegriffen hatte. Loco schnallte seine Teekanne vom Gürtel, stellte sie auf den Boden neben der leidenden Königin. Dann fasste er ihre Brüste, die zu seiner Unzufriedenheit schon sehr schlaff waren, und drückte sie so lange und so fest, bis eine milchige Flüssigkeit daraus schoss und die Teekanne füllte.
"Alt, alt, schon so alt...", zeterte er weiter, als würde es ihm das Herz brechen. Auf das schmerzverzerrte Gesicht der am Boden sich windenden Kreatur achtete er dabei kaum. Nur einmal warf er ihr einen halbfeuchten Luftkuss zu, wie es alte Männer tun, die gelangweilt aus vorbeifahrenden U-Bahnfenstern stieren.
Schließlich ließ Loco von der Königin ab, stand auf und nippte kurz an dem frisch abgefüllten Tee.
"Hmmmm", befand er, bis der bauchige Ton seiner Kennerschaft wieder überging in ein sonores: "Meine neue Königin ist da..."
In diesem Moment knackte es aus der Ecke, in der die toten Königinnen gelagert wurden. Loco zuckte jäh zusammen.
Bella hatte in dem Bemühen, ein Niesen zu unterdrücken, einen Ausfallschritt nach hinten gemacht und dabei ein herumliegendes Jochbein zertreten. Gebannt starrte sie nun in Richtung Loco. Der blickte sich irritiert um.
Ihren Atem hielt Bella bereits an, seitdem Satano den Raum betreten hatte. Nun aber ließ sie langsam alle Luft aus sich heraus, in der Hoffnung, noch kleiner zu werden, als sie sich ohnehin schon hinter den dürren Skeletten der toten Königinnen machte. Bella hatte Angst, ohnmächtig zu werden. Aber aus irgendeinem Grund hielten ihr Körper und ihre Psyche diesen endlos währenden Moment aus wie eine Schlange die Winterstarre.
"Ah, caramba", erinnerte sich Loco schließlich, als seine suchenden Blicke die Leuchtballen unter der Decke erspähten, "fast vergessen: ihre Erkältung."
Er zog seinen Medizinbeutel aus der Tasche. Mit ein paar arhythmischen Schnalzlauten veranlasste er die Ameisen dazu, einen der Leuchtballen von der Decke herabzulassen. Als der Kokon auf seiner Höhe war, fasste er in das fluoreszierende Gebilde und zog eine Handvoll halbverwandelter Larven heraus.
"Na, meine Kleinen? Fühlt ihr euch einsam? Tut mir leid, aber bald werdet ihr wieder mehr sein. Unendlich viele werdet ihr sein, die Einzigen auf dieser Erde werdet ihr sein. Ihr Hoffnungsvollen. Wir sind kurz vor dem Triumph. Jaja. Und jetzt verzeiht, meine Süßen."
Er wiegte die Larven noch einmal in seiner Hand, dann drückte er fest zu, so dass es aus seiner Faust erst wild fiepste und schließlich ein harziger Saft daraus hervortropfte. Diesen Saft fing Loco in seinem Medizinbeutel auf. Dann öffnete er seine Hand, küsste innig den Larvenmatsch darin, putzte seine Finger an seinem schmuddligen Hemd sauber und verschwand.
"Meine neue Königin ist da..." - seine Stimme wurde leiser.
Bella holte wieder Atem. Sie versuchte ein Photo von der Szenerie zu schießen, aber ihre Hände zitterten zu sehr. Dann fragte sie sich, wie sie so schnell wie möglich aus dieser Hölle herauskommen könnte? Sicher gab es noch weitere Ausgänge irgendwo in der Wüste. Aber erstens kannte Bella diese nicht und zweitens hatte sie keine Lust, lange danach zu suchen. Mit ein bisschen Glück würde sie den Weg zurück in Locos Hütte finden - am besten, bevor Loco dort ankam. Locos Vorteil: Er kannte sich hier unten aus und war bereits auf dem Weg zurück. Bella überlegte nicht lang.
"Aaaaaahhhhhhhrrrrgggg!", stieß sie den markerschütterndsten Schrei aus, zu dem sie fähig war. Selbst die letzten noch zu einem Lebenszeichen fähigen Königinnen am Boden der Brutkammern schauten Bella entsetzt an.
Locos Königinnengesang verstummte. Als das letzte Echo ausgehallt war, hörte Bella kurze, tapsige Schritte, die sich wieder in ihre Richtung bewegten. Er kam zurück. Jetzt musste sie nur noch einen Weg finden, der in den Verschlag im Kakteengarten führte, ohne dabei den Weg von Loco zu kreuzen. Noch einmal schaute Bella der Königin, die gerade so rüde abgemolken worden war, in die Augen. Die Königin blinzelte Bella zu. Die missbrauchte Frau nahm ihre letzte Kraft zusammen und gab einen Schrei von sich. Der war nicht halb so laut wie der von Bella, doch mindestens so markerschütternd und jedenfalls veranlasste er Loco, seine Schritte schneller in Richtung Brutkammer zu setzen. Bella zwinkerte dankend zurück. Sie verschwand hinter dem nächsten Felsen.
So schnell und so leise wie möglich rannte Bella Bonita durch das Labyrinth der Kellergänge von Loco Satano. Sie hatte die Hoffnung, den Ausgang zu finden.