Unknown Armies
 
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Unknown Armies

Rezension von David Grashoff

 

So eine Spiele Messe wie sie jährlich in Essen stattfindet, ist natürlich der ideale Ort, um neue Produkte zu präsentieren und an den Rollenspieler zu bringen. So dachte sich auch der Vortex Verlag, ein Ableger des SighPress Labels (Degenesis), der dort mit seiner Übersetzung des amerikanischen Unknown Armies Regelwerks aufwartete. Das 440 Seiten starke Grundregelwerk besticht durch eine sehr ansprechende Optik und einem Gewicht, dass jedem Postboten Angstschweiß auf die Stirn treibt. Auf dem schlichten, in schwarz gehaltenem Umschlag des Buches sieht man einen rothaarigen Typen, der aus einem Fenster steigt. Die Zeichnung ist sehr hübsch, auch wenn sich mir der Zusammenhang zum Spiel nicht erschließen will. Das Buch ist auf jeden Fall ein Eye-Catcher, das sich von den meisten äußerlich überladenen Rollenspielwerken abhebt.

 

Die Welt von Unknown Armies ist im Grunde ein Abbild der unseren, zumindest an der Oberfläche, denn kratzt man mal ein wenig an den vereisten Scheiben seiner Wahrnehmung, kann man seltsame Dinge sehen, von dessen Existenz man bisher nicht zu träumen wagte. Hat man dann erst einmal den Normalitätsschleier durchschaut und einen Blick auf die andere Seite - auf den okkulten Untergrund - geworfen, ist man nicht mehr der Mensch, der man vorher war. Dieser okkulte Untergrund ist ein Sammelbecken von magisch begabten Freaks, bizarren Sekten und Wesen, die es eigentlich nur in Horror Romanen geben sollte. Inmitten dieser Welt in der Welt können die Spieler verschiedene Rollen einnehmen, die sich in dem Kenntnisstand der Charaktere im okkulten Untergrund unterscheidet. Sie können als normale Menschen beginnen, die durch einen bestimmten Auslöser einen Einblick in den okkulten Untergrund bekommen haben und nun versuchen, mehr darüber herauszufinden. Möchten die Spieler lieber in die Rolle von Charakteren schlüpfen, die den Untergrund kennt, gibt es die Möglichkeit eine Eingeweihten Kampagne zu spielen, bei der die Charakter entweder Adepten darstellen können – durchgeknallte Magier, die aus ihrer Obsession Kraft schöpfen – oder Avatare, beinahe-Götter, die bedingungslos dem Pfad eines Archetypen folgen.

 

Schon bei der Charaktererschaffung wird schnell klar, das Unknown Armies einen anderen Weg geht, als viele andere Rollenspiele. Anstelle von ellenlangen Fertigkeitslisten und 8000 Charakterschaffungspunkten, die es zu verteilen gibt, wird hier der Charakter erst durch Wesenzüge definiert und dann durch Werte. Jeder Charakter besitz eine Obsession, um die sich alles in seinem Leben dreht. So ist die Obsession eines Trinkers der Alkohol, andere haben vielleicht ihren Glauben als Obsession, wiederum andere möglicherweise das Rollenspiel. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Charaktere sind die Impulse, neuralgischen Punkte, die bei den Charakteren gewisse Reaktionen hervorrufen.

Wovor hat der Charakter angst? Was macht ihn wütend? Wofür setzt er sich ein?

Hat der Spieler diese Punkte festgelegt, kann er sich den Attributen (Körper, Schnelligkeit, Verstand und Seele) und den Fertigkeiten widmen. Im Grundregelbuch werden nur einige Basisfertigkeiten genannt, alles andere liegt in der Hand der Spieler. Sehr originell finde ich die Tatsache, das man sich selber seine Fertigkeiten festlegen kann und, folgt man den Vorschlägen aus dem Buch, ihnen Namen gibt, die zu dem Charakter passen. Dieser Vorschlag gilt übrigens auch für die Basisfertigkeiten. So heißt die Fertigkeit Handgemenge bei einem ausgebildeten Elitesoldaten vielleicht „3650 Arten mit den Händen zu töten“, während ein Gangmitglied aus Berlin Kreuzberg diese Fertigkeit „Krass auf die Fresse“ nennt.

 

Das Regelsystem ist denkbar einfach und passt auf ganze 2 DIN-A4. Es basiert auf Prozentwürfe, wobei man meist seinen Attributs- oder Fertigkeitswert mit dem W100 unterbieten muss. Zusätzlich gibt es noch Stresswürfe, bei denen man in besonderen Situationen würfeln muss und entweder ein Stück weit den Verstand zu verlieren oder abzustumpfen. Der Geisteszustand wird durch fünf Aspekte repräsentiert: Gewalt, Isolation, Übernatürliches, Hilflosigkeit oder Identität. Obwohl mit diesen Begriffen auch bestimmte Werte verbunden sind, dienen sie dennoch eher der rollenspielerischen Tiefe eines Charakters. Generell hat man bei Unknown Armies das Gefühl, dass die Regeln eher Mittel zum Zweck sind und vor allem dazu dienen sollen unklare Situationen oder Konflikte schnell und dynamisch zu lösen. Der Hauptaugenmerk liegt ganz klar auf das Rollenspiel, auf die Geschichte, auf den anspruchsvollen Hintergrund. In diesem Sinne wurde auch die Magie einfach und verständlich gestaltet. Es gibt drei Arten von Magie bei Unknown Armies. Die Ritualmagie, die von jedem benutzt werden kann, der die komplizierten Rituale kennt und richtig ausführt. Die Adeptenmagie, die von den Adepten benutzt wird. Jeder Zauber eines Adepten kosten eine gewisse Anzahl an Ladungen. Dabei gibt es schwache, starke oder mächtige Ladungen. Ist ein Zauber einfach, verbraucht er vielleicht ein oder zwei schwache Ladungen. Je mächtiger ein Zauberspruch, desto mehr oder mächtigere Ladungen muss der Adept verbrauchen. Ladungen bekommt er wenn er bestimmte Dinge tut, die seiner Adeptenklasse entsprechen. So bekommt ein Epideromant eine schwache Ladung, wenn er sich mit dem Rasiermesser einen Schnitt in den Unterarm zufügt, eine starke, wenn er sich einen kleinen Finger abschneidet, eine mächtige wenn er sich zum Krüppel macht. Neben der Epideromanten gibt es noch eine Vielzahl von Adeptenklassen, die sich alle auf einen bestimmten Aspekt des Lebens fixieren und durch diese Obsession ihre Kräfte erhalten haben. Der Dipsomant ist ein Säufer, der durch den Genuss von alkoholischen Getränken an Macht gewinnt, während es dem Plutomant nur um Geld geht und der Videomant seine Ladungen bekommt, wenn er seine Lieblingsfernsehsendung schaut. Diese Ladungen können dann für mehr oder wenige nützliche Zauber genutzt werden, die natürlich zum Kontext des jeweiligen Adepten passen.

Eine weitere Möglichkeiten diese Ladungen zu benutzen, sind spontane Zauber, die zwar nicht so stark sind, wie die „normalen“ Zauber, dafür aber flexibler. Für spontane Magie gibt es keine bestimmte, festgelegte Wirkung, vielmehr bleibt es dem Spieler überlassen, was genau er bewirken möchten - wobei er aber die Idee seiner Schule berücksichtigen muss –und dem Spielleiter, wie der Zauber letztendlich wirkt und was er kostet.

Die dritte und letzte Art der Magie, ist die der Avatare. Sie folgen nicht nur den Weg eines Archetypen (der Henker, die Mutter, der Krieger, der Pilger...), sie sind das fleischgewordene Abbild dieses Archetyps auf Erden. Sie besitzen gewisse Gaben, die nicht wie Zauber benutzt werden sondern immer Aktiv sind. Der Avatar des Demagogen beispielsweise hat die Gabe die Meinung der Menschen zu beeinflussen. Der Avatar des Herrenloses Mannes kann schlimme Schmerzen ertragen ohne mit der Wimper zu zucken. Je mehr ein Charakter dem Ideal seines Archetyps näher kommt, desto mächtiger wird er. Erstaunlicherweise gibt es sogar Avatare, die nichts von ihren Gaben wissen und sie als natürliches Talent verstehen.

 

Um das ganze abzurunden, gibt es bei Unknown Armies noch einige Parteien, die im okkulten Untergrund ihre eigenen Interessen verfolgen. Da gibt es die Schläfer, die verhindern wollen, das der Untergrund ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt wird. Die Sekte der nackten Göttin vergöttert eine Pornodarstellerin, die während eine Filmdrehs, vor laufenden Kamera, hell erleuchtete und verschwand. Die Beschreibungen dieser Interessengruppen sind sehr ausführlich und werden von einigen wichtigen Charakteren der jeweiligen Gruppierung ergänzt.

 

Das Design von Unknown Armies ist schlicht aber ansprechend. Der zweispaltige Text, der immer mal wieder durch Verschwörungstheorie Zitate unterbrochen wird, ist gut lesbar und logisch strukturiert. Der lockere Sprachstil, mit sehr viel schwarzem Humor, ist genau mein Ding. Das Layout weiß zu gefallen, ein Bild das durch die düsteren Zeichnungen noch abgerundet wird. Vor allem die neuen Illustrationen, die nicht im amerikanischen Original zu finden sind und aus den Feder von einheimischen Zeichner stammen, sind wirklich erstklassig. Die Übersetzung ist sehr ordentlich, einzig ein paar vereinzelte Tippfehler, vergessene Korrekturzeichen und unglückliche Formulierungen trüben das Lesevergnügen.

 

Unknown Armies ist ein sehr erwachsenes Rollenspiel, das ohne Zweifel die Tradition des Storytelling aufgreift, bei der es mehr um die Geschichte oder die Atmosphäre, als um die Optimierung eines Charakters geht. Die offene Hintergrundwelt, die moderne Herangehensweise an das Thema Magie, die psychologische Tiefe der Charaktere, all das sind sowohl die Vorzüge, als auch die Nachteile von Unknown Armies, denn sie stellen auf jeden Fall auch eine spielerische Herausforderung dar, sowohl für die Spieler, wie vor allem für den Spielleiter, der schon ein gewisses Maß an Erfahrung mitbringen sollte, um sich an Unknown Armies zu wagen. Wer die Atmosphäre von Filmen wie Fight Club, Naked Lunch oder Sieben mag, wer den Romanen von Neil Gaiman oder Chuck Palahniuk etwas abgewinnen kann, der wird sich in Unknown Armies sofort heimisch fühlen. Wer gerne Helden spielt, um regelmäßig die Welt zu retten, der sollte es sich allerdings zweimal überlegen, ob Unknown Armies das Richtige für ihn ist. Bei Unknown Armies gibt es einfach keine Welt, die es wert wäre, gerettet zu werden.

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 2024032815314864eebbdd
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Unknown Armies

Hersteller: SighPress / Vortex Verlag

Spezifikationen: Hardcover

Sprache: Deutsch

Illustrationen von: Klaus Scherwinski, Karsten Schreurs, Felix Mertikat, Nic Klein, Dirk Frerichmann

Autor: Greg Stolze, John Tynes

Anzahl Seiten: 440

ISBN:

Erhältlich bei: Unknown Armies

 


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Erstellt: 03.11.2005, zuletzt aktualisiert: 16.04.2019 13:03, 1487