V oder die Vierte Wand (Autorin: Anja Kümmel)
 
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V oder die Vierte Wand von Anja Kümmel

Rezension von Ralf Steinberg

 

Verlagsinfo:

London in nicht allzu ferner Zukunft. Private Überwachungsorganisationen und chinesische Konzerne kontrollieren die Stadt. Ihre Bewohner sind gechippt und permanent online, sämtliche Interaktionen in der Cloud gespeichert. Nur im East End leben einige Anonyme, die sich der ständigen Beobachtung entziehen.

Im Jahr 1980 macht sich der junge Mexikaner Mesca von Los Angeles auf den Weg nach London, um seine verlorene Liebe zu suchen. Doch statt auf Post-Punk und New Wave trifft er auf eine düstere Stadt voller Drohnen und futuristischer Technologie. Und auf einen Typen im Hasenkostüm, der ihn mitnimmt in den Maschinenraum dieser schönen neuen Welt.

Island in nicht allzu ferner Zukunft. Fenna kehrt der von Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit gebeutelten Insel den Rücken und nimmt einen Job als Auftragskillerin in London an. Statt in einer High-Tech-Metropole findet sie sich jedoch in einem leicht verschobenen London des Jahres 1980 wieder. Im legendären Club „V" gerät sie in den Sog der schillernden New-Romantics-Bewegung und verliebt sich in den unnahbaren E., der ihrem Opfer verdammt ähnlich sieht.

In einem ehemaligen Sanatorium am Rande Londons treffen die beiden aus der Zeit Gefallenen schließlich aufeinander.

 

Rezension:

Lange ließ sich Anja Kümmel Zeit für ihren fünften Roman. Nach dem utopischen Genderroman Träume digitaler Schläfer bleibt sie auch mit V oder die Vierte Wand dem Genre Science Fiction treu.

Und man spürt die Zeit in diesem Roman. Nicht nur die des Schaffensprozesses, auch innerhalb der Seiten kommt ihr eine machtvolle Rolle zu.

Die Inhaltsbeschreibung im Klappentext klingt weitaus verständlicher, als es der Erzählfluss von Anja Kümmel selbst vollzieht. Der Prolog ist ein kurzer Querschnitt durch die Handlung der folgenden fünf Teile – symbolträchtig in lateinischen Zahlen, sodass ein V das Finale einleitet.

Dieser Buchstabe wird in diversen Bedeutungen verwendet, immer wieder in das Geschehen eingebettet und fast unendlich aufgeladen, auf den Kopf gestellt und verdoppelt. Eine von vielen Metaebenen, die dem Titel gemäß beständig auch die Wand zum Lesenden durchbrechen wollen.

 

Im ersten Part folgen wir dem schwulen Jungen Mesca durch eine zukünftige Version von London, vielleicht 2020, vielleicht noch weit entfernt von jenem Tag in 1980 als er sich als blinder Passagier an Bord eines Schiffen versteckte um seiner großen Liebe Manolo zu folgen, der er im mysteriösen V-Club zu treffen hofft. Er trifft dabei zunächst auf j. d. ,einem Punk, der sich in verkommenen Teilen der Stadt eine Zuflucht geschaffen hat. Mitten im Getriebe der allgegenwärtigen Vernetzung, Bandenkriegen und dennoch außerhalb der Gesellschaft. Mesca kann mit den Drogen, die er bei sich hatte, zunächst auskommen. Er versteht zwar zunächst nur die Hälfte dessen, was in London und dieser Zeit vor sich geht, aber die Muster gleichen denen seines Lebens in Los Angelas. Sein Verstand scheint immer wieder zwischen den beiden Orten zu wechseln. Er gibt Erinnerungen frei. An die Szene dort. Clubs, Verfolgungen und Liebe natürlich. Mesca gelangte wie so viele über Menschenhändler und einen Zug, La Bestia genannt, in die Staaten und jedesmal, wenn sie aufgegriffen und ausgewiesen wurden, endete ein Leben und ein neuer Ritt auf der Bestie stand bevor.

Die Einblicke in die Atmosphäre der schwul/lesbischen Szene sind so intensiv wie emotional. Obwohl Mesca als Ich-Erzähler völlig unsentimental ist, beschreibt er Dinge wie Schmerz und Leidenschaft ungemein sinnlich. Seine Beobachtungen finden präzise Bilder und meiden Unwahrheiten. Fern der eigenen Realität wirken diese Teile der Handlung hyperrealistisch.

Das setzt sich in seinen Parts in den weiteren Teilen des Romans fort.

Dort lernen wir dann auch Fenna kennen. Die Isländerin lebt in der Zukunft und hat sich als Killerin anheuern lassen. Die Gründe sind zunächst unklar, man ahnt nur, dass es etwas mit sexueller Gewalt zu tun hat. In dieser total vernetzten Welt stellt Island eine altmodische Enklave dar, da hier das networken mittels eines externen Gerätes, dem Pad, geschieht und nicht wie sonst in der ersten Welt mittels eingebautem Chip. Zunächst folgen wir Fenna durch ihren Alltag, lernen ihren Charakter kennen und dabei auch die Einbindung der Technik in das Leben. Man geht auf keine Partys, deren Gäste, Thema und Musik man nicht kennt. Via App kennt man die vorherrschende Mode bestellen, mit Freunden teilen und liken. Es gibt kein offline-Leben mehr. Im Gegenteil, gegen die Angst, offline zu sein, nimmt man Medikamente. Mit dem Pad wird man groß. Der Wechsel vom Kinder- zum Erwachsenenpad ist ein wichtiger Moment im Leben einer Isländerin, Erziehungsratgeber beschäftigen sich mit dieser Phase.

Aber gerade weil Island ungechippt ist, kann Fenna in die Haut einer anderen Identität schlüpfen und ist daher prädestiniert, in London einen gewissen Eden zu töten. Doch wie auch Mesca erreicht sie London zu einer anderen Zeit. 1980, aber in einer leicht veränderten Vergangenheit.

 

Soweit könnte die Handlung noch weitgehend stringent genannt werden. Doch Anja Kümmel verschränkt sie immer mehr.

So gibt eine beobachtende Instanz, die sowohl Fenna, als auch Mescas Blickwinkel mustert. Es gibt Zeitindices wie bei Videoaufzeichnungen. Es wird vor und zurückgespult, hin- und hergezappt, mitten in einer Szene abgebrochen, hinein- und herausgezoomt. Dazu gibt es noch eine Zeitebene in den 1940ern, die wie ein Film Noir mit Regieanweisungen eingestreut werden. Ihre Bedeutung wird spät klar. Dazwischen gibt es immer wieder Code-Schnipsel einer Makrosprache oder Kommandozeilenbefehle, die auf eine nicht sichtbare Textebene verweisen, die von einem Pad aus gesteuert wird. Ein weiterer Durchbruch der vierten Wand.

 

Ganz großes Kino beginnt, als Mesca und Fenna in dieselbe Zeit geraten und damit mitten hinein in eine burlesque Untergrundkultur des 1980er Londons. Bunt, prall und sehr zerrissen tanzt man als Leser mit der Crowd im V-Club und verfolgt die Annäherungen der Figuren an Eden und an sich selbst.

Teilweise wechseln die Perspektiven mitten im Satz. Selbst die unterschiedlichen Notationen von Fennas und Mescas Innenansichten helfen irgendwann kaum noch. Die Schnitte werden immer schneller.

Kurz vor Schluss zelebriert Anja Kümmel die gechippte Zukunft, prophezeit eine neue Art des Menschseins. Wenn jederzeit alles online vollzogen wird. Atmung, Ernährung und selbst der Augenfokus App-optimiert werden. Die automatische Profilerkennung dich besser kennst, als du selbst, wenn Überraschungen unmöglich werden und selbst das Aufbegehren elektronisch ausgesteuert wird. Dieser überbordende Ausblick in die App-Zukunft ist so komplex wie grandios. Hier folgt der Stil dem beschriebenen Medium mit Perfektion.

 

Es ist schwer, am Ende des Romans, eine tatsächliche Auflösung festzulegen. Einiges wird der eigenen Interpretation überlassen. Einiges wird schmerzhaft wahr.

 

Fazit:

Anja Kümmel gelingt mit »V oder die Vierte Wand« ein dichter, hochkomplexer und vor allem nie einfacher Roman um Menschen, die sich mit der Zukunft herumschlagen. Ein Buch fernab einfacher Erklärungen. Es fordert Konzentration und Willen zum textuellen Experiment, der Autorin durch ihr Wort- und Zeitnetzwerk zu folgen. Ein Genuss.

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Buch:

V oder die Vierte Wand

Autorin: Anja Kümmel

Hablizel, 2016

Taschenbuch, 379 Seiten

 

ISBN-10: 3941978225

ISBN-13: 978-3941978225

 

Erhältlich bei: Amazon

 

Kindle-ASIN: B01J3XV94A

 

Erhältlich bei: Amazon Kindle-Edition

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Erstellt: 16.08.2016, zuletzt aktualisiert: 20.01.2023 16:55, 14755