Warten auf die Sonne (Autor: Hitonari Tsuji)
 
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Warten auf die Sonne von Hitonari Tsuji

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Die Filmcrew wartet auf die Sonne. Der alte Regisseur Hajime Inoue möchte, dass exakt dieselbe rote Sonne scheint wie vor etwa sechzig Jahren, als die japanische Armee während des Zweiten Weltkriegs die chinesische Stadt Nanjing einnahm. Stets kommt etwas dazwischen – die Stimmung am Set wird immer gereizter. Schon kursiert die Befürchtung, dass der letzte Film des Altmeisters des japanischen Films wohl unvollendet bleiben wird. Unterdessen mehren sich die Spannungen für den Patinierer Shiro Tachihara. Seinem Bruder Jiro wurde in den Kopf geschossen und seither liegt er im Koma. Shiro gehört zu den wenigen Menschen, die Jiro noch besuchen; vielleicht, weil Shiro schon von jeher in Jiros Schatten steht. Doch noch jemand besucht Jiro weiterhin: die schöne, aber schüchterne Tomoko Maruyama. Sie ist Jiros Exfreundin – er hatte sie verlassen. Beim Film ist sie für Script und Continuity verantwortlich. Zweifellos eine wichtige Position, doch Inoue scheint in ihr mehr zu sehen – in seltenen Momenten nennt er sie "Fei-fan" – der Name einer chinesischen Schauspielerin im Zweiten Weltkrieg. Auch Shiro beginnt sich in die einsame Frau zu verlieben, die noch immer seinen großen Bruder liebt. Jiro war zudem in schmutzige Geschäfte verwickelt. Der Yakuza Fujisawa drängt Shiro den Ranzen, den er angeblich Jiro gegeben hatte, heraus zu geben – sonst könnte es anderen aus der Familie wie Jiro ergehen. Der komatöse Jiro beginnt indes eine unmögliche Traumreise in die Vergangenheit, in der das Nanjing von vor sechzig Jahren eine Station ist.

 

Die Geschichte beginnt Ende des Jahres 1999 in der Ebene von Tokachi, später geht es noch für einige Zeit nach Tokyo, wo auch Jiro im Krankenhaus liegt. Das Setting ist eher als Milieu bei den Figuren als in Äußerlichkeiten bemerkbar – neben konkreten Beschreibungen von ungewöhnlichen Dingen werden Ort und Personen nur sehr knapp und vage dargestellt. Das Milieu dagegen wird präzise entwickelt. Es ist das moderne Japan; genauer: das der Medien. Alles ist hektisch, muss schnell fertig werden, sich verkaufen; Präzision spielt eine nachgeordnete Rolle. Der alte Inoue stemmt sich als Fels in der Brandung dagegen – und mit ihm wartet man auf die Sonne. Das Gegenstück findet sich in einer Szene mit Shiro und dessen älterer Schwester Ichiko. Beide sind nur für kurze Zeit wegen der Arbeit in ihrer Heimatstadt Tokyo. Ichiko ist gerade zurück, der Jetlag macht ihr noch zu schaffen, sie muss sich auf die Tourismusführung für eine ausländische Schauspielerin vorbereiten und dann soll es nach Cannes gehen; außerdem müsste sie mal wieder mit ihrem Freund schlafen, weil er sonst untreu wird. Müde und abgehetzt kommt sie mitten in der Nacht an, hört sich die wichtigsten Ausführungen Shiros zu Fujisawas Drohungen an und schläft mitten im Gespräch ein. Treffend geht Tsuji ein Kernproblem moderner Leistungsgesellschaften an, doch leider bleibt es bei der zaghaften Konstatierung.

Daneben gibt es viele Rückblenden, die der japanischen Armee nach Nanjing folgen bzw. den Amerikaner Craig Bouchard während seiner Zeit als Kriegsgefangener in Hiroshima begleiten. Schließlich gibt es noch die Traumwelt Jiros, die zwar nur einen kleinen Radius hat – die Größe entspricht etwa seinem Kindheitsrevier, dahinter erstreckt sich Dunkelheit – doch zeitlich und räumlich weit entfernte Orte verknüpft. Die Traumwelt ist auch das zentrale phantastische Element, denn Jiro träumt nicht nur von jenen Orten, sondern kann von der jeweiligen Außenwelt Eindrücke aufnehmen und an sie abgeben. Darüber hinaus gibt es noch Kleinigkeiten wie eine seltsame Droge, die hält, was sie verspricht, und eine Frau die nicht schlafen kann.

 

Das Dramatis Personae verzeichnet zwanzig Personen – doch einige davon spielen nur sehr kleine Rollen: Mitsuko, eine weitere Schwester Shiros, z. B. wird nur erwähnt ohne einen eigenen Auftritt zu haben. Dennoch ist die Zahl der relevanten Figuren recht hoch. Die Hauptfigur ist Shiro, der Patinierer. Er hat ein gutes Verhältnis zum Regisseur Inoue, verliebt sich in Tomoko, will aus den Schatten Jiros treten und muss sich mit Fujisawa auseinandersetzen. Trotz – oder vielleicht wegen – all dieser Beziehungen bleibt Shiro eher passiv. Er geht seinem Beruf nach und lässt die weiteren Dinge auf sich zukommen. In dieser Hinsicht ähneln sich die meisten Figuren – sie alle warten auf etwas: Inoue auf seine Sonne, Tomoko auf Jiro, Fujisawa auf den Ranzen und Jiro auf den Tod. Besonders makaber ist Craig Bouchards Situation: Der amerikanische Pilot hatte die örtlichen Gegebenheiten für den Abwurf der Atombombe ausgekundschaftet, war abgeschossen worden und in Gefangenschaft geraten. Seine letzten Tage verbrachte er in Hiroshima auf den Abwurf der Bombe wartend. Insgesamt sind die Figuren keine Protagonisten im eigentlichen Sinne – sie reagieren, statt zu agieren, sie werden vom Schicksal getrieben, statt es zu gestalten.

Die zentralen Figuren haben alle gewisse exzentrische Eigenheiten: Shiro liebt das Schäbige, Verfallene und Heruntergekommene – er mietet sich schon mal in einem Love-Hotel, eine Art Bordell, ein nur um sich das schmutzige Zimmer anzusehen.

 

Der Plot enthält eine Reihe von locker verknüpften Strängen: Da geht es um verschiedene Liebesbeziehungen (spontan fallen mir drei ein, wobei zwei davon wiederum Dreiecksbeziehungen sind), stressigen Arbeitsalltag, der Suche nach dem Ranzen sowie Erlebnisse vom amerikanischen Kriegsgefangenen und japanischen Dokumentarfilmern im Zweiten Weltkrieg. Jiros seltsame Erlebnisse lassen sich gar nicht mehr auf den Punkt bringen. Gezeigt wird ein komplexes Ereignisgeflecht mit rätselhaften Querverbindungen, in dem Menschen keine Akteure, sondern Spielfiguren sind. Dieses ist eine sehr pessimistische Grundhaltung, denn Psychologen kennen drei grundsätzliche Reaktionen auf einen Konflikt: Wenn eine Lösung im eigenen Sinne möglich scheint, wird gekämpft, wenn ein Kampf nicht Erfolg versprechend ist, wird eine Flucht angetreten um die Verluste gering zu halten und wenn eine Flucht unmöglich ist, wird resigniert, gehofft, dass es nicht so schlimm wird, die Sache auch so vorbeigeht. Die Ereignisse zwingen den Figuren mit wenigen Ausnahmen die letzte Haltung auf.

 

Erzähltechnisch sind die vielen Erzählstränge und damit verbundenen Perspektiven auffällig. Zentral sind Shiros Szenen, die von ihm als Ich-Erzähler berichtet werden. Dann gibt es noch Jiros Strang, der aus seiner personalen Perspektive geschildert wird, sowie Bouchards Strang, der in Form eines Tagebuchs daher kommt, und Fei-fans Strang – der Strang der chinesischen Schauspielerin setzt sich aus Erzählungen von unterschiedlichen Personen und unterschiedlichen Erzählperspektiven zusammen.

Fei-fans Strang heißt "Fei-fans Tragödie", Jiro wartet auf seinen Tod, Bouchard auf die Atombombe – dem Leser wird trotz einiger humorvoller Momente schnell klar, dass der Handlungsaufbau viel mehr desillusionierende Elemente als Entwicklungen enthält; das passt gut zur pessimistischen Grundhaltung.

Je nach Strang unterscheidet sich der Erzählstil, doch der vorherrschende – Shiros Stil – ist eher minimalistisch: Die Sätze sind kurz und adjektivarm. Präzise werden die Dinge auf den Punkt gebracht. Hält man z. B. Bouchards Tagebuch dagegen, fällt auf, dass dort die Wortwahl wesentlich unschärfer ist – was gut zur Verwirrung des gefangenen Todeskandidaten passt.

 

"Wer Haruki Murakami liebt, muß Hitonari Tsuji lesen!" zitiert der Klappentext die Zeitschrift Elle. Die beiden Genannten haben zwei auffällige Gemeinsamkeiten – sie sind Japaner und verfassen Texte, die dem magischen Realismus zuzuordnen sind. Darüber hinaus sind pauschal keine Ähnlichkeiten festzustellen. Soweit ich die Werke Haruki Murakamis kenne, ist mir sogar ein klarer Unterschied aufgefallen: Murakamis Helden mögen arme Schlucker sein, die sich wie ein aufgezogenes Blechspielzeug fühlen, und Geschichten können sich durchaus als Tragödien erweisen, aber eine so grundlegend pessimistische Haltung, wie sie in Warten auf die Sonne zu finden ist, ist mir bisher bei keinem Text Murakamis aufgefallen.

 

Fazit:

Alle warten: Regisseur Inoue auf seine Sonne, Fujisawa auf den Ranzen, Bouchard und Jiro auf ihren Tod – Shiro hofft generell auf eine Wendung zum Guten. Tsuji verknüpft auf rätselhafte Weise die zentralen Themen des menschlichen Seins: Liebe und Tod. Letztlich stehe ich der Geschichte mit gespaltenen Gefühlen gegenüber: Einerseits halte ich die Kritik an den aufgegriffenen Auswüchsen der Leistungsgesellschaft für interessant und schätze Inoues starrsinnigen Widerstand, auch versteht der Autor sein Handwerk und entwickelt seine Ereignisse entsprechend spannend – andererseits lassen mich die pessimistische Grundhaltung und das Fehlen von Motivierung bezüglich des Geschehens unbefriedigt zurück.

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240416191335d62c4227
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Titel: Warten auf die Sonne

Reihe: -

Original: Taiyō Machi (2001)

Autor: Hitonari Tsuji

Übersetzer: Ursula Gräfe

Verlag: Piper (Juli 2008)

Seiten: 412-Broschiert

Titelbild: C. von Haussen

ISBN-13: 978-3-492-25206-5

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 08.09.2008, zuletzt aktualisiert: 05.01.2024 16:23, 7274