Autor: Werner Vogel
Der Lehrer blickte in die Runde und sagte feierlich: „Ich glaube, ihr seid nun alt genug, dass ich euch die Geschichte von Mantaru und seinem Weg in die Lichtkuppel erzählen kann.“ Gespannt saßen die Schüler, als sie das Wort „Lichtkuppel“ vernahmen. Niemand grinste mehr, niemand schaukelte mit seinem Stuhl, niemand zwickte seinen Nachbarn. Der Lehrer erhob sich und begann zu sprechen.
„Wie ihr wisst, ist es nur ein einziger Satz, mit dem wir alle einst gerufen werden. Den Taucher Mantaru ereilte dieser Satz, als er zusammen mit einigen Kameraden die äußeren Hai-Gitter an der Nordgrenze unseres Staates, die ein heftiger Sturm oben arg in Mitleidenschaft gezogen hatte, reparierte. In roten Lettern stand da plötzlich am Display seines Kommunikators ‚Es ist so weit.’ Mantaru erschrak fürchterlich und war gleichzeitig unendlich stolz in diesem Augenblick, in dem der Große Organisator nach ihm verlangte. Er ließ die anderen Taucher die Botschaft lesen. Sie verneigten sich respektvoll vor ihm und jeder von ihnen tippte einmal zum Abschied mit dem Zeigefinger gegen das Glas seiner Taucherbrille. Dann schwamm Mantaru los, ließ seine Arbeit liegen, ließ alles weit hinter sich, augenblicklich, wie es unsere Pflicht ist, wenn wir diesen Satz lesen: ‚Es ist so weit.’“
Der Lehrer machte eine kurze Pause, sah die wachen Augen und offenen Münder seiner Schüler, fühlte ihre Spannung. Das war gut. Er fuhr fort.
„Mantarus Weg führte über die gewaltigen Algenplantagen im Nordosten. Er sah unter sich die Millionen Erntekrabben unermüdlich arbeiten, er sah, wie die gigantischen Mantarochen mit dem Transportgut beladen und in Richtung Aufbereitungsfabrik losgeschickt wurden, wo fleißige Frauenhände daraus köstliche Speisen erzeugen würden. Auch seine schöne Frau Ala arbeitete in dieser Fabrik. Mantaru wurde jetzt erst bewusst, dass er sie nie wieder sehen würde. Was hatte sie am Morgen beim Abschied zuletzt gesagt? Wie hatte sie ihn angeblickt? Niemand weiß ja, wann er zum Helden wird. Sie würde stolz sein auf ihn! Ala war so tapfer, sie würde nicht weinen, nein, sie nicht.
Mantaru war derart in Gedanken an Ala versunken, dass er den Hai erst sehr spät bemerkte, obwohl sein Ortungsgerät schon lange geblinkt hatte. Das Tier war sicherlich durch die beschädigten Grenzanlagen ins Gebiet von Paradies III eingedrungen, um hier auf Beutezug zu gehen. Der Hai war gewaltig, doch Mantaru reagierte blitzschnell. Es war ja nicht seine erste Begegnung dieser Art, im Gegenteil, Mantaru galt als einer der mutigsten und erfahrensten Jäger, hatte schon einige Ordenstätowierungen für seine Erfolge bei der Jagd nach den Feinden erhalten. Da jetzt der weit geöffnete Rachen der Bestie bereits so nah war, dass die spitzen Zähne im Licht seiner Stirnlampe gefährlich blitzten, schoss Mantaru, ohne zuvor die Harpune aus dem Gurt gelöst zu haben, aus der Hüfte. Der Pfeil drang ins rechte Auge des Gegners ein, das Geschoß explodierte mitten im winzigen Gehirn des Untiers. Der Hai war auf der Stelle tot. Die Wucht des begonnenen Angriffs trieb den riesigen Leichnam bis hin zu Mantarus abwehrbereit ausgestreckter Hand. Mantaru berührte die leblose Schnauze des Angreifers, ehe dieser in der schwarze Tiefe unter ihm versank.“
„Kann man denn so einen wütenden Hai überhaupt treffen, Magister Ceratu, so einfach aus der Hüfte?“, unterbrach eine helle Stimme die Erzählung des Lehrers. Natürlich war es Gelo gewesen, der aufgeweckteste, aber auch kritischste der Schüler, der es gewagt hatte, zu stören.
„Man kann“, erwiderte der Lehrer milde lächelnd, „Mantaru konnte, weil er wollte! Er wollte unbedingt dem Ruf folgen, er wollte unter allen Umständen zur Lichtkuppel gelangen. Nichts durfte ihn aufhalten, nicht der Hai und nicht seine Gedanken an Ala. Also schwamm er zügig weiter, vorbei am Rathaus, über die Wohncontainer hinweg. Auch hier an unserem Schultank kam er vorbei. Durch diese Luke blickte er herein und sah noch einmal einige Sekunden lang seinem kleinen Sohn Ceu beim Schreiben zu, ohne dass dieser ihn bemerkte.“
Sofort starrten alle Schüler gebannt zu der Luke hin, auf die der Lehrer zeigte. Einigen war so, als wäre draußen gerade ein Taucher vorbeigeschwommen. Andere waren sich ganz sicher.
„Ihr müsst wissen, dass Mantaru sich große Sorgen um Ceu machte, weil der ein seltsamer Junge war, der nicht gerne tauchte, meistens seinen Gedanken über Gott und die Welt nachhing, nichts Praktisches lernen wollte. Als Mantaru aber an jenem Tag Ceu da zwischen all den anderen sitzen und schreiben sah, wusste er ihn sicher in der großen Gemeinschaft von Paradies III, der er selbst stets treu gedient hatte und nun weiter dienen würde, auf welche Art auch immer es ihm aufgetragen würde.
Ein Stück weiter begegnete Mantaru dann einem Trupp Arbeitsdelphinen, die einen Schwarm Hornhechte in die Verarbeitungshalle trieben. Sein Freund York 2 war auch dabei. York 2 hatte damals, nach dem schrecklichen Unfall in der Sauerstofffabrik, zusammen mit ihm den toten, entstellten Körper der jungen Marla zum Abgrund des ewigen Friedens an der Ostgrenze gebracht. Kurz hatte Mantaru wieder das Bild vor Augen, wie seine geliebte Tochter im Nichts verschwand. York 2 zwitscherte ihm einen flüchtigen Gruß zu, mehr erlaubte ihm seine Programmierung augenblicklich nicht. Mantaru erwiderte den Gruß und schwamm hastig voran, verließ schließlich das bewohnte Gebiet, näherte sich rasch der verbotenen Zone. Die elektronischen Fangnetze ließen ihn ungehindert passieren, die Minen wurden nicht gezündet. Auch die brodelnden Barrakudaschwärme, die unermüdlichen Wächter, nahmen keine Notiz von ihm. Man erwartete ihn.
Draußen bei den finsteren Magnesithöhlen drosselte er sein Tempo unbewusst ein wenig, jedoch nicht aus Angst, denn Angst war Mantaru im Meer fremd. Sein Freund Rotam war ihm in den Sinn gekommen, der ihm hier bei einem Felssturz vor Jahren das Leben gerettet hatte. Rotam war der tapferste von ihnen allen gewesen. Er trug als Einziger eine goldene Stirntätowierung, vom Großen Organisator persönlich gestaltet. Diese Ehre war ihm für seine Verdienste bei der letzten Oberflächenexpedition zuteil geworden. Er und drei andere Männer hatten dabei den Stand des Weltenbrandes oben nach der Katastrophe vor 400 Jahren zu untersuchen gehabt. Mantaru war dazu leider nicht erwählt worden. Rotam allein wäre lebend zurückgekehrt, hieß es später. Lange sah man ihn nicht. Als er wieder in ihrem Kreise erschien, waren ihm die Auszeichnungen offenbar zu Kopf gestiegen. Er hatte sich verändert. Er trank nun zu viel Seegraswein und im Rausch ließ er öfter seltsame, ja verbrecherische Andeutungen fallen über die Falschheit des Großen Organisators, über die Lächerlichkeit des Weltenbrandes und andere obskure Dinge. Auch in Anwesenheit Ceus sprach er so. Mantaru kündigte ihm daraufhin sofort die Freundschaft auf. Rotam verschwand wenig später. Wahrscheinlich war er volltrunken ungeschützt aufgetaucht und oben elendiglich verglüht.
Mantaru wurde vom Anblick der Lichtkuppel, die jetzt hinter der Riffkante sichtbar wurde, aus seinen bösen Erinnerungen gerissen. Majestätisch lag sie da, umschwirrt von Millionen bunter Fische, und wartete auf ihn. Ehrfurchtsvoll näherte sich der Taucher zum ersten Mal in seinem Leben dem gigantischen Bauwerk, das nun noch größer auf ihn wirkte als in allen Bildern und Beschreibungen, die er gesehen und gelesen hatte. Eine Schleuse öffnete sich automatisch und nahm Mantaru auf.“
„Bitte, was ist in der Lichtkuppel? Wir wollen es jetzt wissen, Magister Ceratu, jetzt!“, entfuhr es Gelo, der vor lauter Spannung halb aufgestanden war. Auch die anderen Schüler zitterten vor Aufregung. „Ihr sollt es erfahren, jetzt!“, erwiderte der Lehrer, ließ seinen Blick ernst über die Klasse schweifen, nickte nachdenklich und erzählte dann seine Geschichte weiter:
„Im Inneren der Lichtkuppel wurde der Taucher von zwei Jungfrauen empfangen, die ihn wortlos entkleideten. Alles geschah so selbstverständlich und doch so feierlich, dass seine Nacktheit Mantaru in diesem Moment gar nicht bewusst wurde. Er empfand keine Peinlichkeit, bloß Stolz. Die Dienerinnen kleideten ihn danach mit einer weißen Toga und reichten ihm ein Glas mit einer milchigen Flüssigkeit, die zu trinken sie ihm mit ruhiger Stimme mehr befahlen, als dass sie ihn darum baten. Süß und verwirrend schmeckte der Saft. Mantaru fühlte sich sofort schwerelos, meinte zu schweben. Seine Füße schienen den roten Marmorboden kaum noch zu berühren. Dann öffnete sich eine Wandtüre und der Große Organisator persönlich betrat leicht gebückt den Raum. Mantaru konnte sein Gesicht nur verschwommen wahrnehmen. Jedenfalls wirkte er älter als auf all den Gemälden, seine Haare waren grau, seine Stimme klang dünn, als er Mantaru, der auf die Knie gesunken war, ansprach: ‚Wir haben gesehen, wie du den Hai getötet hast. Famos! Nun folge uns, du wirst deiner neuen Aufgabe zugeteilt.’ Die Jungfrauen hoben Mantaru mit erstaunlicher Kraft hoch und stützten ihn, als sich die kleine Prozession nun in Bewegung setzte. Zunächst ging es einen dunklen Gang entlang, der sich schließlich zu einer düsteren Halle verbreitete, in deren Mittelpunkt ein gewaltiges, von unten diffus beleuchtetes Glasbecken stand. In dem schmutzigen Wasser darin schwebten bewegungslos an Fußketten hängende nackte, verwelkte, verhärmte Menschenleiber in großer Zahl, an denen unermüdlich kleine Putzerfische saugten. An ihren mit Algen besetzten, glatt rasierten Köpfen, deren Augen geschlossen waren, hatte man Elektroden angebracht. Die Gefangenen schienen zu schlafen. Manchmal nur zuckten ihre Gliedmaßen, als träumten sie böse Träume. Mantaru war noch so weit bei Besinnung, dass Ekel in ihm hochsteigen konnte. Als er an der Stirn eines fahlen Schädels im Glasgefängnis eine goldene Tätowierung wahrzunehmen glaubte, war er einige Sekunden lang wieder hellwach. Der Große Organisator bemerkte dies und murmelte beruhigend: ‚Hier, mein Freund, siehst du die, die mich angezweifelt haben. Wir halten sie am Leben, damit wir aus ihren üblen Gedanken unsere Erkenntnisse ziehen können. Paradies III muss vor Ungeziefer wie ihnen geschützt werden, du weißt es.’ Seine schwache, gütige Stimme klang beruhigend. Mantaru vergaß wieder, was er eben gesehen hatte. Der Große Organisator hatte ‚mein Freund’ zu ihm gesagt! Zu ihm, dem einfachen Taucher! Wenn das Ala erfahren würde! Die Jungfrauen summten ein seltsames Lied. Die Wirklichkeit begann Mantaru nun endgültig zu entgleiten. Der Trunk entfaltete langsam seine volle Wirkung. Er wurde müde, so unendlich müde. Man stützte ihn, geleitete ihn durch eine nächste Wandtüre. Dahinter lag ein riesiger, grell erleuchteter Saal. Mantarus langsam erlöschende Augen nahmen wahr, dass darin tausende atmende Menschen, wie er weiß gekleidet, an seltsam geformte Lehnstühle geschnallt in hunderten langen Reihen schlaff vor sich hin dämmerten. Eingewoben waren ihre Leiber in unzählige Schläuche und Drähte, die in sie hinein, aus ihnen heraus, durch sie hindurch montiert waren. Sie bildeten ein gespenstisches Ganzes, ein monströses Kunstwerk, waren miteinander verbunden, waren ein weißes, verwirrendes Korallenriff ohnmächtigen Lebens, umgarnt von rätselhafter Technik. So schrecklich hilflos sahen sie aus, sie alle! In der ersten Reihe war ein Platz frei. Zwei Männer, die wie Ärzte aussahen oder auch wie Angestellte des Elektroinstallations-Teams, hantierten dort eifrig an rätselhaften Kabeln. Mantaru konnte seine Augenlider nicht mehr offen halten. Seine Muskeln versagten ihre Dienste. Er wurde gepackt, ließ sich fallen. Der geniale Lenker hatte ihn tatsächlich ‚mein Freund’ genannt! Das musste er Marla erzählen. Nein, Marla war ja tot. Während er den Einstich einer Nadel in seinem Oberarm spürte, drang die Stimme des Großen Organisators noch einmal in die kläglichen Reste seines Bewusstseins. Lauter klang sie nun und viel höher, seltsam verzerrt, fast wie das Zwitschern eines Delphins: ‚Tue nun deine letzte Pflicht im Saal der Gemeinschaft! Widme deine gesamte Energie, dein Denken, dein Wissen, deine Erfahrungen ganz unserem prachtvollen Staat und seinem edlen Gründer, dem Großen Organisator! Lass ab von dem, was für dich wichtig war! Du selbst wirst nicht mehr existieren. Wir aber werden weiterleben durch dich.’ Furcht überfiel Mantaru jetzt. In einer letzten gewaltigen Anstrengung seines Willens gelang es ihm, sein rechtes Auge ein wenig zu öffnen. Da sah er, dass er nicht mehr in dem von Licht durchfluteten Raum war. Nein, er tauchte über den Muschelbänken. York II war an seiner Seite. Und Ceu flitzte wendig und geübt durch die Felsspalten, spielerisch verfolgt vom kraftstrotzenden Rotam, und Ala winkte ihm aus einer Höhle zu und Marla griff von rechts nach seiner Hand. Ihr Gesicht war unverletzt und schön. Sie hatte keine Taucherbrille auf. Sie lächelte. Glück erfüllte Mantaru, ihn umfassendes, ihn erfüllendes Glück. ‚Du träumst ja’, dachte er noch. Dann hörte er auf zu sein.“
Nach den letzten Worten des Lehrers war es für einige Augenblicke so still im Klassenraum, dass man sogar das leise Summen der Neonbeleuchtung hören konnte. Dann brach der Sturm der Entrüstung los. „Du lügst, du Schuft, das werde ich meinem Vater erzählen!“, brüllte der dicke Wanko völlig außer sich. „Deine ganze dumme Geschichte stimmt nicht, die Lichtkuppel ist keine gemeine Ausbeutungsanlage, sondern das herrliche Ziel unseres vollkommenen Lebens hier“, schluchzte empört die blonde Clama. „Dort werden wir den Himmel im Meere haben, jawohl, den Himmel!“, krächzte der lange Hubin hysterisch. Auf ein geheimes Kommando hin sprangen die Kinder fast gleichzeitig auf und stürzten hinaus. Wenige Sekunden später konnte man sie wie einen aufgescheuchten Heringsschwarm an der Luke vorbeiflitzen sehen, in Richtung Wohncontainer. Einzig Gelo war geblieben.
Mit vor Zorn funkelnden Augen trat dieser entschlossen vor seinen Lehrer, der während des Tumultes regungslos und schweigend auf sein Pult gestützt gestanden war. „Woher wollen Sie das wissen, Magister Ceratu? Ich frage Sie, woher!“, zischte Gelo. Der Lehrer erwiderte lange seinen Blick, beugte sich dann zu ihm hinab und flüsterte dem Jungen beschwörend ins Ohr: „Ich bin dort gewesen. Ich war in der Lichtkuppel. Ich war im dunklen Gang, ich war im hellen Saal.“ Gelos Zorn verwandelte sich augenblicklich in blanke Furcht. Er wankte zurück, starrte den Lehrer an und wusste sofort, dass dieser nicht log, ganz einfach deshalb, weil er noch nie gelogen hatte. Es verließ ihn sein Mut, er machte kehrt und folgte blind vor Tränen seinen Kameraden.
Magister Ceratu, den sein Vater in unbeschwerten Kindertagen immer nur Ceu gerufen hatte, sah Gelo durch die Luke lange nach. Der Knabe tat ihm unendlich Leid, aber es war notwendig gewesen, ihm die Augen zu öffnen, seine Welt zu zerstören. Zumindest war er, der kluge, wagemutige Gelo, eine Chance für Paradies III. Ob der Junge wohl später einmal, wenn er erwachsen wäre, die Kraft finden würde, das zu tun, was er selbst nie gewagt hatte? Egal, was immer sie ihm erzählen würden, der Zweifel würde bleiben. Wer einmal das Licht gesehen hat, wird nie wieder ganz blind! Ein schriller Signalton durchbrach die Stille und Ceratus Gedanken. Am Display seines Kommunikators erschien in roten Lettern ein Satz: „Es ist so weit.“
Es war etwas schneller gegangen, als er erwartet hatte. Man hatte seine Geschichte also mitgehört. Es blieb ihm wenig Zeit. Wie gut, dass er dem Rat seines verlorenen Vaters gefolgt war und stets Tauchen geübt hatte, obwohl er in keiner Phase seines Lebens gerne ins salzige Wasser, das sie alle umgab wie eine undurchdringliche Kerkerwand, gestiegen war. Er griff in seinen Spind und zog mit geübten Griffen die Ausrüstung hervor. Er würde den weiten Weg wählen und nach Westen fliehen, wo ihn keiner vermuten würde. Sollte der Sauerstoff reichen und er es tatsächlich schaffen, die gefährlichen Gräben und Strömungen dort zu überwinden, würde er auftauchen und oben an der Küste jenes Kontinents, den sie früher Afrika nannten, an Land gehen. Hatte Rotam gelogen, so würde er im Weltenbrand verglühen. Aber Onkel Rotam hatte nie gelogen. Ob es wohl möglich sein würde, alleine da zu überleben? Das würde sich weisen. Alles würde sich nun weisen. Und alles, alles war besser, als hier vor sich hin zu vegetieren wie ein elender Schlammspringer, als am Ende als lebender Toter in der Lichtkuppel verwertet zu werden wie sein Vater, wie alle. Endlich, endlich würde er den Himmel sehen und die Sonne, den Wind spüren und Gras unter seinen nackten Füßen. Endlich würde er jedenfalls ein Mensch sein, wenn auch vielleicht nur für wenige Sekunden.
Ehe er den Raum verließ, in dem er viele Jahre lang Schüler auf ein Leben vorbereitet hatte, das er selbst hasste, riss der Lehrer noch mit zittrigen Fingern einen Zettel aus einem Block und kritzelte eine Botschaft darauf: „Ich weiß alles. Andere werden folgen.“ Mehr Zeit blieb ihm nicht, wollte er seinen sorgfältigen Fluchtplan nicht gleich zu Beginn selbst in Frage stellen. Er zerknüllte das Papier und warf es hastig unter das tausendfach kopierte Gemälde, das den Großen Organisator frontal zeigte, jugendlich und voller Tatendrang, mit stechendem Blick, den Betrachter gleichsam beschwörend, ihn durchschauend, ihn fordernd. Ihn hatte er nicht durchschaut, ihn nicht! Seine Mutter Ala wäre jetzt sehr stolz auf ihn, da war sich Magister Ceratu sicher. „Es ist so weit“, murmelte er grinsend, nahm seinen Kommunikator ab und zerschlug ihn an einer Mauerkante. Dann rannte er hinaus aus dem Klassenzimmer, entriegelte in der Vorhalle das Schleusentor und warf sich ein letztes Mal schaudernd in das Element, in dem er immer ein Fremder geblieben war.
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