Normalerweise lese ich keine Bücher mehr, von denen ich annehme, dass sie austauschbare Fantasy-Lektüre bieten. Brandon Sanderson war so ein Autor, dessen Romane ich bislang keine nähere Beachtung geschenkt habe. »War«, wohlgemerkt, denn ich musste inzwischen meine Meinung, mein Vorurteil, revidieren. Ausschlaggebend ist sein neuer Roman Weit über der smaragdgrünen See, der im November 2023 bei Piper auf Deutsch erschienen ist.
Sanderson wurde bekannt, als er Robert Jordans erfolgreiche Serie Das Rad der Zeit mit drei Romanen auf insgesamt 15 Bände schraubte und sie abschlossen. Seit dem gilt er als Bestsellerautor mit großem Fangefolge. Er ist nicht der einzige seiner Art, aber einer der seit vielen Jahren dauerhaft erfolgreichen Fantasyautoren. Als er 2020 zum ersten Mal eine Crowdfunding-Kampagne startete, um eine prestigeträchtige in Leder gebundene Edition eines seiner Romane zum 10jährigen Jubiläum zu finanzieren, spielte diese Kampagne das x-fache des ausgerufenen Mindestziels ein. Auch das ist nichts Besonderes mehr. Nur: Sanderson sammelte statt der ausgerufenen 250.000 Dollar satte 6.788.517 Dollar ein …
Das war jedoch wiederum Pillepalle gegen seinen zwei Jahr später folgenden Coup. Unter dem Titel »Überraschung! Vier geheime Romane von Brandon Sanderson« generierte er so viel Hype, dass er sogar für den absoluten höchsten Einnahmerekord aller Zeiten bei Kickstarter sorgte. Der Zielbetrag von einer Million, was schon für sich alleine kein Pappenstiel ist, wurde gleich am ersten Tag der Crowdfunding-Kampagne erreicht. Am Schluss finanzierten 185.341 Unterstützer die Summe von sage-und-schreibe fast 42 Millionen (!) US-Dollar. Und das für vier Bücher, die im Geheimen geschrieben worden sind.
In den USA erscheinen diese gerade im Abstand von ein paar Monaten. In Deutschland sind die ersten beiden Titel bei Piper angekündigt worden. Auch wenn meine Zeit knapp bemessen ist, war meine Neugier doch zu groß. Was steckt hinter dem Bohei? Was kann Brandon Sanderson wirklich?
Es ist von Vorteil, dass es sich bei »Weit über der smaragdgrünen See« um einen Einzelroman handelt und nicht um den Auftakt einer (Endlos-)Serie. Zwar ist er in Sandersons Kosmeer-Universum angesiedelt, aber man braucht keinerlei Vorwissen. Ich hatte wenig bis gar nichts erwartet und daher hat mich Sanderson mit diesem Werk total auf dem falschen Fuß erwischt. Gleich von den ersten Seiten an entwickelt die Handlung einen eigenen Sog, der mich regelrecht gefangengenommen hat. Und ich habe mich gerne mitnehmen lassen. Die Heldin ist einfach zu sympathisch.
Der Plot ist in wenigen Sätzen zusammengefasst. Erzählt wird die Geschichte von Tress Glorf, die auf einer kleinen Felseninsel lebt. Sie ist ziemlich unscheinbar, ihr Dasein ist eher langweilig und ereignisarm. Ihr liebstes Hobby ist das Sammeln von Tassen. Sie verliebt sich unglücklich in Charlie, den Sohn des Herzogs. Als er verschwindet und in die Fänge einer bösen Zauberin gerät, macht sie sich auf die Reise, um ihn – allen Widrigkeiten zum Trotz – zu befreien.
Das liest sich zunächst banal und austauschbar. Aber wenn man erst einmal das Buch aufgeschlagen und ein paar Kapitel gelesen hat, jagt eine Überraschung die nächste. Ich möchte daher nicht zu viel verraten, aber bereits die Kapitel, in denen Tress die Insel verlässt, obwohl man sie gar nicht verlassen kann, sind herrlich.
Sanderson lässt die Story von einem Mann namens Hoid erzählen, in einer humorigen und unterhaltsamen Art, von dem sich herausstellt, dass er ein Wahnsinniger, also ein Idiot, und damit ganz schön plemplem ist. Die Inspiration für den Roman kam von der Fantasy-Humoreske Die Brautprinzessin von William Goldman, die geradezu komödiantische Züge hat. Wer dieses Buch nicht gelesen hat, aber vielleicht die köstliche Verfilmung von Rob Reiner kennt, weiß, was ich meine.
Die Entwicklung von Tress, die sich vom Mauerblümchen zur Abenteurerin mausert, ist einfach herrlich zu lesen. Dazu trägt auch das Figurenensemble bei, das Sanderson zusammenstellt. Und natürlich die unvorhersagbare Handlung. Immer wieder gibt es Wendungen und Überraschungen. Die Hürden für Tress, um ihr Ziel zu erreichen, werden immer höher. Aber das passt zu einem Seefahrerroman, der auf einem Piratenschiff spielt, das nicht durch Wasser, sondern über sandartige Sporen »schwimmt«, die menschenfeindlich reagieren, wenn sie mit Flüssigkeit in Berührung kommen.
Das Buch selbst ist wunderschön aufgemacht: Hardcover mit Lesebändchen, illustriert von Howard Lyon, der Umschlag mit goldenem Spotlack veredelt. Kurzum: Hier stimmt alles.
Ich weiß nicht was los war, aber mich hat »Weit über der smaragdgrünen See« sehr positiv beeindruckt und total begeistert. Der Roman ist feinste Fantasy-Unterhaltung (mit einem Schuss Sci-Fi): spannend, überraschend, unterhaltsam geschrieben. Ein Volltreffer und uneingeschränkt zu empfehlen.
Das zweite Buch der Kampagne kommt im Frühjahr 2024. Der Titel klingt vielversprechend: Handbuch für den genügsamen Zauberer: Überleben im mittelalterlichen England. Ich bin sehr gespannt, was für Lesefutter uns Sanderson unter diesem Titel kredenzen wird.