Winteraustreiben von Jasper Nicolaisen
Rezension von Ralf Steinberg
Verlagsinfo:
Schule, Familie, Handball, Schwester nach Berlin abgedampft, Eltern schwer gestört. So ganz normal Mikas Teenagerleben auch ist, irgendwas braut sich da zusammen – die Eltern sind doch gestörter als gedacht. Der Weihnachtsmann kommt und beschert ein Dschungeltal, Fabrikterror, Koboldwächter und das Geheimnis eines uralten Kometen. Mika findet’s auch nicht anders als zu Hause und macht kurzerhand Karriere … während andere die Revolte planen. Ein phantastischer Roman um Arbeit, Familie, Freundschaft und ein bisschen um Liebe.
Rezension:
Jasper Nicolaisen gehört zur Lesebühne Schlotzen & Kloben und ist Mitgründer des Verlages Das Beben.
Nach einer Unmenge phantastischer Kurzgeschichten ist Winteraustreiben sein erster Roman. Und was für einer!
Mika ist ein junges, selbstbewusstes Mädchen. Ein Alpha-Tier. Sie weiß wo und wie es lang geht. Das führt natürlich zu Problemen, doch souverän stellt sie sich ihnen, stets darauf bedacht, die Kontrolle zu behalten. Selbst ein Weichei wie Sam, der sich selbst als schwul outet, kann ihr nicht das Wasser reichen.
Doch es ist Weihnachtszeit. Die Zeit der Abrechnung. Und wenn da jemand heimlich alle Untaten aufzeichnet und sie Heiligabend präsentiert, geschieht es schon mal, dass man nicht nur keine Geschenke bekommt, sondern gleich ganz vom Weihnachtsmann eingesackt wird.
Ein Zuckerschlecken ist das Leben am Polarkreis wahrlich nicht. Doch Mika kommt auch im übelsten Arbeitslager klar und schnell setzt sie sich durch. Koste es, was es wolle …
Jasper Nicolaisen stürzt die LeserInnen schnell in die brutale Wirklichkeit des Lagerlebens. Gemeinsam mit Mika begreifen wir die Ungeheuerlichkeit der Vorgänge. Und dann begleiten wir Mika, wenn sie ihren Weg geht, Fehler macht, Entscheidungen trifft und sich den Folgen stellen muss.
Dabei lässt Nicolaisen seine Figuren stets glaubwürdig agieren. Es gibt keine platten Erklärungen, vielmehr zeigt er mit großer Sorgfalt die komplexe Struktur der Motive. Unter den widrigen Umständen des Lagerlebens wird Mika mit sich selbst konfrontiert. Sie spürt, wie der Wunsch nach Kontrolle zu Macht und deren Missbrauch wird. Sie will Gutes tun und muss sich fragen, warum sie scheitert und wer daran Schuld ist.
Dabei geht Nicolaisen sehr behutsam vor und bettet Mikas Entwicklung in eine spannende Abenteuergeschichte ein, voller Wunder und Mutationen. Seine Hintergrundwelt offenbart eine große Tiefe, beschreibt ganze Menschenalter und mäandert zwischen Märchen und knallharter Science-Fiction.
Am ehesten lässt es sich als eine Mischung aus Herr der Fliegen und Momo beschreiben. Vielleicht nicht mit ähnlicher Zeitlosigkeit, aber in seinem modernen Rahmen durchaus gewichtig.
Nicht nur am Rande werden Themen behandelt, die für Jugendliche hohe Relevanz haben. Gerade Probleme mit den Eltern, der Familie überhaupt bestimmen die Welt jener Kinder, die man wegwarf und Santa mitgab, egal was ihnen dort geschehen mag.
Viele fühlen sich selbst Schuld an ihrem Schicksal. Was den Widerstand kleinhält. Das ganze System des Arbeitslagers beruht auf Innerer Ordnung, darauf, dass die Kinder die Unterdrückung mittragen. Unter dem Druck von Überarbeitung, Mangelernährung und bewusster körperlicher Erschöpfung funktionieren und gehorchen die Kinder. Die enge Welt der Pflichterfüllung verhindert jedes Aufbegehren. Das fühlt sich an wie eine Parabel auf den Alltag der Eltern und all die Ähnlichkeiten führen dazu, dass man auch Mikas Gefühle gegenüber dem Pöbel versteht. Dass ihre Überheblichkeit Teil einer Selbstlüge ist, begreift man schnell. Doch Mika muss ihre Fehler selbst begehen.
Gelungen sind auch die vielen Nebenfiguren. Über ihren Mitschüler und Mitgefangenen Sam, dem verbrannten Knecht Ruprecht, Santa selbst bis hin zur mythischen Ava, dem ersten Kind, bietet Nicolaisen komplexe Charaktere, mit Fehlern und Kanten. Besonders deutlich wird das bei Mikas Spion, dem Kobold, der ihre Missetaten aufzeichnete, und sie dabei liebgewann. In seinem Nebenstrang der Handlung erfahren wir mehr über das Leben der mutierten Frösche und begegnen Diskriminierung und Rassismus, die sich auch nie ganz auflösen. Auch hier verweigert sich Nicolaisen einem billigen Happyend.
Leider gibt es das Buch bisher nur digital, doch dafür zu einem kleinen Preis. Kauft es und erfreut euch an einem überraschend unweihnachtlichen Buch!
Fazit:
Alles in allem ist »Winteraustreiben« großartig. Die schräge Idee entfaltet sich zu einem ernsten Roman, voller Empathie für die Figuren, ohne Kitsch und stets ganz dicht an den schmerzenden Wunden, die wir selbst uns reißen, wenn wir versuchen in dieser Welt zu bestehen. Spannend bis zum Schluss, mal witzig, mal traurig, aber immer ehrlich.
Nach oben