Rezension von Oliver Kotowski
Rezension:
Der Künstler Peter Diggs träumt von einer jungen Frau, die ihn an der Bushaltestelle BALSAMIC in einen bizarren Bus aus Bambus und buntem Reispapier winkt – doch er traut sich nicht mit der Schönen die Fahrt nach FINSEY-OBAY anzutreten. Gleichwohl beschäftigt die Traumfrau die Gedanken seiner nächsten Tage. Unterdessen kommen Erinnerungen an die düstere Lenore hoch, die schon bei ihrer ersten Begegnung gesagt hatte, dass Peter sie einst unglücklich machen würde. Dennoch war er mit ihr zusammen. In einer Ausstellung über Kleinsche Flaschen trifft er die geträumte Unbekannte wieder. "Ich sah Sie in einem Traum!" – "Und ich sah Sie aber, wieso sind Sie nicht in den Bus gestiegen?" Es stellt sich heraus, dass die Fremde, die Amaryllis heißt, Angst vor diesem Bus hat. Peter fühlt sich sofort zu ihr hingezogen und würde sie gerne näher kennen lernen, aber sie macht es ihm schwer. Sie verlangt von ihm, dass er sie in seine Träume herüberziehe, so wie sie es mit ihm beim ersten Traumtreffen tat, und vor der Busfahrt beschütze. Je näher er Amaryllis kommt, desto unangenehmer werden die Erinnerungen an Lenore.
Peter Diggs lebt im London der Gegenwart. Dieses Setting wird jedoch nicht explizit ausgeführt, sondern ganz beiläufig eingeflochten, so dass ein 'natürliches' London-Gefühl aufkommt. In den Träumen werden dann sonderbarere Orte besucht: Eine dunkle Straße, die durch einen verkieferten Wald führt, an der Tankstelle vorbei, die exakt so ist wie jene von Edward Hoppers Gemälde Gas, hin zu einer verfallenen, düsteren Absteige mit muffigen Zimmer, feuchter Matratze und nackter Glühlampe. Hier wird das Setting deutlich zur atmosphärischen Untermalung verwendet.
Doch diese Träume sind wesentlich mehr als bloßer Schauplatz: Zunächst – nachdem Amaryllis Peter am Bahnhof ein Buch von H. P. Lovecraft lesen sah – zog sie ihn zu sich in den Traum. Später zieht er sie in seine Träume. Diese Träume geschehen den beiden nicht einfach, sondern sie gewinnen immer mehr Gestaltungsraum – wie etwa Lovecrafts literarisches alter ego Randolph Carter. Während diesen von Nyarlathotep, der bösen Seele des Universums, Unheil droht, fürchtet Amaryllis den numinosen Reispapierbus. Auch Peter wird klar, dass die Träume Auswirkungen auf die Realität haben: In einem Amaryllis-Traum trat er dem ungeliebten Studenten Hastings ins Gesicht. Am nächsten Tag hat dieser blaue Flecken im Gesicht – und hatte anscheinend denselben Traum.
Aber damit nicht genug: Eine Kleinsche Flasche scheint auf den ersten Blick klar eine Innenseite und eine Außenseite zu haben, aber wenn man mit dem Finger an ihr entlang fährt, stellt man fest, dass es nur eine Seite gibt. Dieses Motiv findet sich auch im Verhältnis von Wacher Welt und Traumwelt wieder: Bei genaueren Hinsehen folgen die anscheinend klar vom Traum getrennten Ereignisse der Wachen Welt oftmals einer Traumlogik – gibt es wirklich eine scharfe Trennung?
Die zentrale Figur ist der Ich-Erzähler Peter Diggs. Der Mittdreißiger ist gegenständlicher Maler und lehrt an einer Kunstakademie in London. Trotz seiner Kreativität und Gewitztheit ist er eine recht zentrische Figur: Wenn er keine Lust auf Uni hat, geht er trotzdem unterrichten, aber seine Kommentare langweilen ihn dann selbst; er geht regelmäßig mit einem Freund essen, trinkt hin und wieder (aber nicht zu viel) Glenfiddich und bestellt seine DVDs bei amazon.com.
Die beiden anderen wichtigeren Figuren sind Amaryllis und Lenore. Amaryllis ist eine achtundzwanzigjährige Musikerin – sie gibt Klavierunterricht. Zunächst erfährt man nur wenig über sie, da sie mit Intimität in der Wachen Welt sehr zurückhaltend ist – sie gibt nicht einmal ihren Nachnahmen preis. Einerseits ist sie sehr forsch und risikofreudig, andererseits ist sie ängstlich und nicht sehr selbstbewusst. Lenore war damals sechs Jahre jünger als Peter – die Zweiundzwanzigjährige war eine von seinen Studentinnen. Sie konnte zwar genau beobachten und hervorragend skizzieren, war aber zu unsicher um ein Bild fertig zu stellen. Ihre pessimistische, fatalistische Haltung verknüpft mit einem selbstsicheren Auftreten, machte sie zu einem interessanten, wenn auch schwierigen Menschen.
Über die Innenperspektive der beiden erfährt man fast nichts, auch über Peters nur wenig. Die Figuren werden ganz als Oberfläche präsentiert – wie auch die Kleinsche Flasche nur Oberfläche ist.
Der Plot verbindet Liebesbeziehung mit Rätseln und Wundern: Peter fühlt sich sofort zu Amaryllis hingezogen. Ist es Liebe? Liebt er nur das Verliebt sein? Wieso ist er ihr so bedingungslos verfallen? Wie steht es mit Amaryllis, die sich sehr widersprüchlich verhält? Und dann ist da noch Lenore, die zwar nicht physisch anwesend ist, aber dennoch zwischen den beiden steht. Was hat es mit ihr auf sich? Das zentrale Rätsel ist natürlich die bedrohliche Busfahrt – wohin geht es wirklich? Was fürchtet Amaryllis – und muss sie es wirklich fürchten? Zudem sind da noch die wundersamen Amaryllis-Träume, die wahrlich dem Begriff "sense-of-wonder" gerecht werden.
Schließlich gibt es noch unzählige Anspielungen: von Stanislaw Lems Solaris über Donna Leons Commissario Brunetti zu Harold Klein aus Hobans eigener Geschichte Angelica's Grotte; ja, Amaryllis trägt bei jedem Treffen ein anderes T-Shirt mit einem passendem Zitat. Die Anspielungen werden wiederum beiläufig eingeflochten, so dass nichts aufgesetzt wirkt.
Erzähltechnisch ist die Geschichte nicht sonderlich originell, aber nichtsdestotrotz sehr kraftvoll. Peter Diggs ist ein unzuverlässiger Ich-Erzähler, der seine Geschichte in zwei Strängen erzählt: Seine Liebe zu Amaryllis entwickelt sich progressiv, während das Lösen der Rätsel regressiv abläuft. Die Erzählung wirkt episodenhaft, da zwischen den Kapiteln Lücken sind – Peter bemerkt selbstreferentiell dazu: "Es gibt viele begabte Menschen, die nie Maler, Schriftsteller oder Komponisten werden. Sie tragen das Talent in sich, aber nicht die leeren Räume, in denen sich Kunst ereignet."
Sein Stil ist stark durchgeformt und vermag vom ersten Kapitel an zu faszinieren. Dazu tragen die vielen treffenden Metapher ("'Zieht zu! Zeiht zu!' kreischten die Schienen.") und die z. T. geistreichen, z. T. offenen Dialoge bei; nach Charles Baxters The Art of Subtext sind derartige Dialoge ein wichtiges und unaufdringliches Mittel um die Egozentrik der Sprecher zu charakterisieren – sie hören nur zum Teil zu.
Fazit:
Peter fühlt sich zu Amaryllis hingezogen, diese bittet ihn um Schutz in seinen Träumen vor einen numinosen Reispapierbus – es scheint jedoch, als ob die Erinnerungen an Lenore den beiden im Wege stehen. Hoban gelingt ein großartiger Roman des Magischen Realismus um eine schwierige Liebe, eine mysteriöse Bedrohung und intensiven Wundern zu schreiben, die den Leser schnell in ihren Bann zieht. Eine besondere Herausforderung ist es das Motiv der Kleinschen Flasche in den verschiedenen Aspekten der polierten und durchgeformten Geschichte wieder zu finden. Wer Die Bibliothek von Babel schätzt, sollte für Amaryllis Tag und Traum einen Platz daneben freihalten.