Apropos Angst: Der Bleistift im Knöchel
 
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Apropos Angst: Der Bleistift im Knöchel

Kolumne von Karin Reddemann

Der spitze Bleistift, der im Knöchel steckt, ist Legende. So unkompliziert läuft das manchmal mit der Horror-Karriere. Wenn zum rechten Zeitpunkt am rechten Ort völlig überraschend kräftig zugestochen und tüchtig in der Wunde gerührt wird – und fürwahr, nicht alle waren schon soweit, dass sie kein Kissen mehr zum Besser-jetzt-nicht-hingucken benötigten –, dann ist man gebrandmarkt für alle Zeit.

 

Dieser eine Nerv ist damit getroffen, der die Verantwortung trägt für alles Absurde, was wir uns vorstellen, ohne uns selbst damit trösten zu können, dass es so etwas wohl gar nicht gibt. Weil der spitze Bleistift im Fuß eben nicht mehr und nicht weniger als ein ganz profaner Bleistift ist, wie ihn jeder besitzt. Wie er halt überall herumliegt. Und wie ihn jeder Wahnsinnige jederzeit nehmen und böse lodernden Blickes in Hals, Brust, Gesicht, Knöchel rammen könnte.

 

So ein Bleistift ist echt. Der ist keine Kettensäge, die sowieso niemand griffbereit hat, wenn man sie braucht. Der ist kein zähnefletschender Werwolf, kein schuppiger Dämon, der aus dem Kleiderschrank hüpft. Der bleibt Bleistift. Und damit eine authentische Gruselwaffe für unsere gute, alte Furcht in gewohnt dunkler Ecke.

 

Tanz der Teufel, im Original The Evil Dead, 1981 erdacht und gemacht vom jungen Sam Raimi, in der Hauptrolle dessen Spezi Bruce Campbell, beschlagnahmt wegen »drastischer Gewaltdarstellung«, indiziert bis Oktober 2016: Natürlich haben wir den gesehen. Irgendwann in den 1980ern / 90ern machte jemand Pssst! und angelte verschwörerisch die souverän gedealte VHS-Kassette aus dem Rucksack. Das war Blutsbrüderschaft ohne Messerwetzen: Wer den Film hatte, hat geteilt. Und die Wunden der anderen mit geleckt. Die Narbe da unten am Fuß haben wir alle.

Narbe da unten haben wir alle

 

In der Fassung von 1981 – heute gibt’s uncut, das macht es nicht besser und nicht schlimmer – war die unappetitliche Knöchelgeschichte leicht geschont kürzer, wie auch die Vergewaltigungsszene durch den Baum im Wald. Reichte uns aber, um fortan angeekelt, angegruselt und tatsächlich schmerzverzerrt das Gesicht zu verziehen, wenn vom Tanz-der-Teufel-Knöchel die Rede war. Reicht immer noch. Man frage mal die Horror-Oldies, die noch nicht per Smart-Phone um therapeutische Hilfe brüllen konnten.

 

Durchaus faszinierend, mag sein, auch ein wenig amüsant: Da wurde in den letzten Jahrzehnten zerhackt, durchsägt, durchbohrt, zerrissen, im Innersten gewühlt, und ein bescheidener Bleistift macht das Rennen, wenn es um den gefühlten Millennium-Schmerz geht, der vom reinen Hinsehen herrührt. Und, sehr viel wichtiger noch, von der bloßen Erinnerung an eine kleine, aber so richtig fies feine Film-Szene, die mittlerweile vierzig Jahre alt ist. Da war so manches Gemeindemitglied als Messdiener noch gar nicht eingeplant. Die viel später Getauften wird das alles irritieren. Aber das hier ist kein Plädoyer. Es gehört zu den sechs, sechzehn, sechsundsechzig Geboten.

 

Der Bleistift im Knöchel hat sich als zuvor nicht einkalkuliertes Schockbild vielleicht nicht so weltweit spektakulär wie Hitchcocks Duschszene oder der erste Romero-Zombie unübermalbar und definitiv in erlebter Form unlöschbar gemacht, aber seine Berechtigung hat er gefunden. Vielleicht als Geburt. Vielleicht als Entjungferung. Vielleicht als ein Tod, der wie ein Blatt Papier zerknüllt werden kann. Dann gilt er nicht mehr.

 

Ich selbst, die ich mich mit finsteren Gedanken konfrontiert sehe, seitdem ich mir bewusst gemacht habe, was so alles an scheußlichen Sachen tatsächlich passieren könnte, das grundsätzlich nicht sein dürfte, wenn da noch irgendwo Hunde bellen und Vögel zwitschern, sehe einen spitzen Zeichenstift, der in mein Auge schießt. Das geschieht, weil jemand hineinsticht. Ein Böser. Ein Zorniger. Ein Kleinkind. Ein Irrer.

 

Vielleicht erledige ich das auch selbst. Weil ich ihn angespitzt habe und ihn mir näher ansehe und einen Schlag unter den Arm erhalte. Meine Hand schnellt unkontrolliert nach oben, und der Stift bohrt sich pfeilschnell hinein. So gruselig das auch erscheint, es gehört in das Genre des Möglichen. Deutlich eher als die Vorstellung, mir könnte ein Auge ausgerissen werden, wie es Paula mit Driver in Kill Bill macht. So etwas ist grauenvoll, aber viel zu selten, als dass ich mich in kostbaren Abenddämmerungen damit auseinandersetze.

Höchst grauenvoll, aber selten

 

Wohl glaube ich auch nicht ernsthaft, jemals in die Situation zu kommen, von einer völlig Besessenen in einer Waldhütte attackiert zu werden, die, sich am Boden krümmend, windend, sabbernd und geifernd, nach ihrem Bleistift greift, ihn mir in den nackten Knöchel stößt und wie wild darin herumstochert.

 

Das glauben wir alle nicht, die wir zu dieser ganz bestimmten Zeit in ganz bestimmter Runde den Tanz der Teufel gesehen haben. Wir sind nur vorsichtig. Wir haben den Sinn dafür. Wir wissen, wie es abläuft. Wir wissen, wie verdammt weh das tut. Und diesen einmaligen, aufregenden, anhaltenden, unvergleichbaren Schmerz vergessen wir nicht. Der sitzt da hoch oben und da tief unten, seitdem wir ihn gesehen haben. Nur gesehen. Mehr wird nie sein.

 

Zweifellos bleiben wir hoffnungsvoll, sind davon überzeugt, dass John Wick mit einem Bleistift drei schwer bewaffnete Männer umgebracht hat. Dass das funktioniert, ist beruhigend. Wir sind Phantasten. Keine Narren.

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Nachtrag

Apropos Angst: Wir freuen uns auf Beiträge unserer Leser·innen und/oder Autor·innen, die selbst zum Thema etwas zu sagen haben. Dass das so ist und nicht anders sein kann, bezweifeln wir nicht.

 

Denn:

»wenn einer keine Angst hat, hat er keine Phantasie.«

Erich Kästner

 

Eben.

 

Habt keine Angst, uns an folgende E-Mail-Adresse zu schreiben: brieftaube@…

(Domain für alle Mail-Adressen ist: fantasyguide.de)

 

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Erstellt: 30.05.2021, zuletzt aktualisiert: 15.04.2024 09:15, 19782