Apropos Angst: Die irre Angst vor Idioten
 
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Apropos Angst: Die irre Angst vor Idioten

Kolumne von Karin Reddemann

 

 

Die Geisteskranken im Wald kennen wir. Wir wissen, dass wir auf der Hut sein müssen. Wir befürchten, keine Chance zu haben. Es sind komplett Wahnsinnige, das dürfen wir nicht vergessen. Unsere gute Erziehung, unsere Sprache, unser Pazifismus, unser Schmerz … unser Verstand … gilt alles nicht mehr. Die Geisteskranken hausen in einer Hütte mit Fleischerhaken an der Decke, Kreissäge in der Schublade und einer Gefrierbox in der Ecke. Oh ja, diesbezüglich sind sie zivilisiert. Sie haben Strom. Und sie haben ihren kollektiven Irrsinn. Eine schlechte Kombination.

 

Von den Idioten in nächster Nachbarschaft haben wir gehört. Wir gehen ihnen aus dem Weg. Unseren Hund würden wir sie nicht streicheln lassen. Wir ahnen, dass sie ihm nichts Gutes tun wollen. Wir überlegen, uns zu bewaffnen, weil sie uns nicht zuhören. Uns belachen. Beleidigen. Bespucken könnten. Unsere Messer würden sie uns nehmen. Unsere Selbstachtung wohl auch. Und wir hätten nur noch Angst.

 

»Wer in einem gewissen Alter nicht merkt, dass er hauptsächlich von Idioten umgeben ist, merkt es aus einem gewissen Grunde nicht.«

Curt Goetz

 

Normalerweise nicke ich bei solchen Sätzen. Freilich, wer’s nicht merkt, fürchtet sich auch nicht. Mich erschrecken diese fürchterlich Bekloppten. Sie sind unberechenbar. Oft sogar schmerzfrei. Manchmal größenwahnsinnig.

 

Ich überlege mir, wie ich mich in einer Situation verhalten würde, in der ich mir verdeutlichen müsste, dass es mir gleich an den Kragen geht. Und dass mein Gegenüber krank im Kopf ist. Richtig krank. Entweder ein Irrer mit seinem eigenen abstrusen Weltbild oder ein Schwachkopf, der denkt, er sei ein Auserwählter. Von wem, für was und warum überhaupt auch immer. Ich zumindest weiß, dass ich die falschen Karten in der Hand halte. Ich werde nicht diskutieren. Nicht fragen, nichts erklären. Vermutlich schreie ich einfach nur. Falls ich fliehen kann, bin ich gern feige. Falls nicht, bete ich, dass es schnell geht.

 

»Der Vorteil der Klugheit besteht darin, dass man sich dumm stellen kann. Das Gegenteil ist schon schwieriger.«

Kurt Tucholsky

 

Diese Erkenntnis ist alltagstauglich. Selbstredend wahr und irgendwie beruhigend, sofern man sich in sicherer ziviler Gesellschaft befindet. Schwierig, vermutlich auch sinnlos, sich dumm zu geben, wenn einer, der völlig neben der eigenen mentalen Spur steht, einem sagt oder auch nur andeutet, was er gleich zu tun gedenkt. Bei vollem Bewusstsein. Lebendigem Leibe. Lassen wir das. In solchen Situationen kann einem auch das Gegenteil egal sein.

 

In den Händen von Irren zu sein, von Idioten belacht werden zu müssen, sich Schwachsinn und verzerrten Selbstbildnissen ausgeliefert zu sehen … grauenvolle Vorstellung. Wir lesen Geschichten, sehen Filme, in denen die anderen dort, die ungebeten um die Ecke kommen und starren und sinnieren, nicht nur einfach unfreiwillig oder unbedacht böse sind. Sie provozieren, weil sie es legitim finden, auf irrsinnige Art böse zu sein. Sie wollen töten, abstechen und abknallen, aber nicht mit einem gezielten Stich in die Kehle, nicht mit einem einzigen sauberen Treffer ins Herz. Sie wollen ihre ganz persönliche Show. Und die soll dauern.

 

Ein normaler Kannibale tötet seine Nahrung, bereitet sie zu und isst. Er lässt sie nicht leben und schneidet sich die einzelnen Portionen bei Bedarf heraus, ein saftiges Stück Schulter, Filet aus dem Oberschenkel, freudig erregt kommentiert, damit man es noch mitbekommt und schon im Vorfeld brüllen kann. Klingt jetzt widerlich. Aber macht der Kannibale es so, dann ist er nicht gesund im Kopf, sondern verrückt.

 

In Eden Lake, diesem bitterfiesen englischen Film über die Eskalation einer Zufalls-Begegnung mit brutalst-möglicher Konsequenz, geraten ein junges Paar und eine Jugendbande aneinander: Da sind Jenny und Steve, nette Londoner Durchschnittstypen, die mit Campingzelt und guter Laune ein harmlos-herrliches Wohlfühl-Wochenende am See verbringen möchten. Und da ist die Dorfclique rund um »Chef« Brett: Aufgeheizt von Langeweile und der Suche nach willkommener Abwechslung, einfach strukturiert, aggressions- und eben auch gewaltbereit. Wenn eben nötig … ansonsten kann nachgeholfen werden.

 

Laute Musik wird gespielt, Bretts Rottweiler läuft frei herum und macht die beiden Camper leicht nervös, Jenny und Steve bitten um Rücksichtnahme. Sie werden nicht ernst genommen, mehr noch, belacht, dann bestohlen. Handy, Autoschlüssel, Steves kostspielige Sonnenbrille. Brett trägt sie stolz, als Steve ihn zur Rede stellt. Steve bleibt höflich, fordert sie aber zurück. Natürlich denkt der »Boss« gar nicht daran, die Siegesbeute gehört ihm, seine Meute johlt. Es kommt zu einer Auseinandersetzung. Steve, völlig unerfahren, was derart irrationale Konfrontationen betrifft, verteidigt seine Verlobte und sich, so gut er es kann, und tötet versehentlich mit dem Messer eines der Jungen, das er ihm zuvor abnehmen konnte, den attackierenden Hund.

 

Verzweifelt versuchen Jenny und Steve, noch zu klären, was in dieser Situation nicht zu klären ist. Sie bekommen Panik, fliehen. Steve wird auf der Jagd durch den Wald von einem umstürzenden Baum schwer verletzt, Jenny will Hilfe holen, verirrt sich, trifft einen der Jungen, der tags zuvor von den anderen gehänselt worden war, und vertraut ihm. Er sagt, er würde sie zu einem Ort führen, wo Leute wären, die ihr helfen könnten. Stattdessen bringt er sie direkt zum Treffpunkt der Bande zurück, wo Steve, mit Stacheldraht an einen Stamm gefesselt, gequält wird. Als Mutprobe deklariert, verletzen ihn auf widerlich sadistische Art auch die Jungs, die unsicher sind und meinen, das alles ginge irgendwie zu weit. Brett filmt alles mit seiner Handykamera. Am Ende des Films wird er es löschen … aus plötzlicher Sorge, dass das, was man dort machte, irgendwie … Ja. Irgendwie wohl schon.

 

Jenny wird entdeckt, an Steve gefesselt, der mittlerweile tot ist, und soll mit ihm verbrannt werden. Sie schafft es, zu entkommen, und sieht von einer Anhöhe aus, wie der Junge, der vorgegeben hatte, ihr zu helfen, von den anderen als »Verräter« festgehalten und angezündet wird. Er stirbt vor ihren Augen im Feuer.

 

Die Geschichte ist noch nicht vorbei. Natürlich nicht. Es gibt weitere Tote. Und Jenny …

 

»… Glaube, Hoffnung … nur leere Worte, einem wirren Geist entsprungen.

Aya Yven

 

Wir erinnern uns. Da war dieses ganz normale Paar aus London, Jenny, eine Kindergärtnerin, Steve, Typ Pädagogik-Sport-Lehrer. Es sollte dieses harmlos-herrliches Wochenende am See werden. Sonne, Wasser, Liebe. Stattdessen tat sich die Hölle auf, geöffnet von jungen Idioten. Eine irrsinnige Wendung. Da dürfen wir bekennen, uns zu fürchten.

 

Ich stehe an einer Supermarktkasse, vor mir eine recht kleine, sehr dicke Frau. Die dreht sich abrupt um, starrt mich an und keift: »Pack mich nicht nochmal an, Drecksau, sonst passiert hier was.« Ich sage nichts. Weiche nur irritiert zurück, zucke mit den Schultern und schau betreten drein, weil die Umstehenden uns neugierig fixieren. Solche Menschen machen mir Angst. Ich kenne die Geisteskranken im Wald.

 

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Apropos Angst


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Erstellt: 26.06.2022, zuletzt aktualisiert: 15.04.2024 09:15, 20941