Apropos Angst: Mein Billy Mahoney heißt Cordula
 
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Apropos Angst: Mein Billy Mahoney heißt Cordula

Kolumne von Karin Reddemann

 

Cordula hatte acht Geschwister, trug den abgeschabten braunen Tornister ihres großen Bruders und war dürr und lang und still. Mehr wusste ich nicht von ihr. Ich mochte sie nicht, und fragt mich heute jemand nach dem Grund dafür, so würde ich genauso ratlos mit den Schultern zucken wie ich es im Alter von neun Jahren getan hätte. Ich weiß es nicht. Irgend etwas ist an diesem blassen, dünnen, scheuen Mädchen gewesen, das mich gestört hat. Mehr noch, das mich hat glauben lassen, es völlig berechtigt hassen zu dürfen.

 

Mag sein, dass ihre Unauffälligkeit es war, die mir ihr gegenüber dieses Gefühl der Überlegenheit gab, das ich nie gewagt hätte, zuzugeben. Ich war selbst recht schüchtern, – das bin ich immer noch, ich werde mich nicht ändern und irgendwo im unseligen Hintergrund sterben –, gehörte nie zu den Lauten, war aber sehr aufmerksam. Vielleicht witterte ich, was andere nicht wahrnehmen können, vielleicht raunte jemand mir einen Sinn zu, dessen Bedeutung nicht ausgesprochen werden darf. Vielleicht war ich auf der Suche nach irrationalen Möglichkeiten, nach Empfindungen, die mir in ihrer unvertrauten Niedertracht gefielen. Vielleicht war ich einfach nur böse.

 

Vielleicht einfach nur böse

 

Cordula Schmidt, Schmittke, Schmies oder wie auch immer sie hieß, – zweifellos wäre es wohl vernünftiger, den ganzen Namen nicht zu nennen, denn wer immer auch lauert, könnte mich verraten, mich holen lassen … egal jetzt, zu spät, ich habe ihn gesagt –, tat sich schwer im Unterricht. Ich sehe sie dort sitzen in der zweiten Bankreihe direkt am Fenster, vor dem eine riesige Kastanie stand, deren Äste Schatten wie dunkle, hässliche Striemen in ihr Gesicht warfen, beobachte sie, wie sie mit gesenktem Kopf aus Erzähl mir was vorlesen muss, stotternd, mit dem Finger über die einzelnen Buchstaben fahrend, die Wangen fleckig rot, die Stimme so unbedeutend klein.

 

Ich sehe sie über das Schreibpult gebeugt, sehe die grüne gestopfte Strickjacke, die kurzgeschnittenen braunen Haare, sehe ein ganz normales Mädchen und sehe mich mit meinen unschuldigen Zöpfen schweigend bezeugen, wie furchtbar sie stammelt, sehe, wie ich unwillig und gleichwohl zufrieden damit bin und sie in die Hölle wünsche.

Ich bin nicht verantwortlich für Cordulas Tod. Er ist nicht meine Geschichte, ich habe ihn nicht gerufen. Das sage ich nicht aus Trotz oder aus Angst davor, dass es tatsächlich ganz anders gewesen ist. Ich weiß auch gar nicht, ob sie wirklich gestorben ist, damals, als alle erdenklichen Sachen kursierten, die uns neugierig machten auf die Lügen der Erwachsenen. Ich habe auch eine lange, geduldige Zeit nicht mehr an Cordula gedacht. Bis mir Billy Mahoney in seinem roten Kapuzenpullover und mit diesem entsetzlichen Zorn in den Augen ihr Bild zurückgab. Ich wollte es nicht, will es nicht. Aber ich kann es nicht in der finstersten Ecke auf dem Dachboden verstauen, kann es nicht wegwerfen wie eine ausgediente schäbige Jacke, die man nie wieder tragen möchte.

Ich überlege, ob in tröstender Nähe noch jemand ist, der solch ein Bild besitzt. Noch jemand, den es unruhig macht, wenn er es genauer betrachtet. Schluckt. Fröstelt. Sich erinnert. Und auf ein Wort, ein Geräusch wartet, das erklären würde, warum es notwendig ist, das alles ernst zu nehmen. Und dann ist sie eben doch da, diese Angst, von der man nichts wissen will, weil man das Leben grundsätzlich anders verstehen sollte, ganz ohne irgendeinen Spuk aus der Vergangenheit, der einen von hinten packt und erwischt, wenn man sich nicht vorsichtig umschaut.

 

Spuk aus der Vergangenheit

 

Dieses Bild von Cordula zeigt mich, wie ich in meinem Turnzeug, – weißes Baumwollshirt, schwarze Shorts – , auf einer Matte am Rand der kleinen Sporthalle der Elisabeth-Grundschule hocke und wimmernd meine rechte Hand halte. Neben mir steht Cordula in ihrem karierten Mantel, die zu spät gekommen ist und sich noch nicht umgezogen hat, sie steht da völlig hilflos mit erhitztem Gesicht und jammert mit ihrer winzigen unwichtigen Stimme: »Ich wollte das nicht. Das tut mir so leid. Das wollte ich nicht.«

 

Natürlich nicht. Natürlich hatte sie das nicht gewollt. Aber sie war mir mit dem Absatz ihres derben Schnürstiefels auf die Hand getreten, ich hatte dort auf dem Hallenboden gesessen wie all die anderen. Sie war einfach zu spät dazu gestoßen. Und sie trat mir auf die Hand, kräftig, schmerzhaft, was nicht erfunden ist, versehentlich, natürlich, wirklich nur versehentlich … aber sie trat mich und ich schrie: »Das hast du mit Absicht gemacht. Weil du mich nicht leiden kannst. Das hast du extra gemacht.«

 

Frau Kattmann, der wohl nichts Besseres einfiel, fragte: »Stimmt das?«, und noch unsinniger hätte sie nicht reagieren können, aber ich nickte heulend, als wäre sie in ihrer Einfalt mein persönlicher Guru. Cordula brach gleichsam in Tränen aus, und Frau Kattmann packte ihren Arm und schüttelte sie und sagte, »Fräulein, so geht das nicht«, und auch das war dumm, so dumm von ihr. Aber in diesem Moment meiner seltsamen Lust an dieser Boshaftigkeit, die uns falsch und verlogen macht, war alles richtig. Tatsächlich war mein Handgelenk gebrochen, so etwas kommt vor, so etwas tut weh. Und während meine entsetzte Mutter mich aufgelöst »Meine arme Kleine« nannte und mich in den Arm nahm, hörte ich Cordula flüstern: »Wenn das mein Vater hört … aber das war doch keine Absicht. Ich wollte das nicht.«

 

Einige Wochen später fiel ich auf dem Schulhof hin und schlug mir die Knie auf. Auch so etwas kommt vor. Ich behauptete, Cordula hätte mich gestoßen. Und mich ausgelacht, als ich dort lag. Am nächsten Tag zog ich ihr die Mütze vom Kopf und warf sie in die Mülltonne. Und ich sagte: »Du stinkst.« Sie erwiderte gar nichts.

 

Michael Klemm, der in der Bank beim Malunterricht neben mir saß, meinte: »Ich glaube, Cordulas Vater schlägt die. Der Hennes hat das gesehen.« Ich sah ihn nur erstaunt an und zog die Mundwinkel nach unten, wie meine Großmutter es tat, wenn etwas sie nicht interessierte: »Geschieht ihr ganz recht.«

Das sagte ich. Mehr nicht. Und gehört es auch zu dem Widerlichsten und Schlimmsten, was ich jemals von mir gegeben habe, so habe ich es doch gesagt. Nicht gedacht. Ich habe es gesagt und nicht gedacht, aber das macht es nicht besser. Ich habe ein scheußliches Wesen der Nacht geküsst. Es gibt so viele, die phantastisch sind. Ich wählte die Hässlichkeit. Dafür werde ich zahlen müssen. Vielleicht auch für Cordulas Tod, den ich geträumt haben könnte. Einfach erdacht, ohne meinen Kopf vernünftig zu kontrollieren. Das geschieht, das belastet. Ich glaube, jemand hat mir davon berichtet, viele Jahre später. Mag aber sein, das stimmt alles gar nicht.

 

Auf Cordulas Platz in der zweiten Bankreihe direkt am Fenster, vor dem die Kastanie mit den Schatten spielte, saß nach den letzten großen Sommerferien vor dem Wechsel zur weiterführenden Schule ein anderes Mädchen. Cordulas Familie war in die Nachbarstadt gezogen, ich sah sie nie wieder. Jahre später, – ich studierte längst und plante ein Leben … irgendwie –, traf ich Michael Klemm wieder. Wir hatten uns völlig aus den Augen verloren, waren überrascht, fühlten uns vertraut. Und sprachen befreiend Belangloses, bis Michael sagte: »Erinnerst du dich noch an diese Cordula? Die soll sich erhängt haben. Mit grad mal zwanzig.«

 

Ich weiß nicht, ob er das tatsächlich gesagt hat. Ich weiß gar nicht, ob ich ihn überhaupt getroffen habe. Aber ich habe es mir notiert. Es ist eingebrannt in mir wie ein Feuerzeichen, über das nie wieder Haut wachsen wird. Ich sehe sie dort hängen am Fensterkreuz, im Dachgebälk, im Wald, wo der Wind mit ihr tanzt, und ich sehe, dass sie mich anstarrt. Sie blickt auf mich, in mich, sie sagt, »Das wollte ich nicht«, und ich frage: »Warum?«

Und meine mich selbst, mich allein, nicht sie, und ich fühle mich schuldig und bin verwirrt, weil das nicht richtig sein kann.

 

Alles nicht so schlimm?!

 

Ich habe sie nicht getötet. Ich habe nichts wirklich Unverzeihliches getan. Ich war ein Kind. Ich war einfach nicht gut zu ihr.

 

Ich war das, was man böse nennen kann, ohne Blut trinken zu müssen. Aber so bin ich nicht mehr. So war ich nie. Nur dieses eine Mal. Ich schwöre und hoffe, dass das so ist. Ist es aber nicht. Und wenn jetzt jemand sagt, das sei alles nicht so schlimm, nicht so schrecklich, nicht so furchtbar, dass man es mit sich tragen sollte, weil unsere einzige, diese lustvolle, schmerzhaft drückende Last leiden lassen darf, dann mag er lächelnd gehen. Ich lächle nicht.

 

Cordula, die meine eigene Ewigkeit nicht gnädig macht und mich vergessen lässt, ist mein Billy Mahoney. Der Junge aus Flatliners, der den Studenten Nelson Wright in seinem Totenschlaf mit einem alptraumhaften Kindheitserlebnis heimsucht. Und Rechenschaft fordert. So eindringlich, so körperlich, so erbarmungslos und furchteinflößend, dass Nelson daran fast zerbricht. Mein Billy Mahoney erinnert sich vielleicht gar nicht. Lebt. Lacht. Ist alt geworden wie ich. Aber ich bin auf der Hut.

 

Denn ich erinnere mich. Es macht mich traurig. Es macht mir Angst. Es hat aus mir gemacht, was ich jetzt bin.

 

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Nachtrag

Apropos Angst: Wir freuen uns auf Beiträge unserer Leser·innen und/oder Autor·innen, die selbst zum Thema etwas zu sagen haben. Dass das so ist und nicht anders sein kann, bezweifeln wir nicht.

 

Denn:

»wenn einer keine Angst hat, hat er keine Phantasie.«

Erich Kästner

 

Eben.

 

Habt keine Angst, uns an folgende E-Mail-Adresse zu schreiben: brieftaube@…

(Domain für alle Mail-Adressen ist: fantasyguide.de)

 

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Erstellt: 10.09.2021, zuletzt aktualisiert: 08.08.2023 15:45, 20085