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Was ist eigentlich »New Weird«?

Redakteur: Oliver Kotowski

 

Einleitung: Es ist keine amerikanische Volksmusik.

Wenn man nach den Begriff "New Weird" (im Folgenden NW abgekürzt) im Internet sucht, erhält man viele Einträge zur "psychedelic folk music" Richtung – "New Weird America". Das zu betrachtende Phänomen hat allerdings mit diesem Musikstil nicht viel zu schaffen; es geht um Literatur, genauer gesagt: Um nicht-mimetische, phantastische Literatur, also Fantasy, Science Fiction, Horror und dergleichen mehr.

Aber was ist es denn? Welche Form hat es – ist es eine Bewegung? Ein Subgenre? Und welchen Inhalt hat es?

Diesen und weiteren Aspekten will ich mich annähern, indem ich im ersten Abschnitt knapp die Genese des Begriffs und die Frage, ob es eine Bewegung sei, nachzeichne. Darauf soll in einem kleinen Exkurs die Weird Fiction, auf die sich NW beruft, aufgerufen werden. Im zweiten Abschnitt werde ich mich zunächst kurz verschiedentlich postulierten Kriterien zuwenden und diese dann anhand einiger Texte reflektieren. Es folgen ein paar Überlegungen zur Form und schließlich einige Bemerkungen zum Begriff selbst. Danach ziehe ich ein Fazit und schließe den Text mit einer kommentierten Leseliste mit Titeln, die entweder häufig im Zusammenhang mit dem NW genannt werden oder aus anderen Gründen für die Beschäftigung mit dem NW interessant sein können.

 

Die Bewegung und ein wenig Begriffsgeschichte

Um sich diesen Fragen anzunähern beginnt man am Besten mit ein wenig Begriffsgeschichte.

China Miéville will seine Werke von der tolkienesken Epic Fantasy abgrenzen; ein bekanntes Zitat in diesem Zusammenhang: “Tolkien is the wen on the arse of fantasy literature.” ("Tolkien ist der Pickel am Arsch der Fantasy Literatur." – Mittlerweile äußert sich Miéville wesentlich gemäßigter, stellt Vorzüge Tolkiens Werk neben Nachteile und räumte ein, dass das Zitat es ein Fehler war: "Wen" ist eine Art von Pickel, die man nur im Gesicht erhält.) Er sucht seine Vorbilder bei den ungemütlicheren Autoren: H.P. Lovecraft, Mervyn Peake und Gene Wolfe um nur einige zu nennen und ordnet besonders seinen großen Erfolg "Perdido Street Station" der Weird Fiction zu. Nun gibt es in Großbritannien, gerade in London, eine Reihe von Schriftstellern, die diese Richtung gutheißen und man denkt gemeinsam über neue Wege der Weird Fiction nach. Unklar ist, ob M. John Harrison oder Miéville den Begriff "New Weird" prägte, Harrison jedoch verwendet ihn im Vorwort von Miévilles Kurzroman "The Tain", welcher Ende 2002 erschienen war, allerdings ohne eine klare Definition zu entwickeln. Alternativ dazu erklärt Cheryl Morgan, dass sich das "New" von der "New Wave" ableitet, die der SF neuen Schwung gab, und mit Harrison, der Texte zu beiden Phänomenen verfasste, eine personale Verbindung erhält, und das "Weird" stammt von Jon Courtenay Grimwood, der seine Texte gerne als "weird shit" bezeichnet – dieses dürfte dann auch zu den unzähligen, albernen fäkalsprachlichen Witzen angeregt haben.

Nun wurde das Vorwort Harrisons offensichtlich auch gelesen, denn im Frühjahr des folgenden Jahres entspann sich eine rege Diskussion auf dem Forum der TTA-Press mit zum Teil – euphemistisch gesagt – hitzigen Reaktionen. Die Liste der Teilnehmer liest sich beinahe wie ein Who is Who der britischen SF/F Avant Garde: Neben den obligaten Miéville und Harrison nahmen z.B. Alastair Reynolds, Charles Stross, Justina Robson, Richard Morgan und Stephanie Swainston, aber auch Auswärtige wie Jeff VanderMeer und Kathryn Cramer teil. Es wird vieles diskutiert, doch es kristallisieren sich zwei Kernthemata heraus: Es werden zum einen Genre-Grenzen aufgebrochen, Genres vermengt, besonders die drei großen phantastischen, und zum anderen soll in Punkto Moral und Politik die komplexe Realität eingefangen werden. Und man will der phantastischen Literatur neues Leben einhauchen, ähnlich wie einst Cyberpunk oder New Wave es mit der SF machten. Ohne eine Bewegung zu wollen – das heißt, einige Kritiker machten sehr deutlich, dass sie keine Bewegung wollen und daher NW ablehnen. Weitere Kritiker stimmten zu, während die Befürworter klarstellten, dass sie keine Bewegung wollen und niemals gewollt hätten.

Doch so vage die Positionen auch waren, so sehr konnte man auch streiten: Reynolds fand NW spannend, meinte aber eher "New Space Opera" (NW, nur mit Space Opera Setting) zu schreiben, Morgan befürchtete ein Zerbrechen der Community, Cramer fand mit Samuel Delany, dass Genre-Grenzen aus gutem Grund existieren und VanderMeer findet, dass das Label NW ihn zu sehr einschränkt – er ordnet seine Werke lieber dem Magischen Realismus zu. Eng verknüpft damit war auch die Diskussion um die "New Space Opera" und die Frage, ob es sich hierbei um ein britisches Phänomen handelt. (An dieser Stelle fühle ich immer den Drang als Vertreter der Volksfont Judäas der Judäischen Volksfront laut: "Spalter!" zuzurufen…)

Kurzum: Viel und hitzig wurde diskutiert, keine Einigung erzielt und mit dem Ausscheren VanderMeers im Sommer 2003 war auch das Ende der ungewollten Bewegung NW eingeläutet worden, daran konnte auch das etwa zeitgleich von Miéville für das Magazin "Third Alternative" verfasste Guesteditorial zum Thema nichts mehr ändern.

Wer den Begriff damit zur Alten Geschichte rechnet und sich wundert, warum die römischen Legionen nicht endlich für Ruhe und Ordnung in der Provinz Britannia sorgen, der irrt: Auf dem Readercon 17 vom 7. bis zum 9. Juli 2006 stand die Frage "Why Is The New Weird Weird?" auf dem Programm, für nächstes Jahr kündigt Volker Busch als literarischen Höhepunkt Stephanie Swainstons Roman "Komet" mit den Worten an: "Steph Swainston, eine junge Engländerin und ein Riesentalent, steht erst am Anfang ihrer Karriere, doch sie wird von vielen Kennern schon heute als stilbildend und richtungweisend für die New-Weird-Fantastik eingeschätzt," und die Aalborg Universitet bietet im Wintersemester 2006 eine Veranstaltung zur Fantasy-Literatur an, deren Lecture 9 sich mit dem NW und China Miéville befassen wird.

So viel zur Frage, ob es eine Bewegung und ob es noch relevant sei.

 

Ein kleiner Exkurs: »Weird Fiction«

An dieser Stelle ist es vielleicht sinnvoll, kurz über Weird Fiction nachzudenken, auf welche sich das "New Weird" offenkundig, bezieht und anknüpfen will. Nach Clutes Lexikonartikel in der "Encyclopedia of Fantasy" ist "Weird Fiction" ein Term, der Texte, die Elemente der Fantasy, des Übernatürlichen, des Horrors verknüpfen. Wichtige Motive seien das "Thinning", also das Schwinden der 'Vitalität' der Welt, und das "Uncanny", also das Verunsichernde, welches jenseits des menschlichen Verständnis' liegt.

Howard Philips Lovecraft selbst schreibt in seinen "Anmerkungen zum Schreiben unheimlicher Erzählungen", dass sein zentrales Motiv die Überwindung der Illusion des Alltäglichen sei und das Gefühl des Grauens am besten hierzu geeignet sei. Genre-Grenzen spielen für ihn keine Rolle – Horror, Fantasy und SF, alles ist ihm recht, wenn es nur seinen Zwecken dient.

 

Man könnte nun eine Vielzahl von Werken nennen, doch hier will ich nur auf ein paar Texte hinweisen, auf die sich verschiedentlich im NW-Kontext explizit bezogen wurde. Wiliam Hope Hogsons "Nachtland" ist eines der frühesten dieser Werke. Ein namenloser Erzähler schildert darin, wie er das gefährliche Nachtland durchwandert um seine ewige Liebe Mirdath zu retten. Das Nachtland ist die Erde in ferner Zukunft, in der die Sonne nur noch eine blasse Erinnerung in den Aufzeichnungen der Historiker ist und die Menschen in einer gewaltigen Pyramide leben aus Angst vor den Monstren, die durch einen Riss in der Realität auf die Erde gelangten. Lovecrafts "Berge des Wahnsinns" beschreibt eine Expedition in die Antarktis, eine Anspielung auf E.A. Poes "Die denkwürdigen Erlebnisse des Arthur Gordon Pym". Die Forscher stoßen schließlich auf die Überreste einer vormenschlichen Zivilisation höchst bizarrer Wesen, die das irdische Leben aus Versehen schufen. Die sonst eher übernatürlich erscheinenden Großen Alten werden hier erkennbar rationalisiert. Clark Asthon Smith greift in seinen Kurzgeschichten um "Zothique", den letzten Kontinent der Erde, die von Hogson verwendete Thematik der Sterbenden Erde auf und versetzt sie deutlich mit übernatürlich scheinenden Elementen, wie der Nekromantie. Smiths Werk wimmelt von bizarren Kreationen wie halbmetallische Pflanzen, die einen deutlichen Widerhall in Jack Vances Geschichten um die "Sterbende Erde" finden. Auch hier wird das Setting einer absterbenden dekadenten Zivilisation verwendet, die auf das endgültige Verlöschen der Sonne wartet. Zivilisatorischer Höhepunkt ist die Magie, die auf mathematischen Formeln basiert. Harrisons "Viriconium"-Reihe soll hier als letztes genannt werden. Wiederum geht es um die ferne Zukunft der Erde, in der die Menschen in Rostwüsten und Metall-Salz-Sümpfen mit silbernem Ried und schwarzem Gras leben. Aus den Ruinen werden die Überreste der großen Vergangenheit ausgegraben um die ziellose Zukunft zu gestalten. Gerade "Das Rauschen dunkler Schwingen" greift Lovecrafts zentrale Motivation durch die Beschreibung eines Aufeinanderprallens zweier sehr unterschiedlicher Intelligenzen in einem Universum, in dem das Bewusstsein das Sein radikal bestimmt, auf.

 

Worum geht's?

Thomas P. Weber benennt in seinem Überblickswerk "Science Fiction" als zentrale Eigenschaften des NW das Überschreiten der Gattungsgrenzen, das Verbinden von Elementen der SF, Fantasy, Horror und Groteskem, und die moralische und politische Komplexität der Geschichten. Miéville sieht darüber hinaus noch die Säkularität und verunsichernde Wirkung der Texte als wichtige Merkmale. Auch wenn er moralisch und politisch Komplexes schaffen will, so soll es doch nicht didaktisch sein – es geht um ästhetische, spannende Geschichten. Ein zentraler Streitpunkt zwischen ihm und VanderMeer war die Stellung zum Postmodernen: Miéville will einfach kodierte Geschichten und lehnt postmoderne, metaphorische oder utopische Geschichten ab, VanderMeer dagegen will sich der postmodernen Methoden nicht berauben lassen. (Ein schönes Beispiel für die Postmoderne ist Scott Bakkers Reaktion in einem Interview auf den Zusammenhang von Postmoderne und NW: Er lobt Miévilles geschicktes Verwenden postmoderner Tropen.)

Zwei zentrale Gegenargumente gegen die Auffassung als (Sub-)Genre wurden gebracht. So seien einerseits unter diesem Begriff höchst unterschiedliche Werke zusammengefasst, die kaum Ähnlichkeit mit einander hätten, und andererseits sei die Textgruppe viel zu eng definiert, es blieben am Ende nur Miévilles und Harrisons' Werke übrig. Offensichtlich können hier nicht beide gleichzeitig gültig sein; dennoch stehen dahinter durchaus berechtigte Einwände, die auf Schwächen der Kriteriensammlung hinweisen.

 

In die Geschichten geschaut

Zentrales Element aller NW-Geschichten ist das Aufbrechen von Genregrenzen. Dieses ist allerdings eine sehr weite Eigenschaft, denn auch im Bereich der aktuellen 'Hochliteratur' werden Elemente des Phantastischen immer häufiger verwendet. Verwiesen sei hier nur auf Haruki Murakamis Kurzgeschichte "Frosch rettet Tokyo", in welcher Frosch klipp und klar auf die Frage, ob er ein echter Frosch sei, antwortet: "Natürlich, das sieht man doch. Keine Metapher, kein Zitat, keine Dekonstruktion, keine Attrappe oder sonst etwas Kompliziertes. Ein Frosch wie er leibt und lebt. Soll ich mal ein bisschen quaken?" Zweifellos ein phantastisches Element in der sonst mimetischen 'Hochliteratur'. Auch ist die Verknüpfung von Krimi und SF keineswegs neu, als Beispiel sei hier Isaac Asimovs Sammlung "Science Fiction Kriminalgeschichten" genannt. Genrebending alleine reicht nicht aus, es müssen zusätzlich die Binnengrenzen der phantastischen Literatur verwischt werden. Doch so erhält man immer noch eine zu weite Gruppe – Dark Fantasy, wie Lin Carters/L. Sprague de Camps Conan-Geschichte "Der Kampf in der Grabkammer" oder die klassischen, chimärischen Science Fantasy Geschichten, in denen SF Elemente neben Fantasy Elemente gestellt werden, wie C.L. Moores/Henry Kuttners Jirel von Joiry Geschichte "Die Suche nach dem Sternenstein", wo der Magier Franga den Weltraum-Pistolero Northwest-Smith mit seiner Strahlenkanone herbeizaubert, bringen doch noch zu große Unterschiede in die Gruppe.

 

Ich meine, dass das erste Kriterium die Verschmelzung von Elementen der SF und der Fantasy zu phantastischen Hybriden ist.

Unter Elementen der SF will ich hier in der Realität für unmöglich Gehaltenes, das 'rational' erklärt wird, verstehen. Diese 'rationale' Erklärung muss nicht explizit oder strikt plausibel sein; wenn Raumschiffe mittels Hyperdrive überlichtschnell fliegen können, widerspricht das zwar den gegenwärtigen Erkenntnissen der Physik, aber die implizierte rationale Lösung reicht aus.

Unter Elementen der Fantasy will ich hier in der Realität für unmöglich Gehaltenes, das 'übernatürlich' erklärt wird, verstehen. Dieses mögen nun Elemente aus Horrorgeschichten, der Fantasy im engeren Sinne, oder aus der Phantastik im engeren Sinne sein.

(Mir ist völlig klar, dass eine saubere und endgültige Definition von phantastischen Elementen der SF/F nicht in so wenigen Sätzen zu leisten ist; es reicht aber hoffentlich aus um meine Stoßrichtung zu verdeutlichen.)

Ein hervorragendes Beispiel für einen Hybriden ist die Thaumaturgie aus Miévilles Bas-Lag Reihe. Die erzielbaren Ergebnisse dieser Fertigkeit, gemahnen klar an Magie, doch hier wird sie 'wissenschaftlich', an die Dialektik erinnernd, erklärt – ohne dass sie rationalisiert wird; Thaumaturgie ist eine natürliche Kräftekategorie, wie die auf Materie oder Gesellschaft basierenden Wissenschaften, nur befasst sie sich mit dem Magischen.

Abzugrenzen sind diese SF/F Hybriden noch von der rationalisierten Fantasy. In Poul Andersons "Dreiherz" versteinern Riesen im Sonnenlicht. Das Gold dieser Riesen ist 'verflucht'. Der Protagonist weiß auch warum: Wenn Kohlenstoff in Silikon umgewandelt wird, ergeben sich zwingend radioaktive Isotope. Hier wird nicht die Verwandlung, sondern der 'Fluch' rationalisiert. Radioaktiv verstrahltes Gold ist durchaus in der Realität möglich, daher ist dieser 'Fluch' kein SF/F Hybrid, sondern bloß rationalisierte Fantasy.

 

Das zweite Kriterium, die verunsichernde Wirkung, ist nun deutlich schwieriger zu fassen: Die Geschichten insgesamt, vor allem aber die phantastischen Elemente sollen den Leser befremden – im Gegensatz zu den vielen phantastischen Geschichten, die nur die Erwartungen des Lesers erfüllen. In denen findet sich nichts wesentlich Neues. Ein herablassender, feingeistiger Elf und ein aufbrausender, derber Zwerg und Jungfrauen verspeisende Drachen? Die gibt es stapelweise, sie werden den Leser in keinem Fall mehr Überraschen oder gar zum Staunen bringen. Dabei ist es durchaus möglich Elfen, Zwerge und Drachen noch einmal so zu verwenden, dass der Leser sich erst an diese Wesen gewöhnen muss; Swanwicks "Tochter des stählernen Drachen" ist da ein hervorragendes Beispiel. Sicher, die grundlegende Charakterisierung stimmt, aber dennoch sind sie so ganz anders als man erwartet. Häufig manifestiert sich dieses Befremden in den grotesken transhumanen Figuren, wie den Remades Miévilles: Menschen, die neu gestaltet werden, sei es um einer Funktion besser nachkommen zu können – etwa um große Gewichte besser greifen zu können werden ihnen grobe Greifklauen installiert – oder um Kriminelle zu strafen – einer Kindsmörderin werden die Arme des getöteten Kindes an der Stirn befestigt, auf dass sie sich stets erinnere. Lucius Shepard enthüllt in der Seelenschau durch den Protagonisten in "Grüne Augen" wie es um einige Figuren bestellt ist: Ihre Seelen tragen wabernde, verzerrte Tier- oder Dämonenmasken.

Es scheint, als erreiche man Befremden leicht durch das Kombinieren von Elementen aus verschiedenen Genres – daher sind die befremdenden phantastischen Elemente wohl besonders häufig in der Weird Fiction zu finden.

Das ist natürlich kein ausschließliches Kriterium der Weird Fiction: Mervyn Peakes "Titus Groan" enthält ebenfalls viele befremdliche Elemente mit den grotesken Figuren und bizarren Setting, ist aber vielleicht am besten als ungewöhnliche Dystopie zu begreifen.

Doch ob das Novum auch befremdet, ist immer vom Leser abhängig; was den einen Leser noch lange beschäftigt, wird der andere Leser nur überfliegen.

Das erste und das zweite Kriterium machen Weird Fiction aus; was fehlt noch zum NW?

 

Weiteres grundlegendes Kriterium ist die moralische und/oder politische Komplexität der Geschichte. Hier unterscheiden sich viele der neueren von den meisten älteren Geschichten. Im zentralen Werk der epischen Fantasy, Tolkiens "Herr der Ringe", ist die Sachlage weitgehend klar: Die Protagonisten sind edle Helden, die für die gerechte Sache streiten und die Antagonisten sind schlimme Schurken, die unendliches Leid über die Welt bringen wollen. Ambivalenz wird bisweilen zwar angedeutet, wie mit den letzten Mitgliedern des Hauses von Húrin, Denethor, Boromir und Faramir, doch deren Verhalten dient hauptsächlich der Illustration der rigorosen moralischen Klarheit: Denethor und Boromir entscheiden sich gegen das Gute und damit falsch, was ihr Untergang ist; Faramir entscheidet sich für das Gute, was mit dem Überleben und einer schönen Frau belohnt wird. Tolkiens Epigonen vereinfachen dieses dann häufig noch weiter, indem sie die Versuchung faktisch entfernen.

 

Diese Komplexitäten lassen sich in MacLeods "Aether" verfolgen. Während der ersten Ausschreitungen der Revolutionäre geht es blutig zu: Die herrschenden Gilden lassen die Soldaten den Mob mit Gewalt auflösen und dieser lässt seinen Frust an passenden Opfern aus, die durchaus positiv zur Revolution und Befreiung der Massen stehen können, wie die reichen Salonrevolutionäre. Auch wird moralisches Verhalten nicht immer belohnt und unmoralisches bestraft; in Miévilles "Perdido Street Station" machen die Protagonisten Fehler und das Bemühen um Korrektur wird vom Autor nicht mit einem Happy End belohnt. Dennoch soll auch nicht übergebühr grausam mit den Figuren verfahren werden – es endet auch nicht mit einer totalen Katastrophe. Die Antagonisten dagegen müssen zwar Federn lassen, aber nicht untergehen. Zur moralischen Komplexität gehört nicht nur, dass die Figuren plausibel handeln und es z.B. keinen Evil Overlord gibt, der die Welt vernichten will, weil er BöseTM ist, sondern es gehört dazu, dass die Protagonisten wie auch Antagonisten sympathische und unsympathische Eigenschaften haben und dieses sich in ihren Handlungen bemerkbar macht. Der Meister-Bauer Falke aus Mary Gentles "Herr der Ratten" hat das durchaus sympathische Ziel die Menschen aus der Versklavung durch die göttlich-dämonischen Dekane und deren Diener zu befreien, ist bei der Umsetzung aber fanatisch Intolerant und hält alles, was seinem Ziel nicht dient, für entbehrlich – er ist bereit über die Leichen Unschuldiger zu gehen.

 

Zu diesem Komplex gehört auch, dass die Mitglieder einer 'Rasse' nicht stereotyp dargestellt werden. Alle Orks sind brutal und foltern gerne. Alle Zwerge lieben Gold, besaufen sich ständig, sind stur, aber fair. Dieses sind den meisten Fantasy-Lesern wohl bekannte Schablonen. Hier geht es nicht darum, dass es Ausnahmen gibt – den einzelnen Dunkelelfen, der für die gute Sache streiten will – sondern dass unterschiedliche Völker womöglich unterschiedliche Moralvorstellungen haben und es so viele Spannungen durch Vorurteile, aber auch nur eine kleine Elite gibt, welche die moralischen Ansprüche radikal einfordert, eine große Menge, die pragmatisch damit umgeht, und eine kleine Menge, die sich radikal dagegen stemmt. Wer ambitioniert ist, macht es noch komplizierter. So muss der Leser erst eine Figur kennen lernen, bevor er weiß, wie sie einzuschätzen ist.

Dieses Kriterium ist natürlich weder auf die Weird Fiction beschränkt, noch ist es ein notwendiges Kriterium dafür. Aktuelle Fantasy, wie George R. R. Martins "Das Lied von Eis und Feuer" Reihe oder auch J. K. Rowlings Reihe um Harry Potter sind hierum bemüht; die Figur des Severus Snape zeigt dieses deutlich. Ob es dann auch gelingt, hängt nicht zuletzt vom Weltbild und Talent des Autors ab. Ältere Weird Fiction, wie Harrisons "Viriconium" Reihe oder Vances Geschichten um die "Sterbende Erde" sind eher amoralisch als moralisch komplex.

 

Miéville äußerte sich ablehnend gegenüber den postmodernen Erzähltechniken, während VanderMeer sich positiv dazu stellt. Die Unterschiede zwischen einer klar modern und einer klar postmodern erzählten Geschichte sind offenkundig. Miéville befürchtet, dass die postmodernen Techniken den Leser von der Geschichte entfremden – zu befürchten wäre, dass die Wunder weniger wirken und die Figuren weniger Identifikationsmöglichkeiten bieten. VanderMeer befürchtet dieses keineswegs. Sieht man von VanderMeer ab, gibt es allerdings auch keinen Autoren, dessen Werke deutlich postmodern sind und im Zusammenhang mit dem NW gebracht werden. Da es nach meinem Dafürhalten zumindest bei VanderMeers "Stadt der Heiligen und Verrückten" an SF/F Hybriden fehlt, halte ich dieses Werk nicht für einen NW Text (was niemanden davon abhalten sollte es zu lesen) und die Diskussion ob NW postmodern sein kann zurzeit für uninteressant.

 

Der Verweis darauf nicht didaktisch zu sein, scheint mir nicht spezifisch für das NW, sondern allgemein für die gegenwärtige künstlerisch ambitionierte fiktionale Literatur gültig zu sein; sie soll unterhalten, von ästhetischen Wert sein und nicht erziehen. Umgekehrt reicht bloßes Unterhalten aber nicht aus. Sie soll zum Nachdenken anregen und es weder abnehmen noch davon ablenken.

Die Annahme, dass NW Werke säkularisierend wirken würden, scheint mir dagegen wenig hilfreich zu sein; dass MacLeods "Aether" oder Cockaynes "Die magische Münze" diese Wirkung hätten, halte ich doch für sehr fragwürdig. Außerdem besteht die Gefahr, dass ein solches Kriterium zu stark einschränkt, nimmt man nur die deutlich säkular wirkenden Werke hinzu. Ich meine daher, dieses sollte kein Kriterium sein.

Damit bliebe es dann bei den ersten drei Kriterien.

 

Damit bleiben aber noch einige Fragen offen: Wie viele SF/F Hybriden müssen im Text vorkommen? Reicht eines in 800 Seiten? Wenn es ganz am Ende vorkommt und beiläufig ist? Reicht es, wenn die Form der Hybriden aus dem Motivkreis des Übernatürlichen kommt, dann aber mit SF-Elementen gefüllt wird? Wie ist es umgekehrt? Es stellt sich drängend die Frage, ob Reynolds "Unendlichkeit" und Robsons "Die Verschmelzung" nicht eher zur New Space Opera gehören – oder ist die New Space Opera eine Teilmenge des NW? Wie sehr muss die moralische Komplexität thematisiert werden? Muss ein Text Politik schwerpunkmäßig behandeln um zur NW zu gehören? Man sieht, es besteht noch viel Diskussionsbedarf.

Ich glaube allerdings, dass wenn man sich daran hält, dass NW Texte beinhaltet, die befremdende SF/F Hybriden enthält und eine zu einem gewissen Maß moralisch/politisch-komplexe Geschichte erzählt, man keineswegs eine zu große Gruppe erhält. Schraubt man die diesbezüglichen Anforderungen nun nicht zu hoch, so wird man auch keine zu kleine, sondern eine ganz annehmliche Menge erhalten.

 

Schaut man sich nun die Geschichten, die häufig mit dem NW verbunden werden, jenseits der Kriterien-Frage an, so stellt man fest, dass zwei Settings häufig auftauchen: Neigt die Geschichte mehr der Fantasy zu, so ist es zumeist eine Urban Fantasy, neigt sie der SF zu, so ist es zumeist eine Space Opera. In beiden Fällen jedoch werden Merkmale moderner Gesellschaften rezipiert, die allerdings sehr unterschiedlich ausfallen können. In di Filippos "Ein Jahr in der linearen Stadt" erinnert der Umgang mit Drogen sehr an die 80er des 20. Jh., bei Cockaynes "Die magische Münze" ist es die rasante Modernisierung des Settings, die an den technischen Fortschritt der Gegenwart denken lässt und in Reynolds "Unendlichkeit" wird die Frage reflektiert, wie viele 'Kolateralschäden' beim Tyrannenmord akzeptabel sind, was wiederum die frühen gezielten Schläge des Irak-Kriegs 2003ff. in Erinnerung ruft, bei denen die US-Luftwaffe dann doch nur Zivilisten tötete.

 

Sehr häufig werden Motive des Transhumanismus verwendet, gerade bei den zur SF neigenden Geschichten. Hier geht es vor allem um die Grenzen des Menschen – wie viel Technik lässt sich mit dem Körper verbinden, damit man noch von einem Menschen sprechen kann. Wie wirkt sich das Lösen vom menschlichen Körper auf dessen Geist aus? Diese und weitere Fragen werden verhandelt, bei Miévilles "Perdido Street Station" mit den Remades, bei Harrisons "Licht" mit der K-Kapitänin Maú und sehr zentral mit den Abgestimmten bei Robsons "Die Verschmelzung", aber auch bei Swanwicks "Die Tochter des stählernen Drachen" mit der Jane-7332 Verbindung oder bei Cockayne mit dem Schicksal Rustys, welches das Werwolf-Motiv in ungewohnter Weise behandelt.

 

Subgenre – Moment – Strömung?

Was ist nun zur Form des Phänomens NW zu sagen? Viele behaupten, es sei eine Bewegung um dann ihr scheitern zu verkünden. Dass niemand der relevanten Akteure für eine NW-Bewegung eingetreten ist, habe ich versucht im ersten Teil zu zeigen; man kann diese Form wohl guten Gewissens ad acta legen.

Dann wird häufig noch ein neues Subgenre verkündet – neben dem (Old) Weird gibt es dann das "New Weird". Bildet man aber diese Textgruppe mittels der drei in 2.2 erläuterten Kriterien, so stellt man fest, dass "Old" und "New" sehr eng miteinander verwandt sind – sie unterscheiden sich vor allem in der Darstellung moralischer Fragen und es scheint, als ob die beiden Gruppen im Großen und Ganzen sich hierin nur wenig vom historischen Kontext abheben – sie sind in dieser Frage beide Kinder ihrer Zeit. Ob sich hier ein weiteres Subgenre gewinnbringend einrichten lässt, wage ich ernsthaft zu bezweifeln.

 

Miéville nun spricht vom NW als "Moment" – quasi einem Schnappschuss, der einen Augenblick der Literaturgeschichte dokumentiert und versucht die Stärken damit herauszuheben. Hier stellt sich die Frage, wie lange ein Moment wohl dauern mag?

Ich glaube, dass man es besser als eine Strömung begreift: Aus vielleicht gesellschaftlichen Einflüssen heraus gibt es grade eine Reihe von Autoren, die ein Interesse daran haben, befremdende phantastische Geschichten zu schreiben und dieses lässt sich mit Genrehybriden leichter erreichen als mit 'reinen' Genregeschichten. Verknüpfen sie SF und Fantasy, so schreiben sie Weird Fiction. Ebenso beschäftigt viele ambitionierte Autoren die Komplexität der (post-)modernen Welt. Verknüpfen sie nun beides, so schreiben sie NW. Die Strömung NW ist eher eine Mentalität als eine Ideologie – es ist ein Zusammenspiel verschiedener historisch gebundener Interessen ohne Autorenübergreifende Absichtserklärung. So wird auch verständlich, warum es eine Reihe von Autoren gibt, die nicht mit NW in Verbindung gebracht werden wollen, aber Geschichten schreiben, die einen beinahe dazu nötigen, sie so einzuordnen.

Die Strömung wird eine gewisse Zeit anhalten und wird irgendwann wieder vergehen – während Weird Fiction wahrscheinlich weiter geschrieben wird.

 

Der Begriff »New Weird« noch einmal

Bleibt die Frage, ob die Bezeichnung NW die Textgruppe treffend beschreibt. »Weird« ist sicherlich völlig treffend; es ordnet die Gruppe gleich dem richtigen Umfeld zu. »New« dagegen ist immer ein wenig problematisch – was heute neu ist, wird morgen alt sein. Wie soll die auf NW folgende Strömung genannt werden? »Even-Newer-Weird«? Oder soll das NW umbenannt werden? »Ancient Weird« – »Medieval Weird« – »New Weird« – das scheinen alles keine Lösungen zu sein, selbst wenn der SF-Kritiker Michael Cisco ganz richtig feststellt, dass es Werke solcher Art schon lange gibt, aber dass sie jetzt eine besondere Wahrnehmung erfahren, dass ihnen mehr Interesse entgegengebracht wird, sie gefragter sind – und daher auch häufiger verlegt werden. Und auch dann, wenn mit dem »New« an die New Wave angeknüpft werden soll und Harrison zu beiden Phänomen zugehörige Werke verfasste.

Dann wiederum habe ich auch keinen passenden Gegenvorschlag zur Hand: Moral-complex Weird ist keine Alternative. Darum wird es – zumindest von meiner Seite aus – erstmal beim Begriff »New Weird« bleiben.

 

Fazit & Ausblick

Wie nun enden? Mit dem abgewandelten Brecht Zitat: "Und so sehen wir betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen," von Marcel Reich-Ranicki? Ich meine, auch wenn zentrale Fragen offen geblieben sind und Vieles nur angerissen wurden, so wurden doch wichtige Punkte festgehalten.

Michael Swanwick geht über Ciscos Feststellung hinaus und weißt in einem Interview darauf hin, dass es viele Texte gibt, die sich nicht den herkömmlichen Genres zuordnen lassen und eine ganze Reihe von Versuchen dieses Phänomen zu erfassen – und z. T. auch zu befördern. Er nennt als Beispiele neben NW und der New Space Opera, noch die "Interstinal Arts", "Slipstream", "New Fabulists" und nickt kurz der "New Wave" SF zu – alles sind Facetten eines viel größeren Phänomens. Essayist Samit Basu macht zusätzlich auf die größer werdende Akzeptanz des Wunders in der 'Hochliteratur', sei es im Magischen Realismus, bei Umberto Eco, Haruki Murakami, Salman Rushdi oder Margaret Atwood, aufmerksam.

Ich will mich dem anschließen: NW ist mit vielen Problemen behaftet und meines Erachtens nach am besten als gegenwärtige Strömung innerhalb der Weird Fiction zu verstehen, doch es ist auch ein Schritt in die Richtung das Bedürfnis nach echten Wundern, die zum Staunen anregen, mit der Komplexität der (post-)modernen Gesellschaft zu verknüpfen wahrzunehmen und zu befördern. Als Symptom und erste Artikulierung dieses Phänomens schätze ich den Begriff und die zugehörigen Werke; ich hoffe, dass nicht nur Steph Swainstons "The Year of our War" und K.J. Bishops "The Etched City", sondern auch Liz Williams "The Poison Master" ins Deutsche übersetzt werden.

 

Zur kommentierten Leseliste

 

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Erstellt: 31.10.2006, zuletzt aktualisiert: 16.10.2023 21:13, 2980