von Marcus Johanus
Bemerkungen zu 20 Jahren Call of Cthulhu mit speziellem Blick auf das neue Regelwerk aus dem Hause Wizards of the Coast
_Seit über 20 Jahren schlummert Call of Cthulhu auf dem metaphorischen Meeresboden der Rollenspielszene, was beweist: "Das ist nicht tot, was ewig liegt ..., bis Wizard of the Coast es dem ewigen Schlummer entreißt."
Vor einem Vierteljahrhundert war Call of Cthulhu ein mutiges und fortschrittliches Spiel. Chaosium verstieß gegen die damaligen, ungeschriebenen Gesetze des Rollenspiels, was dem Außenseiterverlag den Verdienst einbrachte, das Kult-Spiel für die nächsten 15 Jahre geschaffen zu haben. Jeder Rollenspieler kennt Call of Cthulhu, nennt es in Ehrfurcht - nur gespielt wird es kaum.
Mit der Zeit ist Call of Cthulhu in Ehren ergraut. Tatsächlich hat es die Rollenspielszene revolutioniert. Storytelling-Rollenspiele, wie sie White Wolf publiziert, GURPS und unzählige kleine Spiele wie Feng Shui, Over the Edge und Unknown Armies wären ohne Call of Cthulhu kaum denkbar. Während sich in der Gründerzeit Ende de 70er und Anfang der 80er die meisten neuen Rollenspiele nach dem D&D-Mainstream ausrichteten und stufenbasierte Regelgiganten von undurchschaubarer Komplexität wurden, ging Chaosium mit Call of Cthulhu genau den umgekehrten weg. Während andere Rollenspiele mit Quellenbüchern, Regionalbeschreibungen und Kampagnenwelten unterstützt wurden, produzierte Chaosium für sein Horror-Rollenspiel hauptsächlich Abenteuer. Während die einen mit eilig zusammen geschusterten Texten den schnellen Dollar verdienen wollten, setzte Chaosium auf gut recherchierte und logische Inhalte.
Leider haben sich Qualitätsansprüche und Kultstatus von Call of Cthulhu für Chaosium nie wirklich in barer Münze niedergeschlagen, sodass das Spiel beinahe seit seinem Erscheinen vom Aussterben bedroht ist. Und das hat seinen Grund: Während andere Verlage, wie White Wolf, die Ideen und Spielkonzepte von Call of Cthulhu aufgriffen und Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre mit frischen Konzepten zeitgemäß aufpeppten, produzierte Chaosium weiter auf dem Niveau der 80er Jahre - und geriet ins Hintertreffen.
Wizard of the Coast haben mit der dritten Edition des Rollenspielfossils Dungeons & Dragons bewiesen, dass auch Klassiker ins neue Jahrtausend passen, wenn man mit der Zeit geht und eine Symbiose aus Bewährtem und Neuem anstrebt. Nach D&D haben die kreativen Köpfe der Wizards und die Elite der Call of Cthulhu-Autoren auch den angestaubten Klassiker von Chaosium aufpoliert und ein Meisterwerk produziert. Dank der D20-Version ist Call of Cthulhu ein Spiel fürs neue Jahrtausend geworden und hat trotzdem seinen alten Charme behalten.
Fans des originalen Regelwerks von Call of Cthulhu werden kaum einen Grund haben, ihr liebgewonnenes System gegen die D20-Regeln einzutauschen - aber das ist auch gar nicht nötig. Tatsächlich sind alle Sorgen, Call of Cthulhu würde seinen Charakter mit dem D20-System grundlegend wandeln oder gar verlieren und zu einem Hack & Slay-Rollenspiel wie AD&D werden, vollkommen unbegründet. Das Gegenteil ist der Fall: Die D20-Regeln wurden an das D100-System und die Atmosphäre von Call of Cthulhu angepasst. Ein gutes Zeichen für die Flexibilität und Qualität des D20-Sytems.
Wichtigste und drastischste Änderung von Call of Cthulhu D20 im Vergleich zu Cthulhu d100 ist das Einführen eines Stufensystems. Die Erfahrung der Charaktere wird demnach in Stufen gemessen. Beim Erlangen einer neuen Stufe steigen auch seine Fertigkeiten, Trefferpunkte, Angriffs- und Verteidigungswerte usw. Im Gegensatz zum Erfahrungssystem von traditionellen Cthulhu geschehen Steigerungen nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft, beim Erreichen neuer Stufen. Das mag für eingefleischte Cthulhu-Fans ein Manko sein. Andererseits werden durch das Stufensystem Charaktere untereinander vergleichbarer. Auch Begegnungen mit Kultisten oder Monstern können ausgewogener gestaltet werden.
Auf die Klassen im Stil von D&D - normalerweise ein grundlegender Bestandteil des D20-Systems - wurde verzichtet. Statt dessen gibt es bei Call of Cthulhu D20 nur noch "Professions", die man aus Chaosiums Regelbüchern als "Berufe" bereits kennt: z. B. Privatdetektive, Reporter, Archäologen ... Zu jeder "Profession" gehören zwölf Fertigkeiten, die den "Class-Skills" von D&D entsprechen. Das Konzept der "Professions" ist wesentlich flexibler als das Klassensystem von D&D. Es wird Spielern viel leichter gemacht, eigene "Professions" zu entwickeln oder bestehende zu verändern, weil die enge Verzahnung mit anderen Regeln fehlt. Somit wird das D20-System ohne Klassen stark vereinfacht, was dem Stil von Call of Cthulhu entspricht. Gleichzeitig entfällt aber auch die Möglichkeit, eine einmal gewählte "Profession" im Laufe der Karriere des Charakters zu variieren. Die von D&D her bekannte und beliebte Möglichkeit, Klassen zu kombinieren, um so dem Charakter Individualität zu verleihen, entfällt bei Cthulhu D20.
Ansonsten kann man sich noch entscheiden, ob man eher einen defensiven oder einen offensiven Charakter spielen will. Der Unterschied liegt in den Rettungswürfen und dem Attackebonus eines Charakters, wichtige Eigenschaften im D20-System. Rettungswürfe schützen den Charakter beispielsweise vor magischen, psionischen und physischen Attacken. Der Attackebonus ist der wichtigste Bonus für jeden möglichen Angriff, den ein Charakter durchführen will. Strebt man einen friedfertigeren Charakter an, bekommt man mehr Punkte für die Rettungswürfe, will man lieber kämpferische Charaktere spielen, steigt der Attacke-Bonus schneller. Alle Charaktere beginnen das Spiel mit 6 Trefferpunkten und erhalten pro Stufe 1W6 zusätzliche.
Vollkommen neu sind für Cthulhu-Spieler die Talente. Talente stellen jenseits von Fertigkeiten und Attributen besondere Eigenschaften eines Charakters dar. Mit ihnen gewinnt der Charakter Erfahrungen im Umgang mit bestimmten Waffen, kann PSI-Kräfte erlangen oder herausragende Fähigkeiten im Kampf gewinnen. Bei der Charaktererschaffung darf man sich vollkommen frei für zwei Talente entscheiden. Alle drei Stufen erhält der Charakter ein neues Talent nach Wahl.
Die meisten Fertigkeiten und Talente von Call of Cthulhu D20 kennen D&D-Spieler bereits. Neu werden natürlich für Call of Cthulhu typische Eigenschaften eingeführt und solche, die zu einer modernen, technisierten Kampagne passen. Herausragend sind die PSI-Talente, sodass Call of Cthulhu D20 seinen Spielern im Gegensatz zum Original auch die Möglichkeit lässt, übermenschliche Charaktere zu spielen. Dies weicht vom Realismus des Originals ab, ist aber ein Zugeständnis an den Geschmack der Zeit. Spieler, denen diese Option nicht gefällt, können sie problemlos ignorieren. Und selbst wenn sie benutzt wird, haben Psioniker nicht viel zu lachen, denn sie müssen den Einsatz ihrer Fähigkeiten mit geistiger Stabilität bezahlen, sodass sich die Anwendung übermenschlicher Fähigkeiten auf jeden Fall in Grenzen halten wird.
Die Regeln für die geistige Stabilität wurden fast originalgetreu übernommen. Sie passen gut ins D20-System und relativieren den Machtzuwachs, den die Spielercharaktere durch das Stufensystem im Vergleich zum traditionellen Call of Cthulhu aufweisen. Denn immerhin wird man in der Wizards-Version genauso schnell durch Mythos-Begegnungen und grausige Ereignisse wahnsinnig, wie in der Chaosium-Version. Und da Call of Cthulhu-Charaktere sowieso meistens aus dem Spiel ausscheiden müssen, weil sie wahnsinnig werden, hat das Spiel so seinen Charaktere trotz des Stufensystems gut gewahrt.
Kampf ist in Call of Cthulhu D20 ein wesentlich detaillierter ausgeführtes Thema als im d100-System. Das D&D-Kampfsystem wurde beinahe 1:1 übernommen, mit der Ausnahme, dass die Regeln für moderne Fernkampfwaffen aus dem Star Wars-Rollenspiel eingeführt wurden und die "Attacks of Opportunity" nur noch optional sind. Damit besitzt Call of Cthulhu endlich ein ausgewogenes und detailliertes Kampfsystem, das viel Action im Spiel erlaubt und auch komplexere Kampfsituationen darstellen kann - allerdings nur für fortgeschrittene Charaktere. Schießereien sind nach wie vor für Charaktere in den unteren Stufen extrem tödlich. Erst ab Stufe vier haben Spielercharaktere eine Chance, länger als die ersten Kampfrunden durchzustehen. Bedenkt man die Stabilitäts-Regeln, wird es jedoch eher unwahrscheinlich, dass Spielercharaktere die vierte Stufe je erreichen werden. Wenn sie es schaffen, rücken sie schon in den Status von Mythos-Veteranen auf. Durch Regelvarianten können allerdings Charaktere auch widerstandsfähiger in den Kampf geschickt werden, sodass die Spielrunde selbst beschließen kann, wie realistisch oder wie cinematisch sie ihre Action-Szenen gestalten möchte.
Besonders auf die detaillierte Darstellung von modernen Fernkampfwaffen und entsprechender Ausrüstung wurde viel Wert gelegt, sodass Waffenfetischisten voll auf ihre Kosten kommen - ebenfalls ein Zugeständnis an den Zeitgeist. Spieler, die es lieber ein bisschen einfacher haben, werden aber nicht vernachlässigt. Es gibt auch eine stark vereinfachte Waffentabelle, sodass man sich den Grad an Komplexität der Kampfsimulation aussuchen kann - besser als im Chaosium-Regelwerk, das ebenfalls eine sehr detaillierte Waffen-Sektion besitzt und keine einfacheren Varianten zulässt.
Vollkommen neu ist die sehr gelungene Regelvariante für verzweifelte Situationen. In ausweglosen Momenten, in denen die Charaktere umkommen würden, weil ihnen eine bestimmte Fertigkeit fehlt, dürfen sie ersatzweise trotzdem einen Check der Fertigkeit machen und erhalten dafür den Bonus des dazugehörigen Attributes. Eine sinnvolle Regel, die das Spielgeschehen retten kann und Cthulhu eine heroische Atmosphäre verleiht. Vor allem tilgt diese optionale Regel das altbekannte Call of Cthulhu-Problem, das in entscheidenden Situationen Charaktere an ihrer Grundwahrscheinlichkeit von 05% in einer Fertigkeit sterben können.
Fast 120 Seiten in Call of Cthulhu D20 setzen sich mit dem Mythos, dem Leiten von Cthulhu-Spielrunden und -Kampagnen und dem Verfassen von Abenteuern auseinander. Dieser Teil des Regelbuches gehört nicht nur zum besten, was je über Call of Cthulhu geschrieben wurde, sondern bilden auch den derzeitigen Höhepunkt aller Veröffentlichungen zu diesem Thema. Nirgends sonst wird so gut strukturiert, klar formuliert und kompetent auf die Sorgen und Nöte von Spielleitern eingegangen und ein so großer Ideen- und Methodenreichtum aufgezeigt.
Diese Kapitel stellen einerseits den Mythos in einen neuen Kontext. Die klassische Epoche der 20er wird aufgegeben. Call of Cthulhu D20 steht für eine Einarbeitung des Mythos in jede erdenkliche Epoche. Der Mythos wird auch nicht als Lovecrafts kanonisches Werk aufgefasst, sondern als eine bunte Sammlung an Plotelementen, die Spielleitern frei zur Verfügung stehen, um interessante Abenteuer und Kampagnen zu schmieden. Der Mythos wird darüber hinaus noch ein wenig neu interpretiert, in einen größeren Zusammenhang gestellt und psychologisch durchleuchtet, was ihm eine neue Form verleiht. Endlich wird ein Einblick in die Gedankenwelt von Kultisten gewährt, sodass es Spielleitern leichter fällt, sie als plausible Gegner auftreten zu lassen.
Auch ganz konkrete Schwierigkeiten beim Leiten von Cthulhu-Spielrunden werden angesprochen. So zum Beispiel der Aufhänger für das Zusammentreffen von Abenteurern - einer der bisher größten Schwachpunkte des Spiels. Hier werden Spielleitern viele Konzepte für Gruppen von Spielercharakteren an die Hand gegeben, die sie praktisch umsetzen können, um dem Spiel so mehr Plausibilität zu verleihen. Aber auch praktische Tipps zu den Themen Atmosphäre und Horror im Rollenspiel gehören zu den absoluten Stärken von Call of Cthulhu D20 und schlagen die Originalausgabe um Längen.
Trotz aller Vorteile gegenüber anderen Editionen besitzt Call of Cthulhu D20 einige Schwächen, die nicht nachvollziehbar sind. So ist beispielsweise nicht einzusehen, warum die für Call of Cthulhu so charakteristischen Eigenschaften Glück, Wissen und Bildung einfach weggelassen wurden. Man hätte sie problemlos als Option ins System integrieren und so das besondere Flair von Call of Cthulhu wahren können.
Merkwürdig ist auch die Beibehaltung der "Armor Class", obwohl in anderen modernen D20-Rollenspielen auf den wesentlich treffenderen Begriff "Defense" ausgewichen ist. Immerhin wird man bei Call of Cthulhu selten mit einer Rüstung kämpfen. Außerdem ist es bedauerlich, dass man nicht das Trefferpunkte-System zugunsten des "Vitality/Wound"-Systems aufgegeben hat, das bereits in Star Wars D20 und dem Agenten-Rollenspiel Spycraft verwendet wird. Es hätte auch gut zu actionorientierteren Call of Cthulhu-Varianten gepasst und hätte deswegen wenigstens als Option aufgeführt werden können.
Es ist auch unverständlich, warum man nicht die Gelegenheit genutzt hat, um endlich einmal das gesamte Quellenmaterial des "Keeper's Compendium", "Investigator's Compendium" und "Creature Compendium" in ein Regelwerk zu packen. Viele Kreaturen und Hintergrundinformationen fehlen, was sehr bedauerlich ist. Sicherlich wäre dadurch ein wesentlich dickeres und teureres Buch herausgekommen, aber auch ein wesentlich wertvolleres - auch für alteingesessene Call of Cthulhu-Fans. Schmerzlich muss man auch auf eine Zusammenfassung der wichtigsten Tabellen und einen Index der Zaubersprüche und auf Kurzregeln verzichten - was Chaosium mit dem Call of Cthulhu D20-Spielleiterschirm nachholen wird. Für den saftigen Preis wäre es allerdings schön gewesen, wenigstens ein ausführliches Glossar mitzuliefern, wie es im D&D-Spielerset existiert.
Unterm Strich bleibt Call of Cthulhu D20 aber im Vergleich zum Original das modernere Rollenspiel, das besser den Zeitgeist einfängt und auch tiefer zum eigentlichen Kern des Cthulhu-Mythos vordringt und ihn prägnanter für das Rollenspiel erschließt. Die vielen Optionen, auf die im Text ständig hingewiesen werden, geben auch unerfahreneren Spielleitern die Möglichkeit, das Spiel an ihre ganz speziellen Vorstellungen anzupassen, sodass Call of Cthulhu D20 zur Zeit eines der flexibelsten Rollenspiele ist. Nebenbei beinhaltet das Buch noch den zur Zeit besten Leitfaden für das Entwickeln von Abenteuern auf dem Rollenspielmarkt weit und breit und wäre somit für jeden Rollenspieler eine sinnvolle Anschaffung - wenn es mit ca. 45 EUR nicht so verflixt teuer wäre.
Quelle: Pegasus Spiele
Weitere Artikel gibt es auf den Seiten vom Pegasus Spiele und Cthuloide Welten.
Bei diesen Angeboten liegt das Copyright bei Pegasus Spiele GmbH und wir danken der Redaktion vom Pegasus Spiele und Cthuloide Welten für die Genehmigung dieses Material hier im Rahmen unseres Cthulhu Spezials anbieten zu dürfen.
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