Das Orakel vom Berge (Autor: Philip K. Dick)
 
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Das Orakel vom Berge von Philip K. Dick

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Die Achsenmächte Deutschland und Japan haben den Zweiten Weltkrieg gewonnen. Während die Japaner den pazifischen Raum und weite Teile Asiens kontrollieren, beherrschen die Nazis von der Festung Europa aus Westasien und Afrika, zu dem jetzt auch das ausgetrocknete Mittelmeer gehört; nur wenige Staaten in diesen Gebieten sind noch unabhängig wie etwa das mit den Nazis verbündete Italien oder das neutrale Schweden. Nordamerika haben die Nazis und die Japaner aufgeteilt: Die Ostküste wird von den Nazis kontrolliert, die Westküste von den Japanern. Da die Nazis eine unmenschliche Politik betreiben und immer noch davon träumen die 'Untermenschen' vollständig zu ermorden – zu denen sie mehr oder minder offen auch die Asiaten zählen – und auf der anderen Seite der Tenno die Nazis für Böse hält, gibt es einige Spannungen zwischen den beiden Mächten. In dieser Welt müssen sich die Menschen zurecht finden: Der amerikanische Antiquitätenhändler Childan muss mit Japanern umgehen, deren Kultur er für überlegen hält, der jüdische Kunsthandwerker Frank Frink will sich bloß über Wasser halten – und vor allem an der Westküste bleiben, da ihm anderswo noch viel deutlicher die Auslieferung an die Nazis droht, seine Exfrau Juliana lernt den eigenwilligen italienischen Wachmann Joe Cinnadella kennen, Nobusuke Tagomi muss den schwedischen Unterhändler Baynes durchschauen und der deutsche Konsul Freiherr Hugo Reiss muss nach der Pfeife des bösartigen SD-Leiters tanzen – und alle befassen sich mit dem Roman "Die Plage der Heuschrecken", in dem die Achsenmächte den Alliierten unterlegen waren.

 

Sieht man von einer Abschlussszene ab, dann findet das Geschehen vollständig in Nordamerika statt. Hier wiederum sind von vier Handlungssträngen drei im San Francisko der Pazifischen Staaten von Amerika (PSA) und einer in den Rocky Mountain Staaten (RMS) nahe Denvers angesiedelt. Die PSA sind eng mit dem Japanischen Reich verbunden, die regierenden Pinocs sind nur eine Marionettenregierung, die RMS sind dagegen nur lose mit den Japanern assoziiert.

Das Leben in jener Zeit in den PSA erinnert ein bisschen an den Kalten Krieg in den Sechzigern: Die beiden Achsenmächte waren einst Verbündete, aber die Frage, ob man sich mit den Richtigen verbündet hatte, wird immer drängender – auf der selben Seite steht man schon lange nicht mehr. Abgesehen von der interplanetaren Kolonisationsbemühungen der Nazis und den Interkontinentalflügen, die weniger als eine Stunde dauern (und daher für Reisende sehr anstrengend sind), ist die Technik etwa auf dem Stand der Sechziger, spielt aber insgesamt eine sehr nachrangige Rolle, denn die Japaner – die dominante Kultur der PSA – lieben Antiquitäten. Sie kaufen alle möglichen authentisch-amerikanischen Artefakte aus der Zeit vor dem Krieg: Mickey-Maus-Uhren, Bürgerkriegsrevolver, Flaschendeckel. Da die Nachfrage deutlich größer ist als das Angebot und die japanischen Sammler über kein diesbezügliches Expertenwissen verfügen, hat sich eine rege Fälschungsindustrie entwickelt. Dieses ist Ausdruck eines tiefer gehenden Problems: Zwar lieben die eigentlichen Herren das 'authentisch' Amerikanische, aber gleichzeitig achten sie es nicht im eigentlichen Sinne. Sie herrschen über die Amerikaner, sie verleiben sich die Westküste ihrem Reich ein, sie verleiben amerikanische 'Antiquitäten' ihren Sammlungen ein, ihre Kultur bestimmt, was an der amerikanischen Kultur bewahrenswert ist – Flaschendeckel gehören dazu. Und die Amerikaner geben ihre kulturelle Identität auf und übernehmen nolens volens die japanische Sicht. Dieser Aspekt ist für US-Amerikaner besonders treffend: Sie sind die politisch und kulturell Unterworfenen einer nachhaltigen Kolonisation. Trotz dieser Unterwerfung sind die Japaner immer noch die besseren Herren, denn sie bringen beidem ein gewisses Interesse entgegen, auch wenn sie meistens nicht außerhalb eines japanischen Bezugrahmens gesehen werden; einige progressive und liberale Japaner interessieren sich allerdings wirklich für das Amerikanische an sich.

Die Nazis können zwar große, erhabene Projekte auf die Beine stellen – dazu gehört die Trockenlegung und Urbarmachung des Mittelmeers oder die Raumfahrt zu Mars oder Venus – haben aber stets finanzielle Probleme und können nur durch die Ausbeutung von 'Untermenschen' bestehen – Juden, Homosexuelle und andere werden immer noch gejagt und ermordet, wenn sie nicht bei den zuvor genannten Projekten verheizt werden. Ein weiteres Problem ist der Machthunger und die daraus resultierenden politischen Intrigen, bei denen Morde an und Hinrichtungen von Konkurrenten üblich sind. Die Nazi-Kultur ist in den Tod verliebt.

Trotz der detaillierten und konsequenten Entwicklung des Settings als Milieu ist es nur ein Vehikel: Im Kern geht es nicht darum, wie eine Alternative Welt aussehen könnte, in der die Achsenmächte gewonnen haben, sondern darum, wie Menschen sich zum Faschismus und Kolonisation stellen und um die Zufälligkeit von Geschichte.

 

Diese Zufälligkeit ist ein wichtiger Teil des Plots, nämlich im spannungsreichen Verhältnis von Kontingenz und Schicksalhaftigkeit der Geschichte, die hier durch das I Ging, das Buch der Wandlungen, symbolisiert wird. Das I Ging ist ein chinesisches Orakelbuch, das bei anstehenden Entscheidungen befragt wird. Es gibt eine Andeutung auf zukünftige Entwicklungen, die sehr abstrakt gehalten sind – es ist dann an den Fragenden, die Antwort auszulegen. Die meisten Bürger der Japan zugewandten Staaten nutzen es ausgiebig – die Nazis nicht. Auf der anderen Seite steht die Kontingenz, die hier durch das fiktive Buch "Die Plage der Heuschrecken" verdeutlicht wird. Der Autor Abendsen beschreibt eine Welt, in der die Alliierten die Achsenmächte besiegt hatten – doch diese Welt ist nicht unsere Realität, denn der Kalte Krieg findet dort zwischen Großbritannien und den USA statt. Durch das Vergleichen dreier möglicher Geschichtsabläufe, bei denen verhältnismäßig kleine Ursachen große Wirkungen zeigen können (wiewohl das Geschichtsbild zu sehr auf Amerika und große Persönlichkeiten fixiert ist), wird die Zufälligkeit etabliert.

 

Am auffälligsten ist die Schicksalhaftigkeit bei den 'zufälligen' Verknüpfungen der Figuren. Um nur ein paar zu nennen: Da ist der rassistische Antiquitätenhändler Robert Childan, der Besuch von dem liberalen japanischen Paar Betty und Paul Katsoura erhält; einerseits fühlt er sich ihnen gegenüber minderwertig, andererseits verachtet er viele Details der japanischen Kultur, vor allem ihr unverständiges Aufnehmen fremder Kultur. Er erhält von den Kunsthandwerkern (und ehemaligen Fälschern) Ed McCarthy und Frank Frink moderne Schmuckstücke. Die beiden wollen sich einfach mit etwas Stolz über Wasser Halten, was besonders für den von Selbstzweifeln geplagten Juden Frank schwierig ist. Seine Exfrau Juliana lebt rastlos in den RMS nahe Denver. Einerseits leidet sie unter Bindungsängsten, andererseits mag sie nicht alleine sein, und so gabelt sie sich den seltsamen Italiener Joe Cinnadella auf; der hatte einst in Afrika gegen britische Kommandos gekämpft und scheint ein desillusionierter Faschist zu sein – welche Pläne verfolgt er? Schwer zu erkennen ist die Verstrickung vom deutschen Konsul in San Francisko, Freiherr Hugo Reiss, in diese Pläne. Der snobistische Deutsche muss für den plumpen SD-Leiter Bruno Kreuz vom Meere, den er verachtet, nach einem weiteren Deutschen suchen: Hauptmann Rudolf Wegener von der Reichsspionageabwehr der Marine. Der wiederum steht mit dem Nazi-kritischen Schweden Baynes in irgendeiner Verbindung. Der Handelsvertreter soll mit Mr. Nobusuke Tagomi, einem wichtigen Vertreter des japanischen Reichs, über Kunststoffe verhandeln. Dazu warten sie auf Mr. Yatabe; der alte Herr scheint ein wichtiger Ratgeber von den Heimatinseln zu sein. Im Laufe der Geschichte wird der Durchschnittsmensch Tagomi mit Ereignissen konfrontiert, die sein seelisches Gleichgewicht ins Wanken bringen. Die gemäß der japanischen Tradition zu machenden Geschenke kauft er übrigens beim Antiquitätenhändler Childan ein.

Die Figuren werden unterschiedlich weit ausgeführt, aber jede einzelne ist rund und vielschichtig; Mr. Tagomi ist sicherlich die am sorgfältigsten entwickelte Figur. Die Spannungsquellen sind entsprechend der Figuren sehr unterschiedlich: Während Mr. Tagomi, Hauptmann Wegener und Konsul Reiss in einen Agenten-Thriller mit düsterer Grundbedrohung und Action-Szenen verwickelt sind, muss Mr. Childan nur mit undurchschaubaren Japanern und einem Mangel an Selbstwertgefühl umgehen. Ob er wohl bei der Japanerin Betty landen kann? Eines aber haben alle Figuren gemein: In einem Punkt machen sie eine tief greifende Erfahrung, die ihr Leben für immer verändern wird. Diese Momente der klaren Erkenntnis sind unglaublich packend umgesetzt – fast ist man geneigt, sie bedingungslos für sich selbst zu übernehmen.

 

Erzähltechnisch ist der Roman gelungen, aber relativ unauffällig. Erzählt wird aus verschiedenen personalen Perspektiven (Childan, Frank Frink, Tagomi, Baynes, Juliana Frink und Reiss). Der Leser muss eine gewisse Vorsicht walten lassen und besonders die Gedankengänge nicht für bare Münze nehmen. Die Erzählstränge werden auf vier Handlungsstränge aufgeteilt. Generell ist der Handlungsaufbau progressiv, aber es gibt zahlreiche Rückblenden, die ihm stellenweise regressiv erscheinen lassen.

Der Stil ist den jeweiligen Figuren angepasst; so entspricht Mr. Tagomis Erzählduktus mit seinen abgehackten Kurzsätzen dem für japanische Vorgesetzte üblichen. Bisweilen greift er typische Redewendungen auf. So ist das.

 

Das Orakel vom Berge ist eine der einflussreichsten Alternativwelt-Geschichten. Auch wenn sich in Robert Harris' Vaterland, Len Deightons SS-GB oder Philip Roths Verschwörung gegen Amerika keine klaren Anspielungen auf Dicks Werk finden lassen, so wären sie doch ohne es in dieser Form nicht denkbar. Es hat nicht nur 1963 den Hugo-Award gewonnen, es wurde auch mit in die Reihe Modern Classics des Penguine-Verlages aufgenommen – der Verlag ist im englischsprachigen Raum etwa so anerkannt, wie im deutschsprachigen der Reclam-Verlag. Die-Nazis-haben-gewonnen-Szenarien müssen sich mit diesem Buch messen.

In den Siebzigern hatte Dick eine Fortsetzung begonnen, die allerdings nicht sehr weit gediehen war. Im Nachwort vom Kim Stanley Robinson wird sie nicht erwähnt, was aufgrund der Stärke und Rundheit des Orakels auch kein großer Verlust ist. Der US-Autor geht stattdessen in den dreizehn Seiten angemessen auf die Darstellung der Kontingenz der Geschichte und die Bedeutung der Themen besonders für die US-Amerikaner ein.

 

Fazit:

Eine handvoll von Menschen in den PSA und RMS, die einander z. T. nicht einmal kennen, werden auf schicksalhafte Weise mit einander verknüpft: Welche Rolle spielt dabei das von den Nazis verbotene Buch, in dem die Alliierten siegten? Dick hat mit Das Orakel vom Berge ein Meisterwerk geschaffen: Das Setting wirft interessante Fragen auf, die Figuren sind vielschichtig und der Plot kann verschiedene Spannungsquellen entfalten, deren Höhepunkt jeweils ein packender Moment klarer Erkenntnis ist. Darüber hinaus wirkte es stilbildend für die Alternativwelt-Geschichte. Wer sich nur im Entferntesten für den Stoff interessiert, verpasst etwas, wenn er diesen Roman auslässt.

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Titel: Das Orakel vom Berge

Reihe: -

Original: The Man in the High Castle (1962)

Autor: Philip K. Dick

Übersetzer: Norbert Stöbe

Verlag: Heyne (Oktober 2008)

Seiten: 349 Broschiert

Titelbild: Hauptmann und Kompanie, Werbeagentur

ISBN-13: 978-3-453-52272-5

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 04.11.2008, zuletzt aktualisiert: 10.04.2024 18:52, 7666