Der Geisterbaum (Autorin: Christina Henry)
 
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Der Geisterbaum von Christina Henry

Rezension von Matthias Hofmann

 

Unter dem Pseudonym Christina Henry schreibt die US-Amerikanerin Tina Raffaele Dark-Fantasy- und Horrorromane. Nach dem sie von 2010 bis 2014 stolze sieben Black-Wings-Romane geschrieben hat, eine Serie über die Erlebnisse der Todesagentin Madeline Black, die Seelen von Verstorbenen in ein Leben nach dem Tod begleitet, mit der Henry die Dark-Fantasy-Nische in den USA begeisterte, gelang ihr der weltweite Durchbruch mit dunklen Neuinterpretationen von Märchen und Kinderliteratur wie z. B. Die kleine Meerjungfrau, Rotkäppchen, Alice im Wunderland oder Peter Pan. Seit dem können ihre Bücher mit dem Spiegel-Bestseller-Etikett beklebt werden. Zuletzt war da Die Legende von Sleepy Hollow: Im Bann des kopflosen Reiters, eine Art Fortsetzung von Washington Irvings Klassiker aus dem Jahr 1820.

 

Jetzt ist bei Penhaligon mit Der Geisterbaum ein weiterer Roman von Christina Henry erschienen, der durch das gleiche Umschlagdesign und den bedruckten Beschnitt suggeriert, dass es sich ebenfalls um eine solche Neuinterpretation handele. Jedoch ist das Buch ein völlig eigenständiges Werk, wenngleich man von Washington Irving inspirierte Versatzstücke erkennen kann. »Der Geisterbaum« ist in den USA ein Jahr vor »Die Legende von Sleepy Hollow: Im Bann des kopflosen Reiters« erschienen, aber das Sujet scheint die Autorin so stark fasziniert zu haben, dass sie sich kurz darauf an diese Fortschreibung der Irving-Geschichte gemacht hat.

 

»Der Geisterbaum« spielt ebenfalls in Neuengland. Ort der Handlung ist die Kleinstadt Smiths Hollow, wo sich gar Ungeheuerliches im Jahr 1985 abspielt. Nicht nur das Jahr ist konkret aus unserer bekannten Welt, auch die ein oder andere popkulturelle Referenz. Meist handelt es sich um das Namedropping von Songs oder Musikinterpreten, die man aus den 1980er-Jahren kennt. So tauchen gar die längst vergessenen Siouxie and the Banshees auf einem T-Shirt auf. Und natürlich gibt es kein Internet und keine Handys, was für handlungs- und informationstechnische Hürden für die Protagonisten sorgt.

 

Der Klappentext sprich von einem »wahren Pageturner, der seine übernatürlichen und alltäglichen Schrecken scharfsinnig, böse und unerschrocken präsentiert«. Das ist ein bisschen übertrieben. Wie Texte auf Buchumschlagrückseiten so sind. Für mich war es leider kein Pageturner, kein fesselndes Buch, denn der Hype hat sich beim Lesen nicht bewahrheitet. Trotz klassischer Zutaten für eine fesselnde Geschichte, bleibt »Der Geisterbaum« merkwürdig unspannend.

 

Als Protagonistin haben wir das 14-jährige Mädchen Lauren. Sie lebt zusammen mit ihrer allein erziehenden Mutter namens Karen (Namensgebung des Grauens oder Wink mit dem Zaunpfahl?), die sie nicht ausstehen kann, und ihrem vierjährigen Bruder David, der paranormale Fähigkeiten zu entwickeln scheint, in ebendiesem Smiths Hollow. Ihr Vater, den sie über alles liebte, wurde vor einem Jahr rätselhaft ermordet. Und zwar nicht einfach erschossen oder so, sondern er ist im nahegelegenen Wald massakriert, mit herausgerissenem Herzen, unter dem Geisterbaum aufgefunden worden. Genau dem Baum, wo sich Lauren immer mit ihrer Freundin Miranda trifft. Warum sie sich dort treffen, wo doch die ganze Stadt einen Bogen um den finsteren Ort im Wald macht, bleibt unklar. Jedenfalls stehen auch mit Freundin Miranda die Zeichen auf Krieg, denn sie interessiert sich fast ausschließlich dafür, wie sie ältere Jungs für sich begeistern und herumkriegen kann.

 

Für Spannung soll nicht nur das Rätsel um den Tod von Laurens Vater, sondern auch eine mysteriöse Mordserie sorgen. Einmal im Jahr verschwindet ein junges Mädchen aus der Stadt und wenige Wochen danach erinnert sich niemand mehr an den Verlust. Weder die eigenen Eltern, noch die Polizei, noch die Zeitungen.

 

Nahezu jede Person des Romans ist ein Klischee in Reinform. Da ist die alte, weiße, rassistische Mrs. Schneider, in deren Garten zwei geköpfte Mädchen aufgefunden werden. Da ist der aus Mexiko eingewanderte Cop Alex Lopez, der noch neu in der Stadt ist, und der gegen die allgemeine Amnesie ankämpft und der rätselhaften Mordserie auf die Schliche kommt. Und da ist ferner dessen Chef Van Christie, der wie schon sein Vater Polizeichef ist und nicht nur die Familientraditionen fortführt. Ebenso wie der dubiose Bürgermeister Touhy, der wie sein Vater Bürgermeister ist und ebenso wie dessen Vater und die Väter davor.

 

Insgesamt läuft der Klischee-Meter so stark auf Hochtouren, dass die Handlung fast schon märchenhafte Züge annimmt. Die Charaktere sind ernsthaft so flach, dass man durch sie hindurchsehen könnte, würden sie vor einem stehen. Kaum eine Figur ist realistisch gezeichnet, weil sie alle so dünn wie Abziehbilder beschrieben werden.

 

Laurens Freundin Miranda ist ein Paradebeispiel für eine doofe Teenagerin, die alles dafür tut, damit Jungs ihr an die Wäsche gehen und sie hoffentlich bald ihre Jungfräulichkeit verliert. Aber auch Laurens Liebesleben ist schräg, denn das junge Mädchen, das zu Beginn des Romans noch nicht einmal ihre Tage hat, bandelt mit dem fünf Jahre älteren Jake an, sodass man es ein paar 100 Seiten später mit dem Thema »Sex mit Minderjährigen« zu tun hat. Für manche Leserinnen und besorgte Eltern könnte dies das eigentliche Horrorelement des Buchs sein.

 

Das Ensemble wandelnder Klischees hat Christina Henry nicht nur mit einer kruden Mordserie konfrontiert, sondern in die Geschichte außerdem die Überlieferung von drei Hexen und einem Prinzen verwurstet sowie – da verrate ich nicht viel, denn auch das steht auf dem Klappendeckel – die Bedrohung durch ein entsetzliches Monster.

 

Herausgekommen ist eine eher stark überwürzte Horrorsuppe, die vielleicht der angedachten Young-Adult-Zielgruppe das Fürchten lehrt. Mich hat das Buch, als nach rund dreihundert Seiten die Handlung zu vorhersehbar wurde, eher gelangweilt. Von allen Romanen, die ich bislang von Christina Henry gelesen habe, ist »Der Geisterbaum« der Schlechteste. Der Versuch, eine Handlung auf eigene Füße zu stellen und sich nicht auf die archaische Wirkung von Märchen zu verlassen, ist gründlich danebengegangen.

 

Ein einmaliger Ausrutscher? Schon im Herbst kann uns der nächste eigenständige Roman von Christina Henry eines besseren belehren. Für September 2023 ist Der Knochenwald angekündigt.

 

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Buch:

Der Geisterbaum

Originaltitel: Ghost Tree, 2020

Autorin: Christina Henry

gebundene Ausgabe, 512 Seiten

Penhaligon, 15. März 2023

Übersetzung: Sigrun Zühlke

Titelillustration: Isabelle Hirtz

 

ISBN-10: 3764532769

ISBN-13: 978-3764532765

 

Erhältlich bei: Amazon

 

Kindle-ASIN: B0BMGD49SM

 

Erhältlich bei: Amazon Kindle-Edition


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Erstellt: 17.04.2023, zuletzt aktualisiert: 12.04.2024 09:51, 21791