Der kleine Weihnachtsmann (Autor: Romain Sardou)
 
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Der kleine Weihnachtsmann von Romain Sardou

Rezension von Christian Endres

 

 

Man braucht heutzutage – glücklicherweise? –nur noch bis spätestens Mitte Oktober zu warten – dann stürmen bereits bunt mit Alufolie umwickelte Schoko-Weihnachtsmänner, großzügig abgepackte Tüten mit schmackhaften Marzipankartoffeln und Nougattalern und die obligatorische Dreifaltigkeit der Lebkuchenjünger – Schoko, Weiß und Natur – die Supermärkte und Discounter. Nur unwesentlich später können sich dann zumeist auch alle anderen Bastionen des alltäglichen Lebens nicht mehr länger der vorweihnachtlichen Vorfreude erwehren, und so zollt beispielsweise auch der für uns in diesem Fall relevante Buchmarkt spätestens ab Erreichen der diesig-grauen Novembertage dem kommerziellen Weihnachtswahn Tribut – alle Jahre wieder mit den pflichtschuldigen Rezept- und Liedersammlungen, mannigfaltigen Bastelanleitungen und natürlich auch einer Vielzahl an Neuauflagen und Neuerscheinungen zum Thema Weihnachten. Romain Sardous »Der Kleine Weihnachtsmann«, erst letztes Jahr in Frankreich erschienen, kommt dabei mit einem ebenso großen wie schweren Beutel an Vorschusslorbeeren zu uns – und musste dennoch erst einmal beweisen, dass es zwischen frühzeitigem Glitter und Kommerz noch echten weihnachtlichen Zauber zu bestaunen gibt ...

 

Im Jahr 1851 hat man es nicht leicht, wie Harold Gui trotz seines zarten Alters von neun Jahren nur allzu gut weiß: Monströse Schlote und Fabrikschornsteine strecken ihre hässlichen langen Hälse in den schmutzig-düsteren Wolkenhimmel über dem nicht weniger düsteren England, wo die Menschen der Arbeiterklasse in Trostlosigkeit und Tristesse dahinsiechen und an dem rußigen Einheitsbrei ihres Daseins zu ersticken drohen, während ganze Familien trotz voranschreitender Industrialisierung langsam aber sicher auf immerdar in Armut versinken. Und natürlich darf die wichtige Komponente, dass unser junger Held in einem Waisenhaus, unter der Fuchtel einer strengen, ungerechten, unsympathischen und ihm alles andere als wohl gesonnenen Heimleiterin groß geworden ist, er in der Folge ausbüchst, betrügt und trickst, am Ende aber doch wieder eingefangen wird, in einem solch vertrauten Setting erst einmal nicht fehlen ...

 

... und damit sind wir schon so gut wie mitten drin im vorweihnachtlichen – und bald natürlich auch unmittelbar-weihnachtlichen – Geschehen von Romain Sardous Geschichte über den Waisenknaben Harold, die unglaublich geschickt mit Klischees der »historischen Waisenromane«, aber eben auch dem Altbekannten oder Traditionellen und dem Modernen und Widersprüchlichen des Weihnachtsglauben als solchen spielt. Sardous flotte Geschichte braucht nach einer stimmungsvollen, aber recht vorhersehbaren Eröffnungssequenz erst einmal ein paar Seiten, um sich zu ordnen, und der Leser derweil auch ein wenig Zeit, um Kobolde, Engel, Feen und unter Brücken lebende Träumer mit dem Titel, den eigenen Erwartungen und vor allem auch den eigenen Erfahrungen und Erinnerungen mit und an Dickens und Co. unter einen Hut zu bringen und sich zu orientieren.

 

Danach aber eröffnet sich dem Leser Romain Sardous zauberhafte Geschichte in voller Pracht: sowohl der traurige Totenmarsch der Kinder zum Hafen noch ziemlich am Anfang der Geschichte, als auch die vorangegangene Mission des Hausgeist Balbek oder der Apfelbaum-Aufzug und die zauberhaften Rentiere stehen plötzlich in einem ganz anderen Licht da. Alle folgenden Schicksalsschläge oder Begebenheiten, die sich um Harold tummeln, schaffen in der Folge ohne große Mühe das schwierige, aber äußerst ansehnliche Spagat zwischen dem klassischen Konzept einer solchen Geschichte und dem modernen Einstreuungen, die Sardou immer wieder in die Story einwebt. Auch die Momente, da der französische Autor direkt mit seinem Leser kommuniziert und ihn direkt als Teil des Buches anspricht, geben diesem zumeist an genau der richtigen Stelle noch zusätzlichen Reiz und zusätzlichen Drive – etwa, wenn Sardou seinen Leser zur Interpretation auffordert, zum Nachdenken aufmuntert oder einfach nur seiner Phantasie – im Guten wie im Schlechten, im Grausamen wie im Schönen – die plastische Gestaltung einer Person oder einer ganzen Szene überlassen möchte ...

 

Natürlich ist der Geist von Altmeister Charles Dickens vor allem in den ersten beiden Dritteln des Romans allgegenwärtig, doch vergrault Sardou ihn nicht etwa, um eine eigene fadenscheinige Atmosphäre zu kreieren und sich verräterischerweise von Inspirator Dickens abzusondern; nein, der Franzose schafft es, Dickens Esprit zum Tanz mit seinen eigenen Ideen – etwa seinem Spiel mit dem ewigen Zwiespalt von Santa Claus und dem Heiligen Sankt Nikolaus – zu animieren und zum bleiben zu bewegen. Einmal mehr also ein Aufeinanderprallen der Ansichten und Erwartungen – von Leser und Autor, ja wahrscheinlich sogar der Geschichte und ihren eigenen Erwartungen selbst. Es ist mitunter genau dieses Wechselbad der erfüllten und eben nicht erfüllten Erwartungen, das diesen Roman so interessant macht, wenn Dinge und Elemente, ja sogar Klischees, die einem so vertraut erscheinen, plötzlich nicht mehr ganz das sind, was man erwartet, oder dann eben, wenn man es nicht erwartet, doch genau das, was man eigentlich hätte erwarten sollen, und –

 

Doch der Reihe nach ...

 

Anders als Romain Sardou hat die diesige Welt des kleinen Harold bis auf wenige Ausnahmen eindeutig das Träumen verlernt und allen Glauben an das Phantastische aufgegeben und verloren, nachdem alle magisch begabten Wesen sich schon vor langer, langer Zeit, aus Angst vor einem Krieg mit den engstirnigen Menschen, vorläufig in ihr Exil zwischen den Sternen zurückgezogen haben. Doch nun droht selbst der Glaube der Kinder an den Nikolaus – jenen armen Kerl, der, hin und her gerissen wie ein Stofftier zwischen zwei Geschwistern, sowohl am 6., als auch am 25. Dezember die Stiefel schnüren und seinen Knecht Ruprecht packen und in die Kälte ausziehen muss – ins Wanken zu geraten, womit auch der letzte kümmerliche Rest Phantasie – und damit der letzte kümmerliche Rest Lebensfreude in der Welt der Menschen – aufgegeben werden würde. Das wiederum würde bedeuten, dass den magischen Wesen plötzlich auch die letzte Möglichkeit für eine spätere Rückkehr in der Zukunft genommen werden würde, was diese trotz aller Furcht vor der Gier der Menschheit natürlich trotzdem nicht wollen. Also mischen sich die Zauberwesen zum ersten Mal seit langer Zeit wieder in die Geschicke der Erde ein – und wollen dafür sorgen, dass die Kinder wieder an die Symbolik des Heiligen Abends im Allgemeinen und einen modernisierten, zeitgemäßen Nikolaus im Besondern glauben. Einen echten Weihnachtsmann eben ...

 

Zur Not auch einen kleinen – und sobald dieser erkennt, dass das Wort »unmöglich« nur im Sprachgebrauch der Erwachsenen existiert, er wieder träumen kann und vor allem selbst mit seinem Schicksal glücklich wird, kann er andere Kinder glücklich machen. Mit Hilfe der Zwerge, der Engel, der Weisheiten seines alten Mentors und der MACHT, sicher, aber am Ende ...

 

Nun, das findet am besten jeder Leser für sich selbst heraus. Denn trotz der bekannten Thematik hält Sardou immer wieder eine kleine Überraschung für seine Leser und seinen kleinen Weihnachtsmann bereit. Sardous Schreibstil indes lässt sich ebenso wie das Buch selbst schwer irgendwo zuordnen. Er passt jedenfalls ganz ausgezeichnet, ist weder zu komplex, noch zu einfach, und hie und da sind sogar ein paar stilistische Experimente dabei. Alles in allem liest sich Sardous Stil also angenehm leicht und lässt sich auch in großen Portionen genießen – und die möchte man nach den ersten paar Seiten zweifellos, wenn man erst einmal die Geschichte vom kleinen Weihnachtsmann begonnen hat.

 

In Sachen Aufmachung habe ich im Laufe dieses langsam zu einem Ende kommenden literarischen Kalenderjahres selten ein schöneres Buch – erst recht nicht in dieser eher gemäßigten Taschenbuch-Preisklasse und aus einem der großen Verlage – gesehen: Heyne spendiert dem Freund schön aufgemachter Bücher nicht nur eine schmucke Klappenbroschur, sondern auch ein wunderschönes, unglaublich stimmungsvolles Covermotiv, in dem man sich fortwährend verlieren könnte. Auch das Layout im Innenteil greift noch einmal einige Elemente dieses gelungenen Titelbilds auf, sodass am Ende in Sachen Aufmachung, Gestaltung und Verarbeitung nicht nur die Höchstnote, sondern ein nahezu euphorisches Bravo! steht. So und nicht anders müssen Bücher heutzutage aussehen und sich anfassen.

 

Lediglich der Umstand, dass der Titel bereits Ende Oktober in den Läden steht und nicht erst in der Adventszeit, findet nicht ganz meinen Zuspruch – andererseits führt gerade dieser »Vorlauf« vielleicht auch wiederum dazu, dass sich bis Weihnachten herumgesprochen hat, was für eine schöne Geschichte hier vorliegt, und dass eben dieses Buch sich deshalb noch unter manch einem festlich geschmückten Weihnachtsbaum als kleines, aber sehr sehr feines Präsent wiederfinden wird ...

 

Fazit: Phantastischer Roman? Weihnachtsmärchen? Historischer Roman? Subtile Gesellschaftskritik? Hommage? Mh. Was bist Du nun, kleiner Weihnachtsmann?

 

Nun, Du bist vor allem eines: Eine wunderbare Geschichte, die sich nicht in eine Schublade oder ein bestimmtes Genre stecken lassen braucht, um ihre Faszination zu entfalten oder den Leser zu bewegen. Es gibt von allem etwas, von allem genug, von kaum etwas zu viel: ein bisschen Charles Dickens, ein bisschen Nicholas St. Gray, ein bisschen Neil Gaiman und natürlich auch ganz viel Romain Sardou – und damit trotz des Hintergrunds des grauen Englands zur Jahrhundertwende zu Beginn der Geschichte und der manchmal recht traurigen und ausweglosen Situation unseres Helden, scheinbar auch ein ganzes Stück der französischen Leichtigkeit des Seins.

 

Möglicherweise ist dies hier der Stoff, aus dem moderne Weihnachtsmärchen für Jung und Alt gemacht sind; Weihnachtsmärchen, die geschickt mit dem uns heute mehr als nur gut bekannten Multikulti-Weihnachtsfest und seinen Ursprüngen, seinen Auswirkungen und unseren eigenen Erwartungen spielen; Weihnachtsmärchen, die nach ein paar belanglosen Wirren zu Beginn ziemlich schnell und ziemlich konstant bis zur letzten der 300 Seiten zu begeistern verstehen, mit Heiligen und Zwergen, Engeln und Teufeln in Menschengestalt und manch anderen fabelhaften Idee um sich werfen, bis am Ende ein kleiner Junge und ein paar fleißige Zwerge das Weihnachtsfest retten und wir eine äußerst charmante Neu-Interpretation der Origin des Weihnachtsmannes vorliegen haben.

 

Eine zauberhafte Geschichte, die eine romantische, zugleich aber auch kritische und nicht zuletzt auch angenehm phantastische Brücke zwischen den Welten und Zeiten schlägt – und über eine packende, spannende, gefühlvolle und vor allem gelungene Weihnachtsstory direkt zu einem beschaulichen Weihnachtsfest für Groß und Klein führt ...

 

Egal ob zum Selbstlesen oder zum Vorlesen, als Einstimmung auf die Adventszeit und den Heiligen Abend oder eben als perfektes, kleines Geschenk für Nikolaus oder Weihnachten selbst. So oder so gilt hier ohne jede Zweifel:

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240508154309f32f0e90
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Der kleine Weihnachtsmann

Autor: Romain Sardou

Klappenbroschur, 301 Seiten

Heyne, Oktober 2006

ISBN: 3453404866

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 31.10.2006, zuletzt aktualisiert: 20.03.2024 15:43, 2977