Der Skarabäus (Autor: Richard Marsh)
 
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Der Skarabäus von Richard Marsh

Rezension von Martin Weber

 

Der Skarabäus, der nunmehr in einer neuen Übersetzung als Band 10 der Bizarren Bibliothek aus dem Hause Festa vorliegt, wurde erstmalig 1897 veröffentlicht. Das Buch erzählt die Geschichte einer unheimlichen Heimsuchung, die über unbescholtene Bürger hereinbricht.

 

Schauplatz:

London im ausgehenden 19. Jahrhundert.

Opfer:

Ist der Politiker Paul Lessingham, der bei den reformerisch orientierten Teilen der Bevölkerung enormes Ansehen genießt. Doch auch Menschen in seiner Umgebung – wie seine Verlobte Majorie Lindon - und völlig Unbeteiligte werden in den mysteriösen Rachefeldzug hineingezogen.

Täter:

Ein Wesen mit überirdischen Kräften, das meist in Gestalt eines hässlichen Arabers auftritt, sich aber auch in einen diabolischen Isiskäfer verwandeln kann.

 

Der Roman gliedert sich in vier Abschnitte, von denen jeder einen eigenen Ich-Erzähler aufweist. Er beginnt mit dem Bericht des obdachlosen Robert Holt, der auf der Suche nach einer Unterkunft aus lauter Verzweiflung in ein scheinbar leer stehendes Haus einsteigt. Doch das Haus ist keineswegs unbewohnt, denn im Inneren lauert eine perfide Kreatur, die ihm mit hypnotischen Kräften ihren Willen aufzwingt. Sie befiehlt Holt, beim Abgeordneten Paul Lessingham einzubrechen und gewisse Briefe zu entwenden. Machtlos befolgt er diesen Befehl, doch der Diebstahl geht nicht ohne Schwierigkeiten über die Bühne.

 

Im zweiten Teil kommt Sydney Atherton zu Wort. Er ist ein Erfinder, der in Majorie Lindon verliebt ist. Die hingegen hat nur Augen für Lessingham. Atherton zürnt seinem Rivalen und wünscht ihm die Pest an den Hals. Als ein Araber bei ihm auftaucht und ihm das Angebot macht, gemeinsam gegen den Politiker vorzugehen, ist das ein durchaus verlockendes Angebot für ihn.

 

Den dritten (und kürzesten) Beitrag liefert Majorie Lindon, die von einem nächtlichen Alpdruck und der Verfolgung einer Spur zum Monstrum berichtet.

 

Im abschließenden Kapitel spricht der Detektiv August Champnell, der von Lessingham um Beistand gebeten wird. Er schildert eine Verfolgungsjagd, in der die wackeren Engländern verzweifelt versuchen, das ausländische Scheusal zur Strecke zu bringen und einer Unschuldigen das Leben zu retten.

 

Das Buch schließt mit einem erhellenden Nachwort von Übersetzer Alexander Amberg, in dem das meiste von dem vorweggenommen wird, was auch mir zum Roman eingefallen ist. Amberg beginnt seine Ausführung mit folgender überraschender Aussage:

„Richard Marshs The Beetle mag, stilistisch und literarisch gesehen, ein eher mittelmäßiger Roman sein, doch lief er Bram Stokers Dracula seinerzeit den Rang ab.“

Überraschend ist diese Einleitung aus zwei Gründen, weil erstens bemerkenswert ist, dass ein Verlag solche unvorteilhaften Statements zulässt. Zweitens gilt Dracula neben Mary Shellys Frankenstein als der Klassiker der Horror-Literatur, weshalb man kaum glauben mag, dass seine Popularität einst durch ein anderes, den heutigen Lesern weitgehend unbekanntes Werk übertroffen wurde.

 

In der Bewertung des Werkes kann ich Alexander Amberg nur zustimmen, da Der Skarabäus wirklich ein durchschnittlicher Roman ist. Man kann ihn lesen und wird dabei annehmbar unterhalten, doch er entfaltet zu keiner Sekunde die intensive Sogwirkung und Faszination, die zum Beispiel Bram Stokers Dracula selbst heute noch bei empfänglichen Lesern zu verbreiten imstande ist. Natürlich wirkt diese Vampir-Erzählung in Teilaspekten ebenfalls angestaubt, im Vergleich zum Skarabäus hat sie allerdings deutlich weniger Patina angesetzt. Abgesehen davon, dass Stoker in Sachen Dramaturgie und Stil Marsh hinter sich lässt, hängt das vor allem mit der Figur des Bösewichts zusammen. Klar, der gute alte Graf ist mittlerweile zur Ikone der Popkultur und damit oft auch zur Witzfigur verkommen, aber wenn man die literarische Vorlage liest, kann man in vielen Passagen immer noch die Faszination & Bedrohung, die von ihm ausgeht, spüren. Im Unterschied dazu kommt der „Araber“ wie die Parodie eines Schurken rüber, dessen Furcht erregendes Potential gegen Null tendiert; ja er kriecht – ganz schmieriger und rückständiger Ausländer - an einer Stelle sogar winselnd vor der überlegenen Macht der Naturwissenschaft auf dem Boden. Weil er abgrundtief moralisch verkommen ist, ist ihm seine Bosheit natürlich als Hässlichkeit ins Gesicht geschrieben. So bleibt er ein eindimensionaler Bösewicht alter Schule, was nicht weiter schlimm wäre, wenn er dennoch gefährlich wirken würde, doch vor so einer geifernden Karikatur kann sich ein Leser der Jetztzeit unmöglich gruseln.

Desgleichen sind alle anderen Charaktere Pappfiguren, die selten in den Verdacht geraten, echten menschlichen Wesen zu ähneln. Warum also sollte man mit ihnen mitfiebern, um ihr Schicksal bangen?

 

Was einen bei der Lektüre dranbleiben lässt, sind die wechselnden Perspektiven und der Wunsch, Einblick in die Hintergründe zu bekommen. Durch die Abfolge verschiedener Ich-Erzähler werden verschiedene Zugänge zu den Ereignissen präsentiert, was den an sich ziemlich belanglosen Plot interessanter macht. Leider begeht Richard Marsh aber den Fehler, dass er die Sprache der Berichterstatter nicht variiert – ein sorgfältiger Autor hätte darauf geachtet, dass sich die unterschiedlichen Erzähler durch unterschiedlichen Stil voneinander absetzen. Einen weiteren und ungleich schwerwiegenderen Fehler begeht er am Ende, denn statt einen krönenden dramatischen Schlusspunkt zu inszenieren, bringt Marsh die Handlung auf eine beiläufige und überhastete Art & Weise zu Ende, die den finalen Endspurt in einer Enttäuschung münden lässt.

 

FAZIT

Als Unterhaltungsroman mit Gruselanspruch macht Der Skarabäus nicht allzu viel her. Seine deutschsprachige Neuauflage bezieht ihre Berechtigung wohl mehr daraus, dass dem an der Geschichte der unheimlichen Literatur Interessierten ein ehemaliger Bestseller wieder zugänglich gemacht wird. Als Dokument seiner Zeit ist Der Skarabäus zweifellos lesenswert, als Schauerroman ist er für den heutigen Geschmack zu angestaubt.

 

Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240328233837c8b4f38d
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Buch:

Der Skarabäus

Autor: Richard Marsh

Broschiert - 250 Seiten - Festa

Erscheinungsdatum: Februar 2006

ISBN: 3865520235

Erhältlich bei Amazon


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Erstellt: 27.05.2006, zuletzt aktualisiert: 17.04.2023 20:56, 2281