Drachenkreuzer Ikaros (Autor: Michael Szameit)
 
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Drachenkreuzer Ikaros von Michael Szameit

Rezension von Ralf Steinberg

 

Verlagsinfo:

Die Zeit der Drachenkreuzer, jener im Sonnenwind segelnden Forschungsraumschiffe, ist eigentlich längst vorbei, denn die Sonne wird nun von der Erde aus mit modernsten Geräten erkundet. So existiert nur noch die Ikaros, deren Mannschaft trotz mancher Auseinandersetzung fest zusammenhält und das einstige Flaggschiff nicht verlassen will. Und als plötzlich verderbenbringende Sonnenaktivitäten die Erde bedrohen, erhält auch die Ikaros einen neuen, gefährlichen Auftrag.

Als sie in einer verlassen Forschungsstation auf dem Merkur eine rätselhafte Lebensform entdecken, gerät alles durcheinander, und kurz vor dem entscheidenden Einsatz geschehen seltsame Dinge an Bord. Hendrikje Greiff und Hermel Goff, zwei junge Wissenschaftler, versuchen die Geheimnisse zu enträtseln.

Aber auch auf der Erde gibt es ein Problem: Die »Mungos« verlangen immer lauter, dass die Welt auch ihren ganz besonderen Bedürfnissen angepasst wird. Sie sind die Opfer einer leichtfertigen Genmanipulation, die einzig zum Ziel hatte, die Menschen schöner zu machen. Zwischen ihnen und dem geheimdienstartig konzipierten Medizinischen Observationsdienst verhärten sich die Fronten, und dieser Konflikt scheint unlösbar.

Ob in den Urbaniden von Amorix oder an Bord des Drachenkreuzers Ikaros – die Menschen müssen in abenteuerlichen und hochkontroversen Auseinandersetzungen ihren Weg finden. Und ganz nebenbei eine Überlebenschance für die bizarren Wesen auf dem Merkur suchen…

 

Rezension:

Der Science Fiction aus der DDR haftet inzwischen nicht nur eine dicke Patina sondern auch der demagogische Geruch der davongejagten Diktatur an. Die mediale Aufmerksamkeit ist gering und auch der Genre-Fan sucht im abgeschlossenen Sammelgebiet DDR-SF als allerletztes nach erbaulichen Klassikern. Das mag zum Teil an Unkenntnis, teils an mangelnder Strahlkraft bestimmter Werke liegen und vielleicht zum Teil auch an der besonderen Verquickung mit der Ursprungszeit und ihren Umständen.

Manchmal bedarf es aktiver Bemühungen der betroffenen Autoren, so sie noch leben und schaffen, um jene Werke in den Fokus zurück zu bringen. Das Autoren- und Zukunftsforscherpaar Angela und Karlheinz Steinmüller sei hier exemplarisch genannt.

 

Michael Szameit arbeitete nach der Wende lange Zeit als Chefredakteur einer Angler-Zeitung und widmete dieser Tätigkeit ein so großes Stück seines Lebens, dass nicht nur das Schreiben dabei zu kurz kam, sondern auch seine Gesundheit.

Und so gerieten er und sein Werk fast völlig in Vergessenheit. Dabei gehörte er seit Beginn der 80er zu einer neuen Generation von SF-Schriftstellern, die sich anschickte, die etablierte Szene um Alexander Kröger, Klaus Frühauf und Karl-Heinz Tuschel mit thematisch aufgeladeneren Texten abzulösen.

Szameit hatte sich durch mehrere SF-Romane eine treue Fan-Gemeinde aufgebaut. Die Werke hingen lose zusammen, ein eigener Kosmos war entstanden. Und das besondere an ihnen war, dass sie reale Probleme enthielten, die in eine ideale Zukunft verschoben wurden. Die lichte Zukunft hatte Schattenseiten. Ohne Zweifel besaß Szameit Wegbereiter. Neben den Geschichten von Johanna und Günter Braun, dürften es vor allem Der Tag zieht den Jahrhundertweg (ab 2003 erweitert unter den Titel Ein Tag länger als ein Leben) und Die Richtstatt von Tschingis Aitmatov gewesen sein, die gesellschaftskritische Utopien in der DDR möglich werden ließen. Oder, wie Michael Szameit in einem Interview bemerkte, hatte er einen Schutzengel an der richtigen, heißt obersten, Stelle in der HV (die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel (HV) im Ministerium für Kultur war als eine Art Unterministerium zuständig für die Buchproduktion und -distribution der DDR, für die Zuteilung von Druckpapier und die Zensur). Deren Leiter und stellvertretender Kulturminister mochte Szameit Klaus Höpke offensichtlich.

Der 1987 veröffentlichte Roman Drachenkreuzer Ikaros vereint mehrere gesellschaftliche Tendenzen in einem Roman, der sich recht deutlich vom typischen SF-Abenteuer unterscheidet. Zwar erschien er in der beliebten Jugendbuchreihe Spannend erzählt zwischen Witali Tschernows Der Sohn der Wildnis und Joachim Spechts In den Korallenriffen, aber mit diesen reinen Abenteuerromanen hatte der Drachenkreuzer wenig gemeinsam.

 

Szameit stürzt den Leser mitten hinein in den morgendlichen Alltag einer jungen Frau. Die Zukunft winkt mit morgendlicher Parole, die man als Kurzform zum täglichen Gruß verkürzt: aus »Der Reichtum der Gemeinschaft ist der Reichtum eines jeden einzelnen« wird »Derdegiderje«. Man hat zwei Seiten gelesen und fragt sich schon, wie der Autor das schreiben durfte. Wie konnte eine derartige Verballhornung der politischen Phrasen durch die Zensur gelangen? Auch für den damaligen Leser stellte diese Szene eine offene Infragestellung dar. Das Ignorieren von Parolen und Floskeln gehörte zum Leben dazu, wie das Atmen und Schlangestehen. Aber sich darüber lustig zu machen, wies schon auf eine Art von Aufruhr hin, die nicht wirklich als gesund galt.

Doch es geht schnell weiter ans Eingemachte. Hendrikje Greiff erlebt auf dem Weg zu Arbeit, wie ein offensichtlich kranker Bürger, dessen Metabolismus stark beschleunigt funktioniert - Mungo genannt - durch einen Spitzel erkannt und den Sicherheitskräften gemeldet wird. Der Mann stirbt bei der Festsetzung.

Wem die Parallelen zur Stasi nicht deutlich und bitter genug sind, darf sich noch am Namen der Organisation erfreuen: MOBS – Medizinischer Observationsdienst, die Spitzel heißen logischerweise im Volksmund Möpse.

Obwohl Szameit also eine offensichtlich kommunistisch aufgebaute Gesellschaft skizziert, haben ihre dreckigsten Seiten realsozialistische Entsprechungen.

Und diese reichen noch weiter. Hendrikje erweist sich zunächst nämlich als oberflächliches Wesen, die ihre durch Arbeit erworbenen Punkte für den Konsum von Luxusgütern ausgibt. Eine ihrer Arbeitsstellen ist eine Kaderabteilung mit ehrgeizigen Kollegen und ätzendem Boss, ganz im Stil bekannter »Brigadeleiter«.

Die Zukunft hat jedoch noch weitere Probleme. So lernt Hendrikje bald darauf den MOBS Hermel Goff kennen, der ihr verrät, wie sich die Administration die Lösung des Mungo-Problems vorstellt. Bisher hat man nur den Körper genetisch optimiert, eine moralische Optimierung sei die logische Weiterentwicklung. Selten deutlich beschreibt hier Szameit, wie ideologisch weltfremd eine Elite werden kann, die davon ausgeht, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben und welche unmenschlichen Wege sie zu gehen bereit ist.

Dieser Grundkonflikt bleibt bis zum Schluss des Romans bestehen. Auch wenn der Autor es nicht explizit benennt, so stehen sich hier Selbstbestimmung und Diktatur gegenüber. Jedoch nicht als verfeindete Parteien, sondern als konstruktiver Kampf um eine Weiterentwicklung. Dieser Optimismus, dass man durch Lockerung der individuellen Freiheit, durch das Ausbrechen aus starren Verwaltungsstrukturen, große Veränderungen bewirken kann, kennzeichnet die frühe Phase der Perestroika. Der Aufbruch schien möglich. Es gab Lockerungen, größere Freiheiten – Versprechungen an das berühmte lichte Morgen. Wenn man ganz genau hinschaut, spürt man diese vorwärtsgerichtete Ambivalenz. Den Wunsch, durch das Benennen von Fehlentwicklungen, Lösungen anzustoßen. Es gab dieses Vertrauen in die Lenkung, reformfähig zu sein. Ein kurzer Moment der Hoffnung. Doch Szameit kennt die Gefahren. Er zeigt die latente Gewaltdrohung. Das unbestimmte Regime unter Mithilfe eines Großrechners ist bereit, Einzelne zum Wohle des Ganzen zu opfern. Und wenn diese Einzelnen auch eine ganze Bevölkerungsgruppe ausmachen. Mit den Vertretern der alleingültigen Wahrheit ist nicht zu spaßen und eine unterschwellige Bedrohung mit all ihren Ängsten und Auswirkungen durchzieht den Roman. So entwickelt der Autor immer wieder auf unterschiedlichen Ebenen Minderheiten, die um ihre Rechte kämpfen müssen. Seien es die Mungos, sei es der Schwule unter Heteros aber auch Spitzel unter Raumfahrern, Doktor unter Patienten, Kapitän und Besatzung. Diskriminierung funktioniert an vielen Orten.

 

Aber Drachenkreuzer Ikaros ist ein schwergewichtiger Roman, der noch weitere brennende Themen enthält.

So muss sich die Besatzung des titelgebenden Raumschiffs damit herumschlagen, dass die Abwrackung ihres Sonnenseglers nur eine Frage der Zeit ist, sich ihr ureigenster Lebensraum, ihre Heimat in Gefahr befindet.

Szameit führt diese Männergemeinschaft Schritt für Schritt ein, beschreibt ihre Arbeit im Orbit der Sonne, zeigt die vielen Brüche und Reibungen innerhalb der festgefügten Mannschaft. Es gibt derbe Scherze, zarte Nuancen und Geheimnisse. Eines davon führt zu den Geistern des Merkur, die sich als eine seltsame Altlast erweisen. Die Glumpe und ihr Sprachrohr Klugwarm gehören zu den eindringlichsten SF-Szenarien, die in der DDR geschrieben wurden. Szameit fügte sich einer engen Metaphernwelt um die Fremdartigkeit der Glumpe und ihre Wahrnehmung zu beschreiben. Dabei unternimmt er den Versuch etwas zu gestalten, dass zwar ein riesiges Kollektiv darstellt, aber von den Fähigkeiten seiner Individuen zehrt. Kein Mitglied der Glumpe gleicht dem anderen. Und doch sind sie eins. Nur schwer kann man sich dem Eindruck erwehren, dass man hier ein Musterbeispiel kommunistischer Lebensweise vor sich hat.

Umso dramatischer wird dann das Finale für die gesellschaftliche Bewertung. Zwar legt Szameit noch etliche persönliche Ebenen darüber, es gibt ein ganzes Geflecht aus Beziehungen zwischen den Figuren, aber die Stoßrichtung des Romans bleibt klar. Es wird gemahnt. Vor Eingriffen in die Natur. Vor der Missachtung persönlicher Interessen. Vor Kälte.

 

Beim Lesen stolpert man noch über andere Themen, etwa Drogen, Vergesellschaftung der Erziehung und ganz besonders: Homosexualität.

Neben einer schwulen Hauptfigur, ja sogar einem ganzen Planeten voller Männer, die in einer schwulen Gesellschaftsform leben, finden sich viele bisexuelle Eskapaden, eine grundsätzliche Freiheit, die in ihrer Offenheit und selbstverständlichen Normalität so typisch DDR ist, dass man diesen Bestandteil des Romans schon fast als Zeitdokument betrachten muss.

 

Es gibt sogar im Zusammenhang mit dieser Männergesellschaft Fantasy-Einflüsse. Eine Queste, eine Art »Zauber«-Lehrling, der seine initiale Prüfung bestehen muss, auch wenn es um als Telepathie definierte Gedankenkraft geht - die Muster sind erkennbar. Dabei spielt neben dem Weiterreichen einer traditionellen Lehre auch Verantwortung eine Rolle. Szameit nimmt sich sehr viel Zeit, um seinen Figuren einen Weg durch die Handlung zu gestatten, der sie ebenso formt, wie sie ihn. Es gibt logische Weiterentwicklungen, aber auch emotionale Wendungen. Die einzige Frauenfigur steht hier eher symbolhaft für Liebe und weibliche Unlogik. Obwohl man die zugrundeliegende Achtung vor dem anderen Geschlecht spürt, benutzt Szameit Hendrikje teilweise klischeehaft

Aber vielleicht ergibt sich diese Betrachtungsweise aus unserem heutigen Rollenverständnis und der Kontroverse darum.Die Selbstfindung durch die Mutterschaft wurde nach Angaben des Autors durch autobiografische Ereignisse inspiriert. Erfüllung und Glück sind eben auch Werte, die viel mit dem eigenen Leben zu tun haben. Und die sich ebenso im Laufe der Zeit ändern, wie unsere Umwelt sie neu bewertet. Vermutlich liegt es auch daran, dass Michael Szameit gerade zu »Drachenkreuzer Ikaros« viele Reaktionen von Leserinnen bekam.

 

Beeindruckend sind auch immer wieder die wilden und wuchtigen Illustrationen von Hans-Christoph Rackwitz, von denen man gerne die originalen Farbversionen gesehen hätte. Sie prägen einige der intensivsten Momente des Buches durch ihre Kraft, die auch den Horror als tief Lebendiges erlebbar macht. Im besten Sinne schräg, wenn man die »Einengung der eigenen Imagination« mag, um Michael Szameits Worte über die Bilder zu erwähnen.

 

Fazit:

Wo hätte sich die DDR-SF hin entwickelt? Eine Ahnung bekommt man, wenn »Drachenkreuzer Ikaros« liest. Die knallharte, aber auf gemeinsam erarbeitete Lösungen ausgerichtete Gesellschaftskritik zählt zu den wenigen Utopien, die ohne große Abenteuerthemen auskommen und doch anregende Unterhaltung bieten.

Daneben bildet der Roman das Feeling einer Gesellschaft ab, die 1987 Reformfieber erfasste. Als es noch Hoffnung auf Veränderungen gab.

Michael Szameit schreibt wieder. Vielleicht liegt es an der Zeit, die sich fast so anfühlt, wie kurz vor der Implosion der DDR.

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Buch:

Drachenkreuzer Ikaros

Autor: Michael Szameit

Reihe: Spannend erzählt Band 209

Neues Leben, 1987

Illustrator: Hans-Christoph Rackwitz

gebunden, 372 Seiten

 

ISBN-10: 3355003875

ISBN-13: 978-3355003872

 

Erhältlich bei: Amazon

 

Kindle-ASIN: B005584P8A

 

Erhältlich bei: Amazon Kindle-Edition


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Erstellt: 04.09.2011, zuletzt aktualisiert: 10.04.2024 18:52, 12090