Ein UFO, dachte sie (Autor: Xiaolu Guo)
 
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Ein UFO, dachte sie von Xiaolu Guo

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Im Parteibüro war ein seltsamer Bericht aus dem Dorf Silberberg eingegangen. Beijing schickte den Agenten Beijing 1919 los, der nach drei Reisetagen mit einem Armeelaster mies gelaunt in Changsha ankam. Zusammen mit dem lokalen Agenten Hunan 1989 geht’s weiter nach Silberberg. Dort hatte die Dörflerin Kwok Yun angeblich ein UFO gesehen. Für die beiden Agenten gilt es nun, in Erfahrung zu bringen, was an der Sache dran ist. Dazu befragen die beiden die Einheimischen nach ihren Wahrnehmungen. Um sich ein Bild über deren Zuverlässigkeit zu machen, fragen sie nach den Lebensumständen im Dorf, wie zufrieden die Dörfler sind, ob sich jemand wichtig machen will oder vielleicht krank ist. Dabei finden sie einiges über die Menschen heraus. Außerdem stellen sie fest, dass Kwok Yun nicht nur ein UFO sah, sondern auch einen verletzten Fremden – vielleicht einen Missionar oder einen russischen Ingenieur – mit nach Hause nahm, der aber schon bald wieder verschwand. Damit könnte die Angelegenheit auch schon beendet sein, doch als der dankbare Fremde einen Scheck über 2.000 US-Dollar nach Silberberg schickt, kommen die Dinge ins Rollen.

 

Die Geschichte spielt ausschließlich in dem Dorf Silberberg. Sie beginnt 2012 und endet 2015, allerdings ist die Geschichte des Dorfes sehr wichtig, denn die Mehrheit der Bewohner 'lebt' in der einen oder anderen Weise in der Vergangenheit. Das Dorf liegt in einer der vielen unwirtlichen Gegenden Chinas. Die Böden tragen immer schlechter, das Leben wird immer bitterer, besonders seit in den letzten Jahren die jungen Leute massiv in die Städte ziehen. Silberberg liegt in der Nähe zum Geburtsort des verehrten Vorsitzenden Mao. Das brachte dem Ort in den sechziger Jahren des 20. Jh. einiges an Unterstützung der Kommunistischen Partei (KP) ein, doch mit Maos Einfluss sank auch die Unterstützung – so lebt man in Silberberg weitgehend in der Vergangenheit: So weit die Agrarmaschinen nicht verrottet sind, stammen sie aus den Sechzigern, die Verwaltungsstrukturen sind ähnlich alt. Doch der Alltag wird von uralten Traditionen bestimmt, was sich in der Liebe zu den Jahrhunderte alten Hundert-Arme-Bäumen niederschlägt. Für Fernseher oder Kühlschränke sind die allermeisten Dörfler zu arm, Zeitungen liest man kaum – die meisten sind Analphabeten. Später wird sich mit der rasanten Modernisierung und dem massiven Wachstum einiges ändern.

Der Roman ist vor allem eine Satire auf China, besonders die Behörden, das Landleben und dem blinden Modernisierungswahn. Entsprechend ist das Setting als Kernstück nicht nur detailliert ausgeführt, sondern auch ein Milieu. Demgemäß stehen die Menschen im Mittelpunkt.

Es gibt zwei phantastische Elemente. Zum einen spielt die Geschichte in der nahen Zukunft – von 2012 bis 2015. Konkret spielt das jedoch keine Rolle, denn es gibt keine technischen oder politischen Nova. Es unterstreicht nur die Spannung zwischen der real gewordenen Zukunft und dem konkreten Leben in der Vergangenheit. Zum anderen ist da das UFO. Es ist im eigentlichen Sinne des Wortes ein UFO – Kwok Yun hat eine fliegende Metallscheibe gesehen. Dass dieses mit Außerirdischen zusammenhängen könnte, weiß sie nicht – dazu ist sie zu ungebildet. Diese Variante bringt erst die studierte Ortsvorsteherin Chang ins Spiel. Einerseits findet das eigentliche Ereignis vor dem tatsächlichen Handlungsbeginn statt, andererseits beeinflusst es direkt und mehr noch indirekt die weitere 'Entwicklung' – die UFO-Sichtung ist der Auslöser. Der Text scheint zunächst eine banale Lösung zu implizieren, doch es ist bekannt, dass Greys mit Menschen experimentieren und letztlich geht es um ein gewaltiges Experiment. Nur braucht es dafür Greys? Oder ist es wiederum eine verhohlene Satire? In dieser Hinsicht gehört der Roman zur todorovschen Phantastik.

 

Die Figuren bleiben für sich genommen unvollständig. Das liegt zum einen an der relativ großen Anzahl – der Anhang II zählt zehn Hauptzeugen auf, zu denen noch einige weitere Figuren wie die ermittelnden Agenten kommen. Andererseits ist die Erzählsituation strikt objektiv. So erhält der Leser nur knappe Eindrücke, die vor allem in Beziehungen entstehen. Guo macht sehr deutlich, dass der Fragende die Antwort beeinflusst. Manchmal ganz offensichtlich, indem er Teile seines Berichts zensiert, manchmal weniger offensichtlich, indem er einen Befragten zurechtweist, was eine Veränderung des Verhaltens bewirkt, und manchmal verhohlen, indem er durch seine Position als Polizist Druck in Richtung eines gewissen Verhaltens erzeugt. Agent Beijing hat zum Beispiel keine Lust zu dem Auftrag. Er ist oftmals unhöflich und provokativ. Agent Hunan dagegen ist eher sachlich, manchmal ein bisschen vertraulich, gibt sich aber auch schnell mit oberflächlichen Antworten zufrieden. Zu den wichtigen Zeugen gehört natürlich die ungebildete Bäuerin Kwok Yun, die mit siebenunddreißig zu den jüngeren Erwachsenen im Dorf gehört, aufgrund ihres 'maskulinen' Erscheinungsbildes aber immer noch keinen Mann gefunden hat und daher von den anderen bedauert wird. Sie lebt bei ihrem Großvater, einem mürrischen Alten. Chang Lee ist die ehrgeizige Ortsvorsteherin, die im Sinne der KP den Ort modernisieren will, aber nicht über die nötigen Mittel verfügt. Sie hatte an einer Militärakademie studiert. Ihr Sekretär Zhao Ning ist sehr von Chang eingenommen. Er ist ein wenig naiv und romantisch; seine Berichte neigen zu künstlicher Dramatik und Pathos. Yee Ming ist der Schulleiter des Dorfs, der mit viel Freude den Kindern (die bisweilen Analphabeten bleiben) versucht, die vollkommenen Zahlen und besonders die Primzahlen, die er sehr mag, nahezubringen.

 

Von einem Plot kann man nur bedingt sprechen. Der Roman ist in vier Akten aufgegliedert. In der ersten Akte wird die UFO-Sichtung untersucht, in der zweiten die wirtschaftliche Entwicklung und Eignung der Ortsvorsteherin, in der dritten ein Todesfall und in der vierten wird der Fall der UFO-Sichtung noch einmal aktualisiert. Damit liegt eine gewisse Nähe zum typischen Kriminalroman vor, in dem die Eruierung von Fakten ebenfalls zentral ist. Doch anders als Krimis ist Ein UFO, dachte sie außerordentlich situativ – es ist ein satirisches Sittengemälde. Zentrale Spannungsquelle ist dabei natürlich die daraus entstehende Transversalspannung; Guos Roman verklärt dabei weder die Vergangenheit, noch beklatscht er den Fortschritt; das Leben in Silberberg wird nur anders, weder besser, noch schlechte, es werden nur die Fetische ausgetauscht. Für die Alten ist das allerdings hart genug. Die Suche nach dem UFO ist daneben klar nachrangig.

Die zweite sehr wichtige Spannungsquelle ist der Humor. Wie bei einer Satire nicht anders zu erwarten, ist er vor allem bissig. Ein hintergründig bissiges Beispiel will ich hier einmal mit der Befragung eines Wanderarbeiters geben:

Agent Beijing 1919: Bitte entschuldigen Sie die Störung, aber wissen Sie etwas über das UFO, das hier vor ein paar Tagen gesehen wurde?

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BJ 1919: Verstehen Sie mich?

?

BJ 1919: Verstehen Sie meinen Beijinger Dialekt nicht?

?

BJ 1919: Himmelarsch! Was für ein Scheißkaff … Na, egal, viel Glück weiterhin mit Ihrem rostigen alten Drahteseln …

 

Dem Leser wird aufgefallen sein, dass vor allem Figuren und Plot ungewöhnlich strukturiert sind. Das hängt mit der seltsamen Erzähltechnik zusammen. Wie erwähnt ist die Erzählsituation strikt objektiv. Guo erreicht dies, in dem sie ihre Geschichte in protokollierten Befragungen, Berichten, Karten und anderem offiziellen Schriftstücken erzählt. Es gibt im weiteren Sinne des Wortes nur verschriftlichte Figurenrede. Der Leser weiß somit nie, was wirklich geschieht, er 'hört' nur, was die Leute ihm erzählen. An dieser fiktionalen Dokumentensammlung ist alles Übrige ausgerichtet.

Es gibt einen zentralen 'Meta-Handlungsstrang' – das satirische Sittengemälde – das sich wiederum aus kleineren Handlungssträngen zusammensetzt, wie etwa die Suche nach dem UFO, das Schicksal von Kwok Yun usw. Während die Geschichte nicht besonders tragisch oder gar melodramatisch ist, ist der Duktus doch ernüchternd und disillusionierend. Dabei sind die Stränge nicht nur episodisch, sondern zudem noch fragmentiert – es werden Episoden aus unterschiedlichen Warten erzählt, sie werden unvollständig erzählt oder nur angedeutet.

Auch der Stil ist dem angepasst – er changiert zwischen Literatursprache und Alltagssprache der Dörfler bzw. Beamten.

Als Letztes sei noch auf die gestalterischen Spielereien hingewiesen: Der Formularkopf ist dem jeweiligen Protokoll mit einer Büroklammer angeheftet, es werden verschiedenen Schriftarten verwendet, es gibt Zensurbalken usw. – auch hier wird spielerisch die Akten-Fiktion unterstützt.

 

Fazit:

Zwei Polizisten versuchen in dem armen Dorf Silberberg herauszufinden, wie der Bericht der Dörflerin Kwok Yun zu bewerten ist. Sie will ein UFO gesehen und einen Fremden gerettet haben. Als dann in Silberberg ein Scheck vom Geretteten ankommt, geraten die Dinge in Bewegung. Xiaolu Guo hat mit Ein UFO, dachte sie eine vielschichtige Satire auf China, das Landleben und den Fortschrittsglauben verfasst, in der Komik und Bitterkeit Hand in Hand gehen. Der streng objektiven Erzählsituation der Aktensammlungen werden alle Aspekte des Romans sorgfältig untergeordnet.

 

+++ MASSNAHME: Das weitere literarische Schaffen von Xiaolu Guo genau verfolgen. +++

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240426075346bd41ba36
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Roman:

Titel: Ein UFO, dachte sie

Reihe: -

Original: UFO in her eyes (2009)

Autor: Xiaolu Guo

Übersetzer: Anne Rademacher

Verlag: Albrecht Knaus (September 2009)

Seiten: 222 Seiten, Gebunden

Titelbild: semper smile Werbeagentur

ISBN-13: 978-3-8135-0353-1

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 20.05.2010, zuletzt aktualisiert: 26.03.2024 19:17, 10458