Für immer und ewig (Autor: Helmuth W. Mommers)
 
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Für immer und ewig

Die Kurzgeschichte des Monats März bringt uns eine SF Geschichte der besonderen Art. Sie handelt von Liebe und Treue bis über den Tod hinaus. 2003 in der Sammlung Sex, Love, Cyberspace erschienen, stellt der Autor den Lesern des Fantasyguide.de die Geschichte exclusiv online zur Verfügung.

 

Autor: Helmuth W. Mommers

 

 

Dies ist eine Liebesgeschichte. Sie handelt von einer unsterblichen Liebe, über den physischen Tod hinaus. Aber aufgepasst: Da muss sie schon sehr innig sein, um eine Ewigkeit zu währen ... Und wer weiß, vielleicht erwartet Sie eine Überraschung?

 

 

Für immer und ewig

 

Es war nicht anders, als läge er auf dem Sterbebett, angeschlossen an Infusionsschläuchen und Messgeräten, die Angehörigen um sich herum versammelt, um Abschied zu nehmen. Nur, dass er angeschnallt in einem Kontursessel saß, die Elektroden angesetzt, der Helm justiert – einzig die Hände frei für einen letzten innigen Händedruck.

Seine letzte Stunde hatte geschlagen.

Jeremy O’Donell fühlte keine Bitterkeit. Er hatte sein Leben gelebt – hundertachtundzwanzig lange Jahre, ausgefüllt mit allem, was das Leben für einen bereithält an Freude, Leid, Hoffnung, Liebe, Sorge und Glück. Er war in einer wunderbaren Zeit geboren worden, voller technischer und biologischer Revolutionen, die den Menschen weit über sich hinauswachsen ließ und eine glorreiche Zukunft versprach – wenn der Mensch auch noch die damit verbundenen sozialen Umwälzungen meisterte.

Hier war nur seine engste Familie versammelt. Von Freunden, Bekannten, übrigen Verwandten und Geschäftspartnern würde sein Hologramm sich verabschieden. Von den anderen – Ärzten, Anwälten, Beamten – hatte er sich bereits persönlich verabschiedet.

Jeremy O’Donell, geboren 2058, zu versterben 2186, blickte in die Runde seiner schweigenden Trauergemeinde und hob beide Hände von den Armlehnen, die Handflächen nach oben, als wolle er sie umarmen. Er lächelte.

Nun hieß es Abschied nehmen.

Jerzy, sein Schwiegervater, machte den Anfang. Er war nie geklont worden – und hatte auch sonst nicht viel unternommen, um sein wahres Alter von stolzen 132 Jahren zu kaschieren. Er nahm Jeremys Rechte in seine beiden Hände und schüttelte sie lang und kräftig.

»Mach’s gut, mein Junge«, sagte er, »ich werde dir bald folgen!«

Als Nächstes kam Rebecca, seine Schwiegermutter, gerade erst auf Zweiunddreißig geklont, in ihrem Schlepptau die drei Kinder aus ihren anderen drei Ehen, das vierte unterwegs – in der künstlichen Gebärmutter. »Sagt schön Auf Wiedersehen!«

Lucille – selbst Mutter von zwei Kindern –, Ephraim, ihr älterer Halbbruder und Marco, mit Zwölf der Jüngste, taten wie geheißen, etwas peinlich berührt; nur Marco verabschiedete sich mit einem fröhlichen »Ciao!«, als erwarte er, seinen »Onkel« demnächst wiederzusehen.

Rebecca selbst war unverkennbar Myriams, seiner Frau, Mutter. Der dunkle Typ – groß, schlank, rassig, sexy. Wie körperbewusst sie war, demonstrierte sie wieder aufs Neue: überlange Beine, ein rundes knackiges Gesäß, der Schwerkraft trotzender üppiger Busen über einer Wespentaille. Die Zahl ihrer Ehen und Wiedergeburten – und nicht zuletzt ihrer Bankkonti – sprach für den Erfolg ihres Lebensstils.

»Mein lieber Jeremy«, flötete die nunmehr Zweiunddreißigjährige. »Wenn du nicht schon an meine Tochter vergeben wärst, würde ich dich auf der Stelle heiraten!« Sie kraulte ihn neckisch am Hals; auf ihren langen violetten Fingernägeln blitzen Diamanten. »Aber man kann ja nicht alles haben, oder ...?«

Sie sah sich dabei fragend um, und Jeremy wusste nicht so recht, meinte sie sich oder ihn.

»Bye!« Sie drückte ihm ihr Markenzeichen auf die Wange. »Bye«, sagte auch Jeremy. »Pass auf dich auf, Rebecca.«

Rebecca lachte etwas zu laut. »Tue ich das nicht immer?« Und machte einen hüftschwingenden Abgang.

Jeremy streckte die Hände nach seiner Erstgeborenen aus. »Mona, mein Kind!«

Mona, jetzt 68 – physisch wie auch psychisch – trat auf ihn zu, Tränen in den Augen. Sie war Myriams leibliches Abbild. So würde ihre Mutter in etwa zwanzig Jahren aussehen; so hatte ihre Mutter ausgesehen, als sie mit 62 geklont worden war.

Mona war ihr erstes Kind gewesen, eine Tochter ganz nach seinem Wunsch. Die beispiellos glückliche Ehe ihrer Eltern vor Augen hatte sie jedoch nie geheiratet; vielleicht war sie auch nur zu sehr in ihren Vater verliebt gewesen, so wie er in sie, und hatte jeden möglichen Partner an ihm gemessen. Was sie aber nicht abgehalten hatte, auf ihre reifen Tage einen Sohn zu zeugen – Raul, einen kleinen schwarzgelockten Bengel wie aus Michelangelos Deckenfresko in der Sixtinischen Kapelle. Mona hob Raul auf Jeremys Schoß.

»Bist du krank, Opa?«, fragte der dreijährige Knirps.

»Ja, dein Opa ist sehr krank.«

»Musst du sterben?«

»Alle müssen sterben ...«

»Aber du kommst in den Himmel?«

»Das hoffe ich sehr.«

»Dann werde ich dich dort besuchen.«

Eine hilfreiche Hand hob Raul von Jeremys Schoß, als Mona sich schluchzend an seine Brust warf. »Paps, Paps!«

»Mona, mein Kleines –« Jetzt packte es auch Jeremy, während Erinnerungen an seinem geistigen Auge vorbeizogen. Er streichelte beruhigend über Monas Haar. Küsste ihre Stirn.

»Was mache ich nur ohne dich, Paps?« Neuerliches Schluchzen.

»Ich bin immer für dich da, Kleines. Solange du dich an mich erinnerst. Hier«, er drückte ihr etwas in die Hand, »ein Talisman. Die alten Chinesen haben auch mit den Ahnen gesprochen, wenn sie Rat suchten.« Jeremy wischte erst Mona, dann sich die Tränen aus den Augen.

Wenn alles vorbei wäre – und ihre Sicht von Trauer ungetrübt –, würde Mona in ihrer Hand einen kleinen schwarzen Würfel mit einer Botschaft finden.

Jeremy winkte sein zweites Kind zu sich heran.

Johnny, ein schlaksiger hochgewachsener Junge von 26 Jahren, den Myriam gleich nach ihrer ersten Wiedergeburt auf die Welt gebracht hatte, stelzte in metallklirrenden grellen Klamotten daher, ein einziges Orchester aus Tönen und Farben. Den Schädel hatte er bis auf eine zentrale Haarlocke geschoren, und mit mystischen Symbolen tätowiert. Jeremy schloss im Geiste die Augen.

»Howdy!«, begrüßte er seinen Vater. »Nimm’s nicht tragisch. Diese Welt ist sowieso Scheiße!«

»So habe ich auch einmal gedacht«, sagte Jeremy und erinnerte sich zurück an seine eigene rebellische Jugend. Na ja, der Altersunterschied war vielleicht arg groß. Ein Jahrhundert! Aber die Jugend würde wohl immer dagegen sein.

»OK. Wait and see.« Johnny schnalzte mit den Fingern. »Vielleicht steige ich noch in deine Fußstapfen ...«

»Du musst deinen eigenen Weg gehen, mein Junge«, sagte Jeremy bestimmt. »Gehe ihn mit Vernunft – und mit Gefühl. Sei Mutter eine Stütze. Sie braucht euch alle.«

»Jo!« Johnny tänzelte um seine Achse. »See you!«

»See you«, gab Jeremy zurück. Und schloss für einen Moment tatsächlich die Augen.

Blieb nur noch Myriam. Seine Frau. Sein Ein-und-Alles. Seit 69 Jahren. Die er mehr liebte als alles auf der Welt. Die er nun allein lassen musste – wie hatte es an ihrem Hochzeitstag geheißen? Bis dass der Tod euch scheidet ...

Seine wunderbare Myriam. Da stand sie nun vor ihm, diese wunderschöne große, schlanke, junge Frau von 47 Jahren in ihrem schlichten, eleganten Kostüm, das ihre weiblichen Rundungen betonte, mit dem wie aus weißem Carrara-Marmor gemeißelten Antlitz, mit der geraden klassischen Nase, den vollen roten Lippen, den hochliegenden Backenknochen, darüber die ausdrucksstarken Augen mit grünlicher Iris, langen Wimpern und geschwungenen Brauen, eingerahmt von glattem, seidig schwarzem Haar, das sie im Pagenschnitt trug. Makellos, perfekt – ein Modell für die Ewigkeit.

Jeremy nahm ihre Hände in die seinen, sah sie nur an – und sagte nichts. Für lange Zeit. Zu aufgewühlt war sein Inneres, zu klamm seine Kehle, um irgendeinen Ton hervorzubringen. Was sollte er ihr sagen? Dass sie sich einen anderen suchen sollte? Rasch wieder heiraten? Ein weiteres Kind zeugen? Ihn vergessen sollte? Wenn er sie liebte – und das tat er aus vollem Herzen – müsste er ihr dies alles sagen. Aber er konnte nicht. Zu intensiv war das Gefühl des Verlusts. Zu übermächtig.

Die Gurte, mit denen er angeschnallt war, ließen kaum zu, dass er sich zu ihr vorbeugte; doch war es Myriam, deren Oberkörper sich nun an seinen presste, ihr heißer Atem, der sein Gesicht streifte, ihre Lippen – ihre Zunge –, die seine suchten und innig festhielten.

»Myriam ...«

»Jeremy ...«

Es war ihre letzte Umarmung.

»Ich liebe dich!«

»Ich liebe dich!«

»Immer ...«

»Ewig ...«

Es war alles gesagt.

 

*

 

»Es besteht keine Aussicht auf Heilung?«

Die Frage, die Jeremy O’Donell stellte, war rein rhetorisch; darum richtete er sich auch nicht erwartungsvoll in seinem Krankenbett auf, sondern blieb resigniert liegen – er kannte die Antwort.

Das, was ihn plötzlich befallen hatte, war erstmals vor einem halben Jahr aufgetreten und noch kaum erforscht. Heimtückisch wie es war, äußerte es sich als harmlose Grippe, die nach erfolgversprechender Behandlung in einer Lähmung der Gliedmaßen, kurz darauf in einem Versagen der Organe und hierauf in einem rasanten Zerfall der Gehirnzellen mündete. Tödlich natürlich.

Innerhalb von Tagen.

»Nicht mehr in diesem Leben«, sagte der Arzt. Da half auch keine noch so fortschrittliche Nano-Medizin.

»An der Diagnose ist nicht zu rütteln?«

»Doppelt und dreifach gecheckt.« Reiner Zufall, dachte der Arzt, dass wir die Krankheit so früh entdeckt haben. Bei den meisten Befallenen hatte man sie erst im Spätstadium diagnostiziert, wenn nicht nach deren plötzlichem Ableben.

Jeremy O’Donell wusste dies alles; er wollte es nur noch einmal gefragt haben – ein letztes Mal.

»Wenn Sie weiterleben wollen«, sagte der Arzt, »gibt es nur noch das Klonen. Da müssten Sie sich schnell entscheiden. Wenigstens für einen Brain-Scan. Wenn erst Ihr Gehirn befallen ist, können Sie nur noch als – geistiger Krüppel weiterleben. Oder –« Er unterbrach sich. »Von wann stammt Ihre letzte Sicherheitskopie?«

»Von ’79.«

»Oder auf die letzten sieben Jahre verzichten«, lautete die Alternative.

Aber eigentlich stand Jeremys Entschluss bereits fest.

»Also ein Brain-Scan«, konstatierte er.

»Das einzig Richtige, alter Junge«. Der Arzt klopfte seinem 92jährigen Patienten aufmunternd auf die Schulter. »Bis Sie wieder dieses Alter erreicht haben, gibt es dieses Virus schon längst nicht mehr!« Er lachte. »Das wievielte Mal wäre es dann?«

»Das dritte«, antwortete O’Donell.

Er dachte an die ersten beiden Male. Mit Siebzehn war er durch einen Verkehrsunfall ums Leben gekommen; da war er zwangsgeklont worden, dank der für Minderjährige obligatorischen jährlichen Brain-Scans hatte er nur acht Monate seiner Erinnerung verloren – und, natürlich, die nächsten sechzehn Monate nicht miterlebt, während sein Klon bis ins physische Alter von Siebzehn herangezüchtet worden war, bereit für den Memory-Feedback. Die Versicherung des Unfallverursachers hatte die Kosten übernommen, und vom Schadenersatz war genügend übrig geblieben, um sein Studium zu finanzieren. Das zweite Mal mit Achtundfünfzig, als er seine neunzehnjährige Frau kennen gelernt hatte. Eine steile Karriere verschaffte ihm die finanziellen Mittel dazu – und das Gefühl, zu alt für dieses Mädchen zu sein, den Anstoß. Dreiundzwanzig zu Zwanzig war doch ein besseres Verhältnis; so jedenfalls dachte er damals. Als er schließlich 65 und sie 62 wurde, dachte er anders. Da bat er sie, sich klonen zu lassen – auf Zwanzig.

Nun war er Zweiundneunzig – und sie Siebenundvierzig: ideal für ein drittes Mal. Er hatte insgesamt 128 Jahre gelebt – in etwa das Durchschnittsalter eines normalen Sterblichen, der Mitte des 21. Jahrhunderts das Licht der Welt erblickt hatte. Kein Grund abzudanken!

Aber genau das hatte er vor: abzudanken. Er sagte es.

 

 

Am steifen weißen Kragen und dem auf der Brust baumelnden Corpus Christi erkannte er, dass der Priester der Römisch-Katholischen Kirche angehörte. Wahrscheinlich hatte man in seinen Akten den Taufvermerk gesehen – und seinen Austritt geflissentlich übersehen. Wer war heutzutage und hierzulande noch bekennend – außer Esoterikern? Und außer den Neu-Christen, die den wiederauferstandenen Heiland feierten – im Web.

»Mein Sohn«, verkündete der Priester salbungsvoll, »ich bin der Hirte, der dich auf deinem letzten Weg begleitet, in der Herde von Gottes Schäflein, auf dass du frei von Schuld ins Himmelreich kommest. Möchtest du beichten?«

Jeremy O’Donell mochte nicht. Er verlangte nach anderem Beistand.

 

Der Kybernetiker war der No-Nonsense-Typ: Ihn interessierte nicht das Seelenheil seiner Klienten, sondern das Honorar auf seinem Konto.

»Eine Gruft für zwei, sehr wohl. Hundert Jahre, sagten Sie?«

Jeremy nickte.

»Also zweihundert Mann-Jahre, um genau zu sein. Hundert für jeden bei gleichzeitiger Einsargung – äh, Einspeisung. Im Maximum Zweihundert für Sie und Null für den oder die andere Verstorbene/n, je nachdem, wann und ob er/sie die Gruft belegt. Verstehe ich Sie so richtig?« Er sah O’Donell forschend an.

»Richtig.«

»Gut. Wir von Happy Afterlife Incorporated unterscheiden aktiv oder passiv«, deklamierte er weiter.

»Nun, ich hatte an aktiv gedacht – was meinen Sie mit passiv?«

»Passiv bekommen Sie fürs halbe Geld fünfhundert Jahre – ich wiederhole Fünf-Null-Null«. Der Kybernetiker ließ die Zahl auf der Zunge zergleiten.

»Was bedeutet das für mich?«

»Wer immer will, kann sie während der nächsten fünfhundert Jahre besuchen, so oft und so lange er mag. So lernen Sie die Enkel Ihrer Enkelkinder kennen, die Ururururenkel, ganze Generationen. Vielleicht bekommen Sie dann Besuch von den Sternen, wer weiß ...« Seine Provision für diese Variante schien verlockender für ihn zu sein als die Leistung für den Empfänger.

»Und ich – was mache ich außerhalb der Besuche?«

»Dann sind Sie passiv – sozusagen tot.«

»Aktiv heißt, ich kann besuchen und besucht werden nach Lust und Laune?«

»Richtig.«

»Im virtuellen Raum.« Keine Frage, eine Feststellung nur.

»Im virtuellen Raum.«

»Was passiert bei einem Crash?«

»Von unseren Klienten existiert eine fortlaufende Sicherheitskopie.«

»Und wie sicher ist die Sicherheitskopie?«

»Sicherer als der Tod«, beliebte der Mann von Happy Afterlife zu scherzen.

»Aktiv also«, resümierte O’Donell. »Wenigstens im Jenseits ...«

»Ja, da sind Sie voll aktiv – unter Ihresgleichen. Im Web dagegen ...«

»... bin ich nur ein Geist«, ergänzte O’Donell. Oft genug war er einem begegnet. Keinem, den er gekannt hätte, aber manchem, den er im Web kennen lernen sollte – und später zu seinen Bekannten zählen würde. Es gab kaum einen Ort im Web, kaum einen Schauplatz des Geschehens, an dem sie – die Geister – nicht herumstanden, neugierig mitverfolgten und – kommentierten. Sie waren wie Avatare, virtuell immateriell sozusagen: konnten kommunizieren, aber nicht agieren mit den real Lebenden. Das Web war bereits Tollhaus genug – seine Bühne fasste gut die Schauspieler, das Publikum hatte sich mit den Stehplätzen zu begnügen.

Der Kybernetiker maß ihn prüfend. »Noch Fragen?«

Jeremy O’Donell schüttelte den Kopf.

»Aktiv. Gut so. Ich arrangiere die Bestattung.« Er griff in seine Jackentasche, drückte O’Donell etwas Hartes, Kaltes in die Hand. »Das ist für Sie. Souvenir.«

O’Donell öffnete die Hand. Auf einem metallisch glänzenden Würfel von 10mm Seitenlänge stand etwas. Die Augen zusammenkneifend las er: Mit besten Empfehlungen. Und ihn rollend: Happy Afterlife! Verwundert sah er auf.

»Ihr Sarg«, lautete die knappe Erklärung.

Das also, dachte Jeremy, wird von mir noch übrig bleiben.

 

»Man kann es rechnen, wie man will«, erklärte sein Finanzberater geduldig, »wenn Sie Ihre Frau versorgt sehen möchten, und zwar bei einer menschenwürdigen Leibrente, liegt Klonen einfach nicht drin.« Er hob die Achseln, als wolle er sich für die herzlose Versicherungsmathematik entschuldigen. »Solange sie – nun, nicht wieder heiratet ...«

Seine Myriam wieder heiraten? Obwohl er den Gedanken daran verdrängt hatte, wusste O’Donell sehr wohl, dass sie mit ihren siebenundvierzig Jahren – jung, schön, intelligent, genmanipuliert und designergestylt, zudem mit der Erfahrung einer reifen Frau – willkommene Beute für jedes Mannsbild sein würde. Was aber, wenn sie an den Falschen geriete? Der es nicht wie er, Jeremy, neunundsechzig Jahre mit der gleichen Frau aushielt. Der nicht für sie sorgen, geschweige denn ihr ein drittes oder viertes Leben schenken würde.

Natürlich, hatte O’Donell überlegt, könnte er seine Investitionen auflösen und sich wieder klonen lassen, auf die Gefahr hin, nicht wieder im Berufsleben Fuß fassen zu können und schlussendlich von der Fürsorge leben zu müssen. Die augenblickliche Situation auf dem Arbeitsmarkt sah eher trostlos aus: Es galt schon fast als Privileg, eine bezahlte Arbeit zu haben – und sei es nur für fünfzehn Wochenstunden!

»Selbst wenn sie wieder heiratet«, meinte O’Donell, »ist die Leibrente ihre einzige Sicherheit. In einer Zeit wie dieser, wo Partnerschaftsverträge meist nur für ein Jahr abgeschlossen werden. Und es schon eine Seltenheit ist, wenn sie mehr als zweimal verlängert werden.«

»Ja, nichts mehr währt ewig«, sinnierte der Finanzberater.

»Außer vielleicht das Leben.« Oder der Tod, ergänzte Jeremy für sich.

 

»Und damit erkläre ich Sie, Jeremy O’Donell, kraft meines Amtes als regierungsamtlich bestellter Notar und Vertreter des Ministeriums für Gesundheit und Bevölkerung, mit finalem Brain-Scan durch die beauftragte Memory Transfer Group als »verstorben« im Sinne des Gesetzes.«

Ein Räuspern. »Ich werde dem Scan beiwohnen und dessen Vollzug beglaubigen. Ebenso werde ich über die gesetzlich zwingend vorzunehmende Löschung der vormaligen Gedächtnis-Speicherung und der Sicherheitskopie wachen. Ihr Erbgut – Stammzellen und jedwedes weiteres existierendes Biomaterial – wird gemäß Ihrer Verfügung vernichtet.«

Es klang, als werde die Guillotine scharf gemacht –

»Ich werde Ihr Testament vollstrecken.« – und das Fallbeil ausgelöst.

Sein Vollstrecker, die Miene todernst, verneigte sich – als letzte Huldigung an einen Lebenden – und sagte: »Gute Reise!«

Jeremy sah sie im Halbkreis vor sich stehen – Jerzy und Rebecca, Lucille, Ephraim, Marco, Mona mit Raul, Johnny neben Myriam.

Der Helm wurde herabgeklappt, das linke Handgelenk fixiert – Jeremy O’Donell winkte noch einmal mit der Rechten zum Abschied – dann machte er sich auf seine letzte Reise.

 

*

 

Im Augenblick des Todes durchlief er alle Stationen seines früheren Lebens; seine Erinnerungen waren aneinander gereiht wie in einem Film, der immer schneller abspulte, dann zerriss und ihn, umringt von Erinnerungsfetzen, in einem wirbelnden Strudel in ein schwarzes Loch sog – einem Tunnel ohne Ende, der im Nichts mündete.

Aus dem Nichts schälte sich die Gewissheit zu sein.

Dann ein Licht, das stärker wurde, ein Ton, der anstieg, das Gefühl für Schwere, das zunahm. Er spürte Gliedmaßen, die er nicht sehen konnte. Als er versuchsweise die Finger einer Hand krümmte, beschloss er, die Augen zu öffnen.

Über ihm der Himmel – und Wolken. Er schien darin zu schweben. Der Ton, den er anfänglich vernommen hatte, entpuppte sich als eine Abfolge von Lauten – wie Sphärenklänge. Ein böses Gefühl beschlich ihn. Nur nicht das, dachte Jeremy, kein Engel mit Harfe zur Lobpreisung des Herrn!

Er verlagerte sein Gewicht, um sich umzublicken. Was er sah, ließ ihn vor Schreck fast zu Boden stürzen – wenn ihn nicht hilfreiche Arme aufgefangen hätten. Schließlich hatte er fünf Meter hoch in der Luft geschwebt.

»Willkommen im Jenseits«, hörte er unter allgemeinem Lachen der Umstehenden. »Wir sind das Empfangskomitee. Mit besten Empfehlungen von Happy Afterlife.«

Er war umringt von einer Gruppe von Männern und Frauen, gekleidet in lange weiße Tuniken, auf der Brust ein Logo. Nicht anders als er selbst, wie Jeremy mit einem Blick hinab auf seinen Körper feststellte.

Nun erst nahm er seine weitere Umgebung wahr. Sie befanden sich auf einer Art Lichtung in einer von Bäumen und Buschwerk durchsetzten grünen Landschaft, nicht weit von ihnen ein kleiner See, in der Ferne Hügel und sogar Bergrücken. Die Sonne stand noch nicht hoch am Firmament; es mochte Vormittag sein.

»Wo sind wir hier?«, fragte er verwundert. »Kommt mir vor wie Schottland.«

»Wir nennen es Grünland«, sagte ein anderer.

»Ist alles so?«, fragte Jeremy. »Ich meine, ist das jetzt unsere neue Welt?«

»Oh, da gibt es Weißland, Wasserland, Bergland, Sandland.« Der Sprecher machte eine ausholende Bewegung. »Unsere Welt wächst mit jedem Neuankömmling ... aus allen Erdteilen ...«

»Komm, Bruder!« Eine dunkelhäutige ältere Frau nahm ihn an der Hand. »Wir zeigen dir dein neues Zuhause.«

»Jeremy – ich bin Jeremy«, sagte er. Dankbar spürte er den festen Griff seiner Führerin. »Ich bin Chazmina – Chaz.« Sie zeigte auf andere der Gruppe. »Bruder Egbert, Jean-Claude, Harry – Schwester Melinda und Jasmin.«

Sie schritten über das Gras; er konnte die Halme und das Erdreich unter seinen nackten Fußsohlen spüren. Wege sah er keine, Häuser auch nicht.

»Wo wohnen wir?«, fragte er.

»Nirgendwo und überall«, lautete die sibyllinische Antwort. »Wo immer du beschließt zu verweilen – und die Augen zu schließen.«

»Und schlafen?«

»Hier gibt es keinen Schlaf. Keine Nacht. Wenn die Sonne am einen Ende untergeht, steigt sie am anderen wieder auf.« Chaz lachte. »Hier gibt es vieles nicht. Keine Müdigkeit, kein Husten, kein Niesen, kein Atmen.« Sie sah Jeremy bedeutungsvoll an.

»Kein Atmen?«, fragte er verblüfft. »Ich atme doch!«

»Noch. Aber nur aus lieber Gewohnheit.«

Jeremy atmete tief ein; sein Brustkorb dehnte sich, aber es strömte keine Luft durch seine Kehle.

»Keine Notdurft ...«, fuhr Chaz schmunzelnd fort. »Kein Hunger, kein Durst, kein Essen, kein Trinken.«

»Kein – Sex?« Jeremy spürte, dass noch alles an ihm dran war.

»Nun«, unter Lachen und Kichern, »was Besseres als Sex ...«

Die ältere Dame arabischer Abstammung drehte sich zu ihm, nahm seine andere Hand, zog ihn an sich. Widerspruchslos ließ er geschehen, dass sie ihn umarmte und auf den Mund küsste.

Wie gefällt dir das? Er spürte einen geschmeidigen jugendlichen Körper mit strammen Brüsten an den seinen gepresst, warm und weich und duftend, und heiße Lippen auf seinem Mund. Nur ein kleiner Vorgeschmack! Er spürte, wie etwas von ihrem Wesen, ihrer Persönlichkeit, sich ihm eröffnete. Es war, als würde ein Stück ihrer selbst mit ihm verschmelzen wollen.

Chaz ließ ihn los und lachte hell, als sie seinen verdatterten Gesichtsausdruck sah. »Du bist noch Jungfrau. Du wirst es schon lernen.« Und dann: »Wie viele Jahre hast du?«

»Äh – hundert«, antwortete Jeremy.

»Dann hast du ja viel Zeit, Bruder«, sagte Jean-Claude. »Das ist hier wie eine Ewigkeit.«

 

Sie hatten sich ins Web eingeklinkt, nicht anders als in ihrem früheren Leben auch. Die Visualisierung genügte; eine andere unbekannte technische Einrichtung übernahm die Funktion des Neurochips an der Schädelbasis.

Sie – das waren Jeremy und einige seiner neuen Freunde – »Brüder und Schwestern im Geiste«.

Diese Besuche in der virtuellen Welt waren häufig, wenn auch meist nur kurz – fast »täglich«, um Kontakt zur wirklichen Welt zu halten: den Lebenden. Hier konnte man Nachrichten deponieren, wann und wo man jemanden zu sehen hoffte, und umgekehrt auch Botschaften empfangen von Angehörigen, die einen besuchen oder um Rat fragen wollten.

Das Web fungierte als Brücke zwischen den Welten.

Während die Lebenden darin ihr virtuelles Vergnügen suchten und gegen Gebühren interaktiv an dieser Pseudorealität teilnehmen konnten, mussten die Toten sich mit dem freien Status von Beobachtern begnügen, fähig zu kommunizieren, jedoch nicht zu agieren: nicht anders als Avatare, jene virtuellen Projektionen tatsächlich Lebender, die bisweilen stellvertretend für diese ins Web geschickt wurden. Und ebenso immateriell, Pixel, nur ohne Feedback.

Diese Erfahrung war zwar nicht neu für ihn, oft genug war er im Web Geistern begegnet; neu hingegen war, dass er nun selbst die Rolle des Geistes spielte. Das wurde ihm schmerzlich bewusst, als er Myriam zum ersten Mal wieder sah und sie in die Arme schließen wollte. Er ging glatt durch Myriam hindurch.

Trotzdem war die Wiedersehensfreude groß – als trennten Jahre sie. Es ging ihr, den Umständen entsprechend, gut, sie und die Kinder waren wohlauf; Mona war etwas depressiv, aber das gehörte wohl zu ihrem Wesen, spätestens seit sie von Zuhause weggegangen war.

Jeremy berichtete seiner Frau – Exfrau? – von seinem neuen Reich im »Jenseits«, von den wundersamen Erfahrungen, die er bislang gesammelt hatte: dass man keine körperlichen Bedürfnisse habe, nur geistige – dass es ein Leben sei ohne physischen Schmerz, aber auch ohne physischen Lustgewinn; dass sich alles auf einer psychischen Ebene abspiele, Freud und Leid; dass man sich äußerlich so darstelle, wie man sich empfinde, und andere so sähe, wie diese sich gäben – oder wie man erwarte, sie zu sehen – größer, kleiner, jünger, schöner oder einfach so, wie man sei. Nur was im Innern vorgehe, das sei wahrhaftig: Kommunikation ohne Worte, Gefühle ohne den Mantel der Mimik oder Gestik. Wenn der Intellekt zweier Geister einander berührte oder gar miteinander verschmolz, gab es keine Lüge.

Man sehe, erklärte Jeremy nicht ohne Verzückung, alles in einem neuen Licht. Es mangele ihn an nichts – außer, natürlich, an ihr (aber letzteres sagte er nicht; er durfte sie nicht an sich binden). So sagte er nur: »– vermisse nur meine Familie und meine alten Freunde.«

Sie verabredeten sich für nächstes Mal. Gleicher Ort, gleiche Zeit – in zwei Tagen (das waren auch exakt zwei Sonnenaufgänge im Jenseits).

 

Chaz schien sich als seine neue Führerin berufen zu fühlen. Mit von der Partie waren noch Jean-Claude, im früheren Leben Künstler und Bohème, Harry, ein Farmer aus dem Mittleren Westen Nordamerikas (so eine Art Biologe, vermutete Jeremy), sowie noch zwei Brüder und noch eine Schwester, die sich ihnen angeschlossen hatten.

Die Senioren fassten sich an den Händen und hoben ab. So flogen sie in V-Formation, um ihr Reich aus fünfzig Metern Höhe zu erkunden – diesmal die Wüstenregion mit dem angrenzenden Meer.

Wie im Märchen mit dem fliegenden Teppich, dachte Jeremy. Das alte Leben mit den täglichen Verpflichtungen ebenso wie Vergnügungen schien bereits weit weg und entfernte sich zunehmend. Wenn nur Myriam an meiner Seite wäre.

Er dachte an das, was Sex mit Myriam hier bedeuten würde: die tatsächliche Verschmelzung zweier Liebenden. Jetzt, wo er von dieser Frucht gekostet hatte, ließ ihn der Gedanke nicht mehr los.

War Chaz vielleicht Eva, die ihn mit dem Apfel der Wahrheit verführt hatte, und Jean-Claude die Schlange? War Happy Afterlife das Paradies? Wo alle nur eine Zunge sprachen, eins mit sich und der Natur? Was, wenn man sündigte? Würde man aus dem Paradies verstoßen? Gab es ein Dirty Afterlife?

Wie mochte die Hölle aussehen?

Es waren dies Gedanken, die ihn noch lange verfolgen würden – und die er nie würde ganz abschütteln können. Vielleicht war dies der Grund für eine neue Gläubigkeit, die ihn erfüllte: an etwas Höheres, Übergeordnetes.

Was passierte, wenn die hundert Jahre um wären?

So verflossen die Tage, die Wochen – waren es Jahre? Jeremy wusste es nicht; die Zeit schien ihre Bedeutung verloren zu haben, was zählte, waren Erfahrungen, Eindrücke, Wissen. Diese türmten sich zu einem kolossalen Reservoir, das endlos aufnahmefähig schien – nichts fiel dem Vergessen anheim. Und ihre Welt wurde immer größer; kannte sie überhaupt Grenzen? Käme der Tag, an dem sie, die scheinbar Toten, zu neuen Ufern aufbrechen würden, jenseits des Himmels, in unbekannte Regionen der Weltenräume, die Schöpfung durchstreifend?

 

Jeremy hatte jeden Zeitbegriff verloren.

Als er Myriam diesmal wiedersah, eilte er mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Selbst die Gewissheit, dass er mit seinem Astralleib ihren virtuellen Körper nicht wirklich umarmen konnte, hätte ihn nicht daran hindern können, es reflexartig zu tun: eine Geste, die er sich nie würde nehmen lassen.

»Myriam!«, rief er schon von weitem. »Wie schön, dich zu sehen!«

»Jeremy!«, rief sie. »Da bist du ja!«

Er drückte sie fest an sich, überglücklich. Drückte sie an sich?! Jeremy fasste sie an den Oberarmen – fasste sie an den Oberarmen?! – und hielt sie verwundert von sich. War er übergeschnappt? Träumte er elektronische Träume? Oder – bedeute dies ...?

»Myriam«, sagte er stockend, »was machst du hier?«

»Was du auch machst, Jeremy.«

»Und was mache ich?«

»Du lebst unter den Toten.«

»Dann bist du – ?«

Myriam nickte. »Weißt du noch, was wir uns in unserer Hochzeitsnacht geschworen haben? Heute vor genau 70 Jahren ...«

»Dass wir beisammen sein wollten – für immer ...«

»... und ewig.«

 

 

Copyright by Helmuth W. Mommers. Erstveröffentlichung in SEX, LOVE, CYBERSPACE, Blitz-Verlag 2003. Direktbezug beim Autor Helmuth W. Mommers zu Euro 10.00 (portofrei in D)

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240419191051cfc3cd19
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Die Charaktere dieser Geschichte, sowie alle Handlungen sind geistiges Eigentum des Autors. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Orten oder Handlungen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Der Autor verfolgt kein kommerzielles Interesse an der Veröffentlichung dieser Geschichte.

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Erstellt: 01.02.2009, zuletzt aktualisiert: 28.12.2018 09:08, 8191