Im Himmel (Autor: Jakob Schmidt)
 
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Im Himmel

Autor: Jakob Schmidt

 

Die Geschichte ist aus der Anthologie:

 

Michael Schmidt - Zwielicht2 und wurde für den Vincent Preis 2010 nominiert.

 

 

 

 

 

Ich lasse den Hammer niedersausen. Die Aufschläge zerbeißen die Stille Stück für Stück, wie Sprünge in dickem Glas. Als ich den Nagel versenkt habe, blicke ich schnell auf, um ein wenig von dem Nachhall in meinen Ohren mitzunehmen, um die Welt beim Singen zu erwischen. Die Bäume und Büsche um den See kleben schlaff am Himmel. Die schwüle Luft macht alle Bewegungen träge: Insekten, Enten, eine sich im Schlaf wälzende Plastiktüte.

 

Während ich dem Wabern metallischer Engelsstimmen nachspüre, huscht etwas vor dem glattgrauen Himmel vorbei. Unterarmlange Kruzifixe mit Schwalbenschwänzen. Bevor ich Genaueres erkenne, werden die Insekten vom Suppengrün des Uferwäldchens geschluckt.

 

Einen Moment lang spüre ich tastende Fühler im Nacken. Ich wedele hektisch mit der Hand hinter meinem Kopf, und als ich nichts ertaste, verebbt der Ekelanfall. Ich ziehe mir den Reißverschluss bis ans Kinn.

 

 

 

 

Während ich mir um elf rum mein zweites Bier genehmige, klingelt das Telefon. Sibylle ist dran, die Mutter des Schulfreunds, bei dem Lena heute schläft. Beziehungsweise nicht schläft. Im Hintergrund höre ich meine Tochter krampfhaft heulen. Sybille erklärt die Lage in diesem speziellen genervt-verständnisvollen Ton unter Eltern.

 

Ja, klar, in Ordnung, sage ich. In einer Dreiviertelstunde bin ich da.

 

Ein paar hundert Meter vom Haus entfernt halte ich, weil ich etwas im Wald sehe. Da ist es: ein kleiner, orangefarbener Punkt, der zwischen den Bäumen aufblitzt, Kreise beschreibt, wieder verschwindet. Kiffer am See. Als ich das Fenster runterkurble, höre ich Folkrock aus dem Gettoblaster, Murmeln und Frauenlachen. Vor einem guten Jahr sind einmal ein paar von diesen Typen kichernd bei uns ums Haus geschlichen. Gackernd auseinandergespratzt, sobald ich das Wohnzimmerlicht angemacht habe. Iris ist aufgewacht und hat einen scheußlichen Hustenanfall gekriegt, und das hat Lena aufgeweckt, und dann ist das Geheule losgegangen ...

 

Stinksauer steige ich aus und stapfe Richtung Ufer, der Musik entgegen. Auf halbem Weg wird mir klar, wie blöd ich mich verhalte. Die Typen haben mir doch nichts getan.

 

Es sind drei. Einer sitzt direkt am Ufer und schaut aufs granitschwarze Wasser, die anderen beiden tanzen, noch nicht eng, aber nah dran. Ein Schlaks im Holzfällerhemd und ein niedliches Dreadlockmädchen. Sie hat den Joint in der Hand und zeichnet damit Muster in die Luft. Ich sauge den schwachen Haschischduft durch die Nase ein.

 

Eine Weile beobachte ich die beiden, und dann fällt der Blick des Mädchens mit einem Mal auf mich. Sie starrt mich über die Schulter des Schlaks’ hinweg an.

 

»Da ist einer«, sagt sie, und er dreht sich taumelnd um. Die beiden schauen genau zu mir, den Mond im Rücken, sodass ihre Gesichter wie Tintentropfen aussehen. Das Herz pocht mir bis zum Hals, und ich versuche, nicht mal zu atmen.

 

»Da ist nichts«, sagt er ein bisschen lallend. Der am Ufer schaut über die Schulter.

 

»Siehst du den nicht?« Das Dreadlockmädchen und ich starren einander noch immer an.

 

»Das ist ne Birke«, erklärt der Schlaks mit zittriger Tapferkeit.

 

Sie geht einen einzigen Schritt auf mich zu, bleibt dann wieder stehen und legt den Kopf schief. Ich sollte mich zeigen und den dreien erklären, dass alles bestens ist. Aber ich bin wie angenagelt. Ich habe das Gefühl, dass der ganze Wald mit mir zusammen späht, als wäre ich Teil einer konvexen Linse. Ein elektrisches Brummen klingt in meinen Ohren. Ein Knacken wie von stockdünnen Gliedern.

 

Der dritte Kiffer rappelt sich auf und geht zu den Tänzern. Die beiden fahren erschreckt herum und lachen dann laut los, als sie ihn sehen, und im selben Moment mache ich auf dem Absatz kehrt und renne zum Auto. Schnaufend knalle ich die Tür hinter mir zu und lege die Stirn ans Lenkrad. Was für ein Scheiß. Was ist los mit mir? Nachts im Wald Schulkinder erschrecken? »Bist nur neidisch«, brumme ich mich an.

 

 

 

 

Lena bricht in einen neuen Tränenschwall aus und stürzt sich mir in die Arme.

 

»Hat aber ein bisschen gedauert, was?«, meint Sybille ungnädig. Ich nicke, entschuldige mich und tätschele Lena den Rücken.

 

»Schon gut, du hast es ja auch nicht einfach.«

 

Mit Lena auf dem Arm und väterlich warmen Gefühlen im Bauch trapple ich durchs Treppenhaus. Im Auto beruhigt sich meine Tochter ein bisschen und erzählt, dass sie von Iris geträumt hat und von bösen Tieren. Die Einzelheiten kriege ich nicht mit, weil sie noch immer hickst und schnieft. Ich hoffe die ganze Zeit, dass sie im Auto einschläft, aber sie hält die verquollenen Augen mit aller Kraft offen. So schlimm war es echt lange nicht mehr.

 

»Hier haben gerade Leute getanzt«, sage ich in dem Versuch, sie abzulenken, und mache eine Kopfbewegung zum Fahrerfenster.

 

»Was für Leute?«, fragte Lena misstrauisch.

 

»Junge Leute. Ich hab ihnen Hallo gesagt.«

 

»Sind die noch da?«

 

Ich halte an und kurbele das Fenster runter, aber ich höre keine Gettoblastermusik und sehe keine Jointglut. Wahrscheinlich habe ich die drei verjagt.

 

»Die sind wohl schlafen gegangen«, sage ich strategisch geschickt, aber Lena ignoriert den Wink mit dem Zaunpfahl.

 

»Ich will zuhause auch noch tanzen«, erklärt sie stattdessen.

 

Also legen wir zuhause eine von Lenas Kassetten ein und tanzen völlig aus dem Takt, sodass der runde Wohnzimmerteppich übers Linoleum rutscht. Lena lacht hysterisch und verlangt nach meiner Beihilfe für akrobatische Kunststücke, und ich mache alles mit, bis weit nach Mitternacht, bis ihr Kopf knallrot ist und sie irgendwo zwischen Lachen und Heulen feststeckt. Bis sie erschöpft genug ist, dass ich sie widerstandslos ins Bett tragen kann. Als ich das Licht ausmache, murmelt sie: »Iris ist im Himmel«, mit einem kleinen Fragezeichen dran.

 

Ich lehne die Tür an. Ja, das habe ich Lena erzählt. Hätte ich sagen sollen: Unter Erde?

 

Ich gehe durchs Haus und mache die Lichter aus. Im Schlafzimmer stehen noch immer volle Umzugskartons. Die Spüle hängt durchgebogen in einer improvisierten Holzkonstruktion.

 

Deine Mutter war mal. Finito. Hätte ich natürlich auch sagen können.

 

Im Wohnzimmer halte ich inne und lausche nach den Kiffern am See. Ein leises, elektrisches Brummen erfüllt die Luft. Ich schalte die Musikanlage ab, aber das Geräusch bleibt. Ich trete ans Fenster, und das Brummen drillt sich durch meinen Zahnschmelz. Ein unterarmlanger Schatten klebt außen am Glas. Im selben Moment, in dem ich ihn sehe, lässt er sich ins Dunkel zurückstürzen. Ich schnappe nach Luft und will die Jalousie herunterlassen, zucke dann jedoch voll Widerwillen zurück. Am liebsten möchte ich nichts berühren, weil alles sich plötzlich als vielgliedrig und krabbelnd entpuppen könnte.

 

Ich bezwinge meinen Ekel, schließe die Finger ums Zugband und sperre die Nacht mit ihren Insekten aus.

 

 

 

 

Am Montag darauf fahre ich, wie jeden Werktag, mit dem Lieferwagen nach Berlin rein, dessen Plattenbauviertel ich von Zuhause aus dem Fenster sehen kann. Hinten drin rappelt alles, was ich für meine Arbeit brauche: Kisten voller Schnapp- und Käfigfallen und Gift, eddingbeschriftete Kanister, in denen ätzende Reinigungsmittel schwappen, ein Industriestaubsauger, eine verschmierte Chemikalienpumpe, Atemfilter und Gasmasken, die ganze Heimwerkerausstattung zum Bohren, Schrauben, Schleifen, Sägen, Hämmern und natürlich die Blechschienen, bestückt mit fünfzehn Zentimeter langen Nägeln, die ich für jede Dachkante, für jede Fensterbank passend anfertige und anbringe. Flugrattenspieße. Normalerweise kümmern sich Dachdecker um so was, aber ich biete einen Spezialtarif, beinahe zum Selbstkostenpreis. Alles, um diesen Pestbringern das Leben schwer zu machen, sie davon abzuhalten, ihren ätzenden, giftigen Kot an die Hauswände zu schmieren. Manchmal stelle ich mir die Dinger gerne als Fallen vor, male mir aus, wie ein gedrungener grauer Taubenleib sich niederlässt und verblüfft zuckt, wenn sich das angespitzte Metall lautlos hineinbohrt und es rot statt grauweiß an den Hauswänden herabregnet. Schaschlik, blutig.

 

Neben mir wippt Lena im unregelmäßigen Takt des rissigen Asphalts mit, in Gedanken versunken, mit senkrechter Stirnfalte. Ich biege in eine Sackgasse zwischen unverputzten, halbleeren Wohnhäusern und halte direkt am Zaun vor der Kita. Mit einem Kuss auf die Wange übergebe ich die schweigsame Lena an die Erzieherin.

 

Heute bringe ich Flugrattenspieße bei einer Neuköllner Ureinwohnerin an, einer alten Dame in Klocks und beigefarbenem Kleid. Sie hat lappige blassrosa Haut, strahlt aber eine gewisse bürgerliche Würde aus. Wahrscheinlich hat sie die Einschläge der Kugeln in ihrer Hausfassade noch mit eigenen Ohren gehört. Ich lasse mich von ihr gleichmütig als junger Mann bezeichnen. Auch mit Ende dreißig ist man ein junger Mann, selbst wenn man einen Vollbart und eine fünfjährige Tochter hat.

 

»Arbeiten Sie für den Vermieter?«, fragt die Alte mich misstrauisch, während ich den Oberkörper aus dem winzigen Toilettenfenster winde, um den Außenrahmen auszumessen, unter dem lange, weiße Streifen wie auf einem pastosen Gemälde zu sehen sind. Trotz der Filtermaske atme ich flacher.

 

»Freiberuflicher Kammerjäger«, schnaufe ich durch das Papier vor meinem Mund.

 

»Was wird das kosten?«

 

»Machen Sie sich keine Gedanken. Zahlt die Hausverwaltung.«

 

»Sind Sie sich da sicher?«

 

Ich schnaube und winde mich mit einer Halbdrehung zurück in das winzige Badezimmer, das mit uns beiden völlig überfüllt ist. Es riecht nach einer Mischung aus Babytüchern und angefaultem Mensch. Sie mustert mich aus kleinen Augen, ihre Unterlippe hängt links ein wenig herab. Ich stelle mir vor, wie es aussähe, wenn dort eine krumme Zigarette stecken würde.

 

»Keine Sorge. Ich hab schon oft für ihre Hausverwaltung gearbeitet. Glauben Sie mir, für die ist es mehr Arbeit, mich zu ...« Ich will »bescheißen« sagen, reiße mich aber am Riemen. »Das sind Peanuts.«

 

»Na ja«, erwidert sie skeptisch.

 

Während sie vor mir durch den vergilbten Flur schlurft, um mich zur Wohnungstür rauszulassen, knurrt sie noch: »Die Fassaden sehen ohnehin aus, als hätte man an ihnen runtergekackt. Wozu da der Aufwand.«

 

Ich lache. »Stimmt schon. Aber Taubenkot kann schwere Lungenkrankheiten verursachen. Glauben Sie mir, sie möchten nicht, dass das Zeug bei ihnen zum Fenster reinzieht.« Die letzten Worte kommen gepresst.

 

»Sie fürchten sich vor Tauben. Die Menschen wissen heutzutage nicht mehr, was wirkliche Angst ist«, erwidert die Alte. Es klingt nicht mal abfällig, nur gelinde erstaunt.

 

»Ja«, erwidere ich und trete hinaus. Ich schüttele ihr die Hand, die schlaff und kühl ist wie Winterluft. Sie legt die zweite Hand über meine. »Sie müssen keine Angst haben«, erklärt die Alte und schaut mich aus wässrigblauen Augen an. »Wir sind bald in Sicherheit.«

 

Ihre Worte klingen so aufrichtig, dass ich den Impuls unterdrücken muss, einfach laut loszuheulen. »Meine Frau ist daran gestorben«, quetsche ich hervor.

 

Ihre Mundwinkel sacken ein wenig herab. »Das tut mir leid. Hätte sie ein bisschen länger gelebt, wäre sie sicher gerettet worden.«

 

Gerettet?, will ich fragen, aber eine Mischung aus Rührung und Wut verstopft mir die Kehle. Ich fühle mich verstanden, durchschaut, bloßgestellt.

 

Sie tätschelt mir die Hand. »Aber wir, Sie und ich und die anderen – wir werden gerettet. Es ist schon alles vorbereitet. Warten Sie’s ab.« Sie lässt meine Hand los. »Danke für Ihre gute Arbeit.« Damit schlurft sie in ihre Wohnung zurück und lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

 

Ich starre auf die Tür. Verrückte Hexe. Wahrscheinlich bei irgendeiner Sekte. Benommen poltere ich durchs Treppenhaus runter. Es sieht aus wie das Treppenhaus in unserer alten Dachgeschosswohnung, wo der Kotstaub durch die Dielenritzen gerieselt ist und sich in Iris’ Lungen gefressen hat.

 

Etwas erschreckt mich so sehr, dass alles in mir sich zusammenzieht. Es hockt am Treppenhausfenster, lang, dünn und orangegepanzert, tastet mit den Fühlern über die Metallspitzen, die ich selbst letzte Woche dort angebracht habe. Im selben Moment, in dem ich es sehe, lässt es sich herabfallen, außer Sicht.

 

Ich renne auf den Innenhof und drehe mich hektisch um Kreis, aber das Insekt ist nirgendwo zu sehen. Ich höre knisternde Musik, einen Walzer. Sie dringt aus einem weit geöffneten Küchenfenster im dritten Stock, und hinter dem Fenster tanzt die Alte bedächtig mit einem imaginären Partner.

 

 

 

 

Ich verzichte auf meinen Nachmittagsimbiss und fahre schnellstens zur Kita. Bevor ich Lena weiter draußen rumlaufen lasse, muss erst mal geklärt sein, ob es hier irgendwelche frisch eingewanderten Was-auch-immer gibt. Giftige Riesenlibellen. Oder ob ich spinne.

 

Die türkische Erzieherin hat keine seltsamen Tiere gesehen – bei dem Nieselwetter waren die Kinder ohnehin kaum draußen. Ich binde Lena trotz ihres Protests die Schuhe zu, damit es schneller geht.

 

Wir sind beinahe zuhause, dort, wo die Straße nur durch eine löchrige Baumreihe vom grauen Wasser getrennt wird, als Lena sagt: »Da sind wieder die komischen Vögel, Bernd.« Ich atme zischend ein und halte, um hinauszuschauen.

 

Diesmal verschwinden sie nicht. Sie schweben dicht über der Seeoberfläche, eingerahmt von moosbewachsenen Ästen, sechs oder sieben. Eines von ihnen beschreibt weite, schnelle Kreise, während die anderen gemächlich, fast trunken auf und ab, hin und her schlenkern. Etwas an diesem Tanz kommt mir bekannt vor.

 

Ich kann beim besten Willen nicht erkennen, wie diese Insekten sich in der Luft halten – vielleicht schlagen ihre Flügel so schnell, dass sie unsichtbar erscheinen. Ihre unterarmlangen, orangefarbenen Leiber sind segmentiert wie die von Tausendfüßlern, und auf einem Drittel ihrer Körperlänge sprießen zwei stockdünne, leicht gekrümmte Beine oder Arme. Vorne haben sie deutlich sichtbare Mandibeln, hinten zwei lange, gerade schwarze Stacheln oder Fühler. Sie sehen an beiden Enden gefährlich aus.

 

Lena starrt mit halboffenem Mund auf die seltsamen Tiere. Als ich ihr die Hand von hinten auf den Kopf lege, zuckt sie zusammen. »Entschuldigung«, flüstere ich und streiche ihr über den Kopf, ohne die Augen von den Insekten überm See zu wenden.

 

Die Tiere führen ihren monotonen Tanz fort und steigen dabei langsam, Meter um Meter, weiter gen Himmel. Für einen Moment verschwinden sie hinter den Baumkronen, dann sind sie wieder zu sehen, steigen jetzt schneller, bis die dünneren Segmente ihrer Körper überblendet werden und sie so undeutlich erscheinen, dass mir die Augen vor Anstrengung wehtun.

 

Ich seufze. »Wir lassen heute die Fenster zu, Lena, ja?«

 

»Beißen die?«, fragt Lena besorgt.

 

»Kann sein. Ich glaube nicht. Wir können es heute Abend zusammen im Internet nachsehen, in Ordnung?«

 

Lena nickt unruhig, und ich lasse den Motor wieder an.

 

Als ich losfahre, erinnere ich mich: genau hier habe ich schon letzte Nacht gehalten. Bei den Kiffern.

 

 

 

 

Das Internet bietet endlose Bildergalerien exotischer Insekten – Riesenlibellen, armlange Stabheuschrecken, fliegende Kakerlaken – und ich muss mich bei den meisten Bildern schwer zusammenreißen, um sie nicht schaudernd wegzuklicken. Ich bemühe mich redlich, Lena beizubringen, dass Spinnen und Insekten an sich nichts Abstoßendes sind. Lena betrachtet die Abbildungen mit einer Mischung aus Misstrauen und Interesse.

 

Die fliegenden Kruzifixe finden wir nicht. »Wenn sie gefährlich wären, dann würde hier was über sie stehen«, erkläre ich, ohne so recht überzeugt davon zu sein.

 

Auch heute Abend wird getanzt – wir sind wie betrunken, wir müssen etwas wegstampfen, wegwedeln, wegschreien. Beim Atemholen fällt mir das elektrische Brummen in meinen Ohren auf, und in der Nachtschwärze, die sich wie eine Wand ans Fenster drückt, meine ich stockdünne Formen zu erkennen. Atemlos singe ich weiter, stapfe mit weiten Monsterschritten an der gackernd herumhüpfenden Lena vorbei und lasse die Jalousie runter.

 

Vor dem Schlafengehen kontrolliere ich alle Fenster.

 

 

 

 

Als ich am nächsten Morgen unterm Verandadach hervortrete, steigt mir ein fauliger Gestank in die Nase, und meine Augen finden den unregelmäßigen, grauroten Fleck, von dem er ausgeht. Noch während ich hinschaue, lässt ein herabfallender Tropfen die zähe Pfütze erzittern. Ich blicke nach oben: ein gekrümmter, orangefarbener Leib, an dem ein weiterer Tropfen der zähen Substanz herabkriecht, ragt dort hervor.

 

Es riecht nach Verwesung.

 

Ich renne unter der Dachkante hervor und schirme dabei meinen Kopf mit den Händen ab, damit ich nicht von diesem Zeug getroffen werde. In sicherem Abstand drehe ich mich um. Auf den Flugrattenspießen stecken mindestens ein Dutzend verkrümmte Insektenleiber, säuberlich aufgereiht, jeder von mehreren Dornen durchbohrt. Die Dachkante ist graurot beschmiert.

 

Ich befehle Lena barsch, im Haus zu bleiben, ziehe mir einen Einmaloverall und eine Atemmaske über und fange an, die toten Panzer mit einer Hakenstange von der Dachkante zu klauben. Aus der Nähe sehen sie kleiner aus. Sie haben sich die Leiber regelrecht aufgeschlitzt. Vorsichtig biege ich einen der ledrigen Panzer mit der Hakenstange auf. Innen kann man die Segmentstruktur der Haut durchscheinen sehen, als ob die Dinger nichts in sich drin hatten außer dieser verwesenden Suppe. Als ob sie von innen bereits seit Tagen tot waren.

 

Mit einer Gartenharke schiebe ich die Kadaver zu einem Haufen hinter der Garage zusammen. Dann bugsiere ich eines der Tiere ohne es anzufassen in einen Pappkarton und lade es ins Auto. Die übrigen bedecke ich mit einer festen schwarzen Plane, deren Ränder ich mit Steinen beschwere.

 

Danach hole ich die verstörte Lena und fahre mit ihr in die Stadt. Durch das beharrliche elektrische Brummen in meinen Ohren höre ich kaum etwas von Lenas Fragen. Schließlich verfällt sie in Trotzschreie. »Ah! Ahh!« Die Erzieherin mustert mich missbilligend, als ich ihr meine strampelnde Tochter in die Arme drücke und sofort wieder ins Auto springe.

 

Ich halte auf dem Parkplatz vorm Gesundheitsamt. Wollen wir mal sehen, ob ich spinne ... Beim Öffnen der Hecktür zucke ich zurück. Der Karton mit meinem Beweisstück darin ist in sich zusammengesunken. Ohne die feuchte, verwinkelte Pappskulptur aus den Augen zu lassen, ziehe ich den Werkzeugkasten ran, hole den Hammer heraus und schiebe die Pappen damit auseinander, den Arm so weit wie nur möglich gestreckt. Zwischen den Pappen kommt nichts zum Vorschein. In eine Seitenwand ist ein zerfranstes Loch gebissen, der Rest ist durchweicht.

 

Ich fasse mir ein Herz und stelle den Transporter auf den Kopf, schiebe so laut und wüst wie möglich meine Gerätschaften umher, in der Hoffnung, das auf rätselhafte Weise wieder zum Leben erwachte Ding „versehentlich“ zu zerquetschen, sollte ich es tatsächlich vorfinden. Die Suche bleibt ergebnislos. Ich setze mich auf die Ladefläche, vergrabe das Gesicht in den Händen und stöhne.

 

Wahnsinn. Ich muss jemanden anrufen. Ich brauche eine unabhängige Meinung zu meinem Geisteszustand. Nur gibt es seit Iris’ Tod niemanden mehr. Ich habe mich und Lena im Haus am See eingemottet und planvoll alle Menschen vergessen, für die wir einmal existiert haben. Wenn ich zu Sybille oder Thom oder irgendwelchem anderen Elternpack gehe und ihnen Geschichten von Monsterinsekten erzähle, schalten die wahrscheinlich das Jugendamt ein ...

 

Nein. Ich werde mich an jemand anderen wenden.

 

 

 

 

Die Eingangstür des Neuköllner Mietshauses steht offen. Ich gehe zum Innenhof durch und schaue zum Küchenfenster der Alten hoch. Es steht offen, genau wie gestern. Unterhalb der Fensterbank, unter den Dornenreihen, die ich angebracht habe, ist die Fassade mit dicken grauroten Schlieren beschmutzt. Die Ahnung eines widerwärtigen Geruchs hängt in der Luft.

 

Ich renne in den dritten Stock hoch, klingele, erst mühsam beherrscht, dann stürmisch, und hämmere schließlich an die Tür. Keine Antwort. Ich lausche. Die Tür am Absatz gegenüber öffnet sich einen Spaltbreit, und über eine Schlosskette hinweg späht eine rund- und rotgesichtige Frau misstrauisch zu mir heraus.

 

Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Wissen Sie, ob Ihre Nachbarin da ist?«

 

Die Frau schüttelt den Kopf.

 

»Ihr Küchenfenster ist offen. Und sie geht nicht an die Tür. Vielleicht ist ihr etwas passiert«, erkläre ich gespielt vernünftig.

 

»Hm«, antwortet die Frau.

 

»Vielleicht sollten wir jemanden anrufen.«

 

Sie starrt mich weiter misstrauisch an. »Sind Sie ihr Sohn?«

 

»Nein«, gebe ich zu.

 

Damit scheint das Thema für sie erledigt. Sie schiebt die Tür zu, wobei sie mich durch den enger werdenden Spalt weiter anstarrt.

 

Einen Augenblick lang denke ich ernsthaft darüber nach, die Tür einzurennen. Aber dann wird die Frau gegenüber die Polizei rufen, wenn sie es nicht schon gemacht hat. Ich spüre zwischen den Schulterblättern, dass sie mich durch den Spion beobachtet. Also ziehe ich eine Visitenkarte raus und kritzele eine kurze Nachricht darauf: Wäre sehr dankbar, wenn Sie mich anrufen. Nach kurzem Nachdenken füge ich hinzu. An Ihren Fenstern sind Nacharbeiten nötig. Ich schiebe die Karte unterm Türschlitz durch. Dann beschließe ich, dass mein Arbeitstag für heute gelaufen ist.

 

 

 

 

Als ich Lena aus der Kita hole, ist ihr Gesicht wutverzerrt und verheult. Die Erzieherin schaut mich böse an. Ich stelle diesmal keine Fragen, sondern nehme Lena und verschwinde.

 

Während der Fahrt starrt sie eine ganz Weile schweigend vor sich hin, der Farbton ihres Gesichts wechselt von Rot zu bleich.

 

»Ich will Orgel hörn.«

 

Mit einem Mal bin ich starr vor Zorn. Weil Lena diese Frage immer nur dann stellt, wenn sie uns beide quälen will. Iris konnte die Heimorgel spielen. Ich kann gerade mal »Alle meine Entchen« darauf. Am liebsten würde ich Lena eine scheuern. Stattdessen umklammere ich schweigend das Lenkrad.

 

»Orgel!«, schreit Lena und haut mit der flachen Hand auf die Armatur.

 

»Orgeltanzen!«, kreischt sie und tritt mit den Füßen dagegen.

 

»Schluss jetzt. Ich muss fahren«, knurre ich mit echter Kälte in der Stimme.

 

Ein paar Sekunden schweigt sie, und dann heult sie aus vollem Hals los, bebt, fleht und schimpft, zerbröckelt. Ich weiß, dass es jetzt an der Zeit ist, rechts ranzufahren und sie in den Arm zu nehmen, bis sie sich beruhigt hat.

 

Ich kann nicht. Ich fahre weiter, getrieben vom Gedanken an ein elektrisches Brummen, während auf dem Sitz neben mir die rotzige Hölle tobt.

 

 

 

 

Bei unserer Ankunft ist sie so müde, dass sie sich nur noch schwach wehrt, als ich sie aus dem Kindersitz nehme und ins Haus trage. Ihr unkontrolliertes Zittern lässt meinen Zorn verebben. Ich bringe sie in ihr Zimmer, bahne mir einen Pfad zwischen Legosteinen und Gummisauriern, und lege sie hin. Dann schaue ich aus ihrem Fenster – nichts außer Gebüsch zeichnet sich vor dem dunkelblauen Himmel ab. Ich lasse die Jalousie runter und lehne die Tür an. Dann setze ich mich ins Wohnzimmer und fahre den Laptop hoch, um die Regionalnachrichten für Berlin zu durchforsten, um rauszufinden, ob irgendwer außer mir ...

 

Seit vorletzter Nacht werden drei Jugendliche vermisst. Sie sind hier am See verschwunden. Ich schaue die Bilder an. Ein niedliches Dreadlockmädchen, das ein Meerschweinchen hochhält. Ein unfotogener Schlaks. Ein langhaariges Pickelgesicht.

 

Meine Eingeweide verklumpen sich, als mir mit einem Mal einfällt, woher ich den Tanz kenne, den die fliegenden Kruzifixe überm See aufgeführt haben. Nun bin ich mir sicher, dass diese Dinger gefährlich sind. Dass man die Kiffer nicht wiederfinden und dass die alte Hexe mich nicht anrufen wird.

 

Obwohl es draußen noch weit über null ist, ziehe ich meine dickste Jacke an, setzte Mütze und Schal drauf und greife mir schließlich die große Handlampe. Dann trete ich vor die Tür und mache das Verandalicht an. Der abstoßende, faulige Gestank des im Regenwasser gelösten grauen Schleims steigt mir in die Nase. Ich lasse den Lichtschein durch die Nacht huschen, über geborstenen Asphalt und durch schlaffblättriges Gebüsch. Durch den Schleier aus Nieselregen sieht alles leicht körnig aus. Ich hole tief Luft – meine Lungen fühlen sich an, als wären sie schon übervoll.

 

Ich wage mich unter der Veranda hervor, und eine dünne Schicht kalten Wassers legt sich auf mein Gesicht. Ich lasse den Lampenschein über die Dachkante gleiten, ohne etwas zu entdecken, spitze die Ohren nach einem elektrischen Brummen, höre aber nichts als das Flüstern nebelfeinen Regens.

 

Aus der Garage hole ich mir die große, mechanische Giftspritze, das, was einer Waffe am nächsten kommt.

 

Hinter der Garage liegt die zerknitterte schwarze Plane wie eine Reliefkarte mit kleinen Seen in den Senken. Einige der Steine, mit denen sie beschwert war, sind beiseite gerollt. Wenn sich noch etwas darunter befindet, dann nicht mehr viel. Ich stampfe auf einige der Ausbuchtungen, spüre aber keinen Widerstand. Dann streicht der Schein meiner Taschenlampe über einen dunklen, glänzenden Fleck am Boden. Um das Abwasserrohr, das oberirdisch bis zur Güllegrube der nahen Neubausiedlung führt, hat sich eine Pfütze gebildet. Ich trete näher und gehe in die Hocke. Das Licht fängt sich in aufgerissenen Metallkanten: ein gut armdickes Loch klafft im Rohr.

 

Das ist es, was Ungeziefer tut, denke ich. Es folgt dem Gestank der Zivilisation zu seinen Urhebern.

 

Angst drückt mir die Eingeweide zusammen, als das Bild der drei Kiffer mir vor die Augen tritt: Sie winden sich durchs Laub, während ihnen die Hälse zuschwellen, sie haben kleine Bissmale, und über ihnen schweben die Kreuzformen.

 

Ich laufe zurück ins Haus und knalle die Lampe auf die Kommode.

 

»Lena!«, brülle ich und entdecke die kleinen, brackigen Pfützen auf dem Flur, die eine Spur vom Bad zu Lenas Zimmer bilden. »Lena!« Ich stürme zu ihrem Zimmer und reiße die Tür auf. Ein übelkeiterregendes elektrisches Brummen umfängt meinen Schädel, und dann höre ich Lenas schläfrige, missmutige Stimme. »Ja!«

 

Ich schlage ein paar Mal mit der flachen Hand an die Wand, bis ich den Lichtschalter finde.

 

Eines der Wesen hockt mit räuberisch gekrümmtem Hinterleib über ihrem Kopf, ein weiteres hat die beiden dünnen Beine in ihren Unterarm gekrallt. Mindestens zwei bewegen sich unter der Decke. Ihre Mandibeln arbeiten stetig, und es ist nicht mehr viel von Lena übrig – in ihren Leibern sind noch die Wunden zu erkennen, die sie sich selbst gerissen haben, und unter denen sich jetzt neues, rosiges Fleisch sammelt. Lenas verbleibendes Auge starrt mich verwirrt an, die senkrechte Stirnfalte ist noch zu sehen. Die Wesen arbeiten so schnell und präzise, dass kaum Blut fließt.

 

»Was ist denn, Papa?«

 

Lena hat nur noch einen halben Mund zum Sprechen.

 

Ich taumele rückwärts aus dem Zimmer, ohne den Boden unter meinen Füßen zu spüren. Die Giftspritze gleitet mir aus den Fingern.

 

Die Insekten verputzen mit fleißigen Beißwerkzeugen die letzten Reste, sogar die blutbefleckten Stellen der Bettlaken trennen sie sorgfältig heraus und verleiben sie sich ein, bis alles, was von Lenas Existenz zeugt, in ihren prall gestopften Leibern steckt. Lautlos erheben sich die beiden sichtbaren Wesen in die Luft. Zwei weitere kriechen unter der Decke hervor, und dann streichen alle vier hauchzart an mir vorbei durch die Tür und hinaus in die Nacht.

 

 

 

 

Bei Morgengrauen liege ich vor der Veranda im Dreck. Meine Augen sind trocken wie Sand, ich habe sie die ganze Nacht lang nicht geschlossen. Käfer und Spinnen krabbeln auf mir herum.

 

Als die Sonne über die äußersten Finger der Bäume gestiegen ist, erscheinen die Dinger endlich wieder und beginnen ihren Tanz überm See. Diesmal wundere ich mich nicht, dass ich die Bewegungen kenne. Die unteren beiden Wesen zucken rhythmisch auf und ab, die oberen beiden beschreiben weite Bögen. Ich kann Lena tanzen sehen. Beim Grinsen spüre ich die Erde zwischen meinen Zähnen. Die vier Insekten arbeiten sich mit jedem Takt ein bisschen höher in den weißen, flachen Himmel. Das Streulicht überblendet erst nur die dünneren Segmente ihrer Körper und verschluckt sie schließlich ganz.

 

Weil mein linkes Bein über Nacht eingeschlafen ist, schaffe ich es erst beim zweiten Versuch, mich aufzurappeln. Schwerfällig und breitbeinig tanze ich, während meine Augen das Gebüsch nach Publikum absuchen.

 

Wäre doch gelacht, wenn ich hier der Einzige wäre, der nicht in den Himmel kommt.

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 202403271603196bf42ab3
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Die Charaktere dieser Geschichte, sowie alle Handlungen sind geistiges Eigentum des Autors. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Orten oder Handlungen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Der Autor verfolgt kein kommerzielles Interesse an der Veröffentlichung dieser Geschichte.

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Erstellt: 18.03.2011, zuletzt aktualisiert: 26.07.2019 10:10, 11649